Der schon wieder
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Über die Sozialfigur des Querulanten

Der schon wieder

Interview: Sebastian Paul | Redaktion
14.02.2018
Der Querulant und der Amokläufer haben eine Gemeinsamkeit: die Idiosynkrasie, die zu dem ausbruchsartigen Moment aus linearen Kausalitäten und alltäglichen, routinierten Abläufen führt.

Lena Kasten
ZU-Alumna und Trägerin des Best Bachelor Thesis Awards
 
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    Zur Person
    Lena Kasten

    Lena Kasten studierte von Januar 2013 bis August 2017 den Bachelor „Communication and Cultural Management“ an der Zeppelin Universität. Seit Oktober 2017 setzt sie ihr Studium im Master an der Technischen Universität in Berlin im Studiengang „Geschichte und Kultur der Wissenschaft und Technik“. Im Rahmen ihres Studiums am Bodensee absolvierte Kasten ein Auslandssemester an der New Design University, absolvierte Praktika im Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam oder bei der Vereinigung bildender Künstler Wiener Secession und engagierte sich in der Organisation des studentischen Festivals „seekult“. 

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Was ist überhaupt ein Querulant?


Lena Kasten: Ein Querulant ist ein sich auf öffentlichem und meist rechtlichem Wege widersetzendes Individuum und das in einer immer stärker bürokratisch-administrativen und das heißt auch generalisiert verwalteten Welt. Der Querulant möchte eine für ihn elementare Diskrepanz, eine Ungenauigkeit in Form eines Unrechts oder einer juristischen Fehlentscheidung korrigieren - daher gehört es zur querulatorischen Praxis, auf die Diskrepanz von Soll- und Ist-Zuständen ohne Unterlass aufmerksam zu machen. Der Querulant fordert und erwartet die Einhaltung der Regel und möchte gerade nicht die Ausnahme sein.
Das Recht, so Luhmann, ermöglicht die zeitliche Stabilisierung von Erwartungen und gibt Sicherheit, mit deren Hilfe "man mit größerer Gelassenheit den Enttäuschungen des täglichen Lebens entgegensehen" oder sich "zumindest darauf verlassen kann, in seinen Erwartungen nicht diskreditiert zu werden". Fatalerweise wird der Querulant eben in diesen Erwartungen der Nicht- Enttäuschung von Erwartungen enttäuscht, und das bringt den Stein ins Rollen.

Ist er der moderne Querulant im noch jungen Jahr 2018? Die preußische Bildungsreform zog Bürger dazu heran, die Mittel des Staates zu nutzen, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen. So schlägt auch Kevin Kühnert zu. Er ist der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation „Jusos“ und wettert gegen den Fortbestand der Großen Koalition. Sein Instrument: Der Mitgliederentscheid, bei dem die Parteibasis über den Koalitionsvertrag abstimmen darf. Als Zwergenaufstand wird sein Vorgehen von Mitgliedern der Parteispitze abgestempelt, doch beschäftigen muss sich die SPD mit seiner „NoGroKo“-Bewegung trotzdem. Typisch Querulant, eben.
Ist er der moderne Querulant im noch jungen Jahr 2018? Die preußische Bildungsreform zog Bürger dazu heran, die Mittel des Staates zu nutzen, um ihrem Unmut Luft zu verschaffen. So schlägt auch Kevin Kühnert zu. Er ist der Vorsitzende der SPD-Jugendorganisation „Jusos“ und wettert gegen den Fortbestand der Großen Koalition. Sein Instrument: Der Mitgliederentscheid, bei dem die Parteibasis über den Koalitionsvertrag abstimmen darf. Als Zwergenaufstand wird sein Vorgehen von Mitgliedern der Parteispitze abgestempelt, doch beschäftigen muss sich die SPD mit seiner „NoGroKo“-Bewegung trotzdem. Typisch Querulant, eben.

Du schreibst in Deiner Abschlussarbeit, dass der Querulant ein (Neben-)Produkt der preußischen Sozialsteuerung ist: Was ist damit gemeint?


