Weg mit dem Fetisch!
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Relative Mehrheitswahl

Weg mit dem Fetisch!

von Prof. Dr. Joachim Behnke | Zeppelin Universität
04.12.2019
Die relative Mehrheitswahl verfehlt ihren eigentlichen Zweck – nämlich die Wahl des besten Repräsentanten des Wahlkreises – inzwischen regelmäßig und ist überdies in hohem Maß dysfunktional, wenn sie dabei auch noch zu einer Aufblähung des Parlaments führt wie in Deutschland.

Prof. Dr. Joachim Behnke
Lehrstuhl für Politikwissenschaft
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Joachim Behnke

    Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaft. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.  

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Grund für die Vergrößerung sind Überrepräsentationen bestimmter Parteien auf der ersten Stufe der Sitzverteilung, die dann dadurch ausgeglichen werden müssen, dass der Bundestag solange vergrößert werden muss, bis die Sitzzahl jeder Partei derjenigen entspricht, auf die sie aufgrund ihres Zweitstimmenanteils Anspruch hätte. Die wichtigste Ursache solcher Überrepräsentationen sind Überhangmandate. Diese entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate in einem Bundesland erhält, als ihr dort Mandate insgesamt nach ihrem Zweitstimmenanteil zustehen würden. Die Direktmandate sind die Mandate, die Wahlkreiskandidaten erhalten, die in ihren Wahlkreisen eine relative Mehrheit der Erststimmen erhalten haben.


Wenn etwa eine Partei alle Direktmandate in einem Bundesland gewinnt, dann ist dies im Durchschnitt die Hälfte aller Mandate, die auf dieses Bundesland entfallen. Erzielt die Partei diese Direktmandate mit „nur“ 40 Prozent der Zweitstimmen, dann erhält sie dennoch die Hälfte der Sitze, weil die Direktmandate nach dem geltenden Wahlgesetz immer zugeteilt werden müssen, und die Partei ist in diesem Bundesland um ein Viertel überrepräsentiert. Träfe dies in jedem Bundesland zu, dann bedeutete dies auch die Überrepräsentation dieser Partei auf der Bundesebene und der Bundestag müsste insgesamt um ein Viertel vergrößert werden.


Insofern eignet sich die CSU besonders gut zur Illustration dieses Effekts, weil diese nur in einem Bundesland antritt und daher die Überrepräsentation der CSU in Bayern auch immer ihre bundesweite Überrepräsentation darstellt. 2013 orientierte sich der Ausgleich tatsächlich an der CSU, 2017 an der CDU. Würde die CSU nun mit circa 35 bis 36 Prozent der Zweitstimmen alle Direktmandate gewinnen, dann müsste der Bundestag nach dem geltenden Wahlgesetz sogar auf ungefähr 800 Sitze anwachsen, bei 31 bis 32 Prozent der Zweitstimmen (und immer noch allen gewonnenen Direktmandaten) auf etwa 900. Jedes Überhangmandat der CSU müsste dann mit nahezu 20 Ausgleichsmandaten kompensiert werden.

Ein Kreuzchen – und so viele Folgen: Das Ergebnis einer Wahl kann je nach Wahlsystem und trotz gleicher Stimmenverteilung ganz unterschiedlich aussehen. Grund dafür ist das Wahlsystem, das etwa darüber entscheidet, wie gewählt wird, wie Stimmen gewichtet und Wahlkreise geschnitten werden. Bei der relativen Mehrheitswahl wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise unterteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Jeder Wahlkreis wählt einen Abgeordneten. Man spricht daher von Einpersonenwahlkreisen. Der Wähler hat eine Stimme pro Kandidat oder Kandidatin. Wer von ihnen mehr Stimmen als jeder