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Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Dr. Kurt Fina, dem Lateinlehrer, lag Europa am Herzen – im Herbst 1958, am Beginn unserer Gymnasialzeit, acht Jahre, nachdem der französische Außenminister Robert Schuman mit großzügiger Geste dem deutschen Kanzler Konrad Adenauer eine aktive Zusammenarbeit zwischen ihren seit Jahrhunderten unversöhnlichen Nationen angeboten hatte. Lateinische Grammatik, sagte Dr. Fina, sollten wir lernen, um uns anhand des römisch-antiken Reiches ein Europa der Zukunft als geeinten Erdteil vorstellen zu können. So einleuchtend diese Worte schon für uns Zehnjährige klangen, wirklich faszinierend an der lateinischen Kultur fanden wir eher das, was ganz verschieden von der eigenen Welt wirkte: die bunten Götter und ihre bizarren Geschichten, Gladiatorenkämpfe mit tödlichem Ende oder Cäsar, der seine Legionen durch Wälder und Sümpfe mitten in unserem Europa geführt hatte. Dr. Fina, erfuhr ich später, war 1924 als „Sudetendeutscher“ geboren und gehörte so zu einer Minderheit in der damaligen Tschechoslowakei, die nach Kriegsende nicht bleiben durfte. Leute wie er hatten allen Grund, sich nach einer neuen europäischen Heimat zu sehnen.
Für mich hingegen blieb diese Idee immer nur auf freundlicher Distanz. Als ich übers letzte Gymnasialjahr auf ein Lycée in Paris gehen durfte, wünschte ich mir nichts mehr als ein Frankreich, das anders als Zuhause schmeckte. Weil aber solche Alternativen in Europa immer weniger zu haben waren, bin ich 1989 nach Kalifornien gezogen. Am Pazifik vermisst niemand Europas diskret dunkelblaue Flagge und die an sie gehefteten Bilder von angenehmer Zukunft. Aus Silicon Valley, unserer Intensitätswirklichkeit des frühen 21. Jahrhunderts, blicken wir nach Osten zurück – aus freundlicher Distanz eben und oft mit Erstaunen.
Immer weniger Universitäten von Weltrang sehen wir – von ein paar Schweizer Ausnahmen abgesehen – auf dem alten Kontinent, der sich weiter für das intellektuelle Zentrum des Planeten hält, immer weniger Entdeckungen, welche die Welt verändern, kaum Autoren, Künstler und Musiker, die uns provozieren so wie Dante, Hodler oder Beethoven ihre Zeitgenossen aufgeweckt haben, immer weniger Bereitschaft, vor allem in Institutionen und Prozesse der Bildung zu investieren. Mit jedem großen Europäer, der stirbt, scheint eine Epoche zu Ende zu gehen, es folgen bloß Kuratoren, die vergangenen Ruhm in Museen und Gedenktagen zu Tode verwalten. Keiner fragt in der schwelgenden Feier dieses Bauhaus-Gedenkjahres, wo denn das Bauhaus von heute steht. Stattdessen wärmt man sich am Feuerchen der Schadenfreude, wenn Tesla als möglicher Konkurrent der europäischen Autoindustrie in die finanzielle Bredouille gerät oder der amerikanische Präsident vom orangenen Haar wieder einmal sein Land und dessen Bürger blamiert.
Inzwischen setzen die Medien und viele Vordenker Europas ohnehin auf China. Jeder statistische Indikator, der dokumentiert, wie die Volksrepublik in Wirtschaftsvolumen, militärischer Schlagkraft oder elektronischem Entwicklungspotential den Vereinigten Staaten näherkommt, wird mit Euphorie ohne Ambivalenz begrüßt. Länder mit nationalen Geschichten wie Italien, Spanien oder Deutschland halten sich für Horte der Demokratie und mithin für berechtigt, das Fehlen öffentlichen Raums und demokratischer Institutionen in China zu übersehen. Wen würde denn die Europäische Union, fragen wir ehemalige Europäer, heute unterstützen, wenn es zu einem militärischen Konflikt in der Weltpolitik käme (einmal vorausgesetzt, ihre Nationen könnten sich überhaupt zu einer Intervention entschließen)?
Falls wir nicht nach Hawaii in die Strandferien fliegen, buchen wir gerne den europäischen Kultururlaub, um wieder einmal überwältigt zu werden von der einzigartigen Vielfalt der Sprachen und Stile im vergleichsweise begrenzten Raum. Anders als zwischen unseren Küsten gibt es in Italien eben nicht überall Pizza; Bier schmeckt in Pilsen anders als in Dortmund oder München; und der Tag fängt in Spanien viel später an als in Portugal. Doch wissen die europäischen Institutionen den Schatz solcher Differenzierung zu erhalten oder gar für die Zukunft zu nutzen? Hat die berüchtigte Bologna-Reform nicht alle Ausbildungssysteme beschädigt, die sich auf sie eingelassen haben – und deshalb langfristig auch die Kulturen, zu denen sie gehören? Ansteckenden Überdruss an den Klassikern hat Bologna verbreitet statt neuer Leidenschaft.