Kasten: Die Abschlussarbeit versucht, die Entwicklung der Staatsreformen Preußens im ausgehenden 18. Jahrhundert nachzuzeichnen und zu zeigen, dass es gerade die reformatorischen Bemühungen sind, die zur juristischen und pädagogischen Staatsordnung führen und die den Querulanten bedingen. Nach der These von Friedrich Kittler erzieht der Preußische Staat seine Einwohner zu Beamten in dem Moment, ab dem der Bildungsauftrag verstaatlicht wird. Der Staatsapparat wächst und mit ihm der Bedarf nach dort tätigen Beamten. Die preußischen Bildungsreformen, die ihre Staatsbürger durch Verbeamtung eingliederten, schaffen erst die Art von mündigen Subjekten, die in der Lage sind, ihre Klagen gegen den Staat, eine Behörde oder den Landesherren zu verwalten.
Der Querulant lernt in Folge dessen die Medien zu nutzen, die seitens der Regierung für institutionalisierten Widerspruch zur Verfügung gestellt werden - etwa die Supplik. Bei dieser Bittschrift handelt es sich - in enger administrativer Beziehung zur Akte - um ein bürokratische Medium, welches es ihren Schreibern ermöglicht, Klagen und Bitten direkt an den Souverän zu richten. Auf jede Supplik musste in Form eines Reskripts oder einer Dispensation geantwortet werden und ihr kommunikativer Verlauf gespeichert beziehungsweise archiviert werden. Daraus generiert sich das überlastende Störpotential für die Verwaltungsstruktur, weshalb der Querulanz auch immer eine Verschwendung von zeitlichen wie personellen Ressourcen zugeschrieben wird.

Wie ging der preußische Staat mit diesem weit verbreiteten Gesellschaftsphänomen um?


Kasten: Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wurden Edikte, Gesetze und Publicandi erlassen, um dem massenhaften Anstieg von Suppliken durch Aufklärung (und Abschreckung) entgegenzuwirken. Im Versuch, die Querulanz und mit ihr die Supplikenflut einzudämmen, juristisch fassbar und somit sanktionierbar zu machen, wird 1793 schließlich das "Publicandum wegen Bestrafung muthwilliger Querulanten" veröffentlicht, dessen 19 Paragraphen übrigens auch wenig später in die "Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten" übernommen wird, also dem Gesetzestext, der die Regeln der gerichtlichen Prozessordnung für Kläger wie Justiz einheitlich formuliert. Nicht nur die Querulanz selbst wird zur Straftat (die sogar mit Zuchthausstrafen einhergeht), sondern auch die Beihilfe oder Ermutigung zur Querulanz. Neben den rechtlichen Konsequenzen wurden weitere Verknappungsmaßnahmen durch Formalisierungsprozesse der Beschwerdeschreiben wie die Stempelgebühr oder strenge gestalterische Regeln (Papierart, Tintenfarbe etc.) eingeführt.


Worin liegt das Gefahrenpotential von Querulanten und für wen stellen sie eine Bedrohung dar?


Kasten: Folgt man den Ausführungen Joseph Vogls über die Auslöser für die Geburtsstunde der Psychiatrie, stößt man auf die "unvernünftigen Taten scheinbar vernünftiger Subjekte". Bisher nicht durch abweichendes Verhalten augenscheinlich gewordene Menschen begehen ausbruchsartig Straftaten ohne erkennbares Motiv. So bilden Paranoia, Monomanie und Querulanz das diagnostische Dreieck gefährlicher Ereignisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Querulanz lässt sich in diese diagnostische Nachbarschaft bringen, weil auch beim Querulanten Auslöser und Reaktion scheinbar in keiner verhältnismäßigen Beziehung zueinanderstehen - der Grund für die folgende Pathologisierung des Querulanten liegt in seiner exzessiven Kommunikation in Wort und Schrift im Modus der Wiederholung bei völlig klarem Verstand. Die Quelle für querulatorische Papierfluten scheint jedoch nur für Beobachter marginal, während sie für den Querulanten existenziell ist.

Auch im unvollendeten Roman „Das Schloß“ von Franz Kafka tobt ein Querulant: Protagonist K., der sich in einem kleinen Dorf als Landvermesser ausgibt. Was K. in dem Dorf vorfindet, der zur Herrschaft eines Schlosses gehört, ist ein Bürokratieapparat, der das Leben der Dorfbewohner massiv einschränkt. Doch „Das Schloß“, aus dem die bürokratischen Beamten herrschen, ist unnahbar. K. strebt danach, „Das Schloß“ zu erreichen – und scheitert. K. fühlt sich ohnmächtig angesichts der Undurchschaubarkeit des Systems und nähert sich den Dorfbewohnern zunehmend an. Nach mehreren Gesprächen mit verschiedenen Frauen aus dem Dorf bricht der Roman ab.
Auch im unvollendeten Roman „Das Schloß“ von Franz Kafka tobt ein Querulant: Protagonist K., der sich in einem kleinen Dorf als Landvermesser ausgibt. Was K. in dem Dorf vorfindet, der zur Herrschaft eines Schlosses gehört, ist ein Bürokratieapparat, der das Leben der Dorfbewohner massiv einschränkt. Doch „Das Schloß“, aus dem die bürokratischen Beamten herrschen, ist unnahbar. K. strebt danach, „Das Schloß“ zu erreichen – und scheitert. K. fühlt sich ohnmächtig angesichts der Undurchschaubarkeit des Systems und nähert sich den Dorfbewohnern zunehmend an. Nach mehreren Gesprächen mit verschiedenen Frauen aus dem Dorf bricht der Roman ab.

Das heißt: Einmal Querulant, immer Querulant?


Kasten: Die bereits erwähnte enttäuschte Erwartung ergibt sich aus der Diskrepanz zwischen der "richtigen" und "faktischen" Entscheidung eines Gerichtsurteils. Diese Unterscheidung wird mit der positiven Ausdifferenzierung des Rechts zum Dilemma, denn so Luhmann: "Ein System, das die Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme garantieren muß, kann nicht zugleich die Richtigkeit der Entscheidungen garantieren." Nun liegt die Qualität normativer Erwartung in ihrer Beständigkeit gegenüber der ereignishaften Enttäuschung der Erwartung, was vereinfacht gesagt heißt, dass der Querulant sich trotz gegensätzlicher Urteilssprechung im Recht fühlt, weswegen er immer wieder vor Gericht zieht, in Revision geht und so den Prozess verschleppt. Das kann sich bis zu dem Punkt ziehen, an dem die Verletzung normativer Erwartung, so Luhmann, für den Enttäuschten "ein Recht zu aggressiven Gegenmaßnahmen" herleitet.


Hier liegt die Parallele zu Heinrich von Kleists Kohlhaas (der vermutlich erste und bekannteste Querulant der deutschen Literaturgeschichte), der erst nach (!) seiner Bezeichnung als Querulant zum mordenden Brandstifter wird. Kohlhaas bringt den Querulanten in nahe Beziehung zu dem von Joseph Vogl beschriebenen modernen Amokläufer. Gemeinsam ist beiden Verhaltensformen die Idiosynkrasie, die zu dem ausbruchsartigen Moment aus linearen Kausalitäten und alltäglichen, routinierten Abläufen führt.

Was macht dagegen Kafkas K. aus "Das Schloß" zu einem Querulanten?


Kasten: K. wird zum Querulanten, da er - gemäß seiner behaupteten Profession als Landvermesser - versucht, die Grenzen der behördlichen Stellenordnung so scharf wie möglich zu ziehen, um sich in ihr behaupten zu können. Folgt man den Ausführungen Joseph Vogls in den "Schloss"-Topographien, besteht die Tragik der Erzählung darin, dass auf der einen Seite beständig "widersprüchliche Angebote zur Verortung" im gräflichen Raum der Erzählwelt - und damit gleichzeitig innerhalb der Stellenordnung der gräflichen Behörde in Form von "Stellenangebote[n]" - auftauchen, jedoch sämtliche Versuche K.s, seine behauptete Positionen zu besetzen, scheitern. Er oszilliert so zwischen den Polen der Mitgliedschaft und der Nicht-Mitgliedschaft, zwischen Aufgenommen- und Abgelehnt-Sein. Der daraus resultierende, ambivalente (Nicht-)Status begründet K.s Querulanz.


Neben der gewaltvollen Selbstvollstreckung ähnlich zum Amoklauf, kann die Querulanz - so zumindest im Falle K.s - jedoch auch in "friedlicher" Resignation münden, nämlich ab dem Moment, in dem K. den psychischen Ausweg der Identifikation mit der Enttäuschung wählt und seine Erwartungen umstrukturiert und in Folge dessen nur noch mit dem Scheitern all seiner korrektiven Bestrebungen rechnet.

Titelbild:

| Gabriel Matula / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text:

| Kevin Kühnert / Facebook.com | Link

| Christie's (Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

Leserbrief
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David Broska | 16.02.2018

Der Querulant mag zwar einen unliebsamen Aufwand bedeuten, aber aus Sicht derjenigen, die wie er die Garantie der „Entscheidbarkeit aller aufgeworfenen Probleme“ ernst nehmen, muss er doch willkommener sein als soziale Netzwerke, die an der gleichen Stelle entstehen, wo der Querulant es mit dem Rechtsweg versucht.


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