Ihre wahre Stärke allerdings, die Matrix der politischen Einheit, liegt in einem breiten Konsens unter den Bürgern der Europäischen Union, der von innen oft übersehen wird. Weitgehend unabhängig von den eher schlapp zentrifugalen Diskursen der alten und neuen Parteien ist die wirkliche Einigkeit eine Option für den Sozialstaat. Gigantische Mechanismen der Umverteilung sorgen weitgehend erfolgreich dafür, dass sich nur wenige um ein menschenwürdiges Leben sorgen müssen, während Reichtum kaum über die Grenzen der Vorstellung schießt. Sozialdemokratie – ich sage gerne „Sozialdemokratismus“, weil der Status kaum mehr von Parteien dieses Namens abhängt – ist heute der Fall in Europa. Und über die vergangenen Jahrzehnte hat sich Sozialdemokratismus mit einer Priorität ökologischer Werte und mit den Maßnahmen ihrer Durchsetzung fusioniert. Trennmüll, Nachhaltigkeit, Gesundheitsprävention.
Keine Form von Staatlichkeit und Gesellschaft vielleicht hat je so breite durchschnittliche Zufriedenheit beschert wie der Öko-Sozialstaat, und längst ist er zu der als „Ethik“ (ein Lieblingswort heute) zementierten Norm des Lebens in Europa geworden. Gelitten hat dabei die Bereitschaft, andere Rhythmen und Prioritäten des Lebens wenigstens (als „Stress“ oder „Risikobereitschaft“) hinzunehmen, wenn man sie schon nicht akzeptieren kann. Wehe jener schmalen Mehrheit von Wählern im Vereinigten Königreich, die für den Brexit stimmte! Man hat festgestellt, dass sie weder jung ist noch in großen Städten lebt – und zur Strafe ihre politische Urteilsfähigkeit in Frage gestellt.
Als umso erstaunlicher und tatsächlich rätselhafter beeindruckt uns freundlich geneigten Ausländer deshalb der massive Eindruck, dass die EU-Europäer – ganz im Gegensatz zu den Skandinaviern an ihrer Peripherie, die Jahr für Jahr den UN-Wettbewerb um die „glücklichste Gesellschaften“ gewinnen – derart dysphorisch und paradoxerweise unzufrieden mit dem Leben sind, an dem als Idee und Form sie doch so hängen. Positiv schätzen sie in der EU allein „Schengen“ ein, die Aufhebung aller Grenzkontrollen – und die permanente Erweiterung ihres Arbeitsmarktes. Aber wer schimpfte in den Mitgliedsländern eigentlich nicht über den teuren „Wasserkopf“ der EU-Bürokratien und über das „Gestrüpp“ von Gesetzen und Verordnungen, das sie erlassen. Wirtschaftspolitisch hängen die Wähler in den zentralen und vergleichsweise starken Nationen der EU (in Deutschland und Frankreich vor allem) dem Eindruck an, Länder wie Griechenland (vor allem), Portugal und sogar Italien „durchfinanzieren“ zu müssen, während mir andererseits auf Plakaten zur Europawahl in Portugal auffiel, dass dort alle Parteien die nationale Ökonomie gegen die Großen zu schützen versprachen.
Woher kommt so viel Unzufriedenheit, Dysphorie und Ressentiment in einem riesigen Gemeinwesen, das die Vorteile des Wohlfahrtsstaates wahrscheinlich flächendeckender und qualitativ erfolgreicher verwirklicht hat als irgendeine Vorgängerinstitution in der Menschheitsgeschichte? Nimmt sich das Europa der Union, ohne es zu wissen, vielleicht seine wohlige Müdigkeit übel, auf die es als Anrecht sonst besteht? Könnte das individuelle und kollektive Streben nach „stressfreiem“ Leben zu einem Absinken der existentiellen Intensitätsamplituden unter ein Niveau geführt haben, das man zu glücklichem Leben braucht? Immerhin haben der Versorgungsstaats-kritische Diskurs von Emmanuel Macron und sein Verweis auf die „Müdigkeit Frankreichs“ dort die Protestbewegung der „Gilets jaunes“ heraufbeschworen, deren Energie, Innovationskraft und Entschlossenheit man bewundern musste, wenn man ihre Ziele nicht billigte.
Es scheint, wie man sieht, kaum vermeidbar, sich auf dem Niveau von Stammtischspekulationen zu verlieren, wenn man nach den Gründen der EU-Dysphorie fragt. Als Ausweg kommt mir eine dialektische Reaktion von Peter Sloterdijk in den Sinn, die an meine Kindheitserinnerung von der schon damals eher müden Reaktion auf Europa anschließt. Die Stärke der EU, sagt Sloterdijk, liege gerade in ihrer Mittelmäßigkeit, hinter der sie mit unsichtbarer Effizienz den politischen und wirtschaftlichen Alltag ihrer Gesellschaften abwickelt, ohne jene leidenschaftlichen Gefühle und Visionen zu wecken, die in der Vergangenheit Millionen von Individuen in die Verzweiflung getrieben und Weltkriege ausgelöst haben. Diese Pointe hat beträchtlichen Erklärungswert – aber hilft noch lange nicht aus der Dysphorie.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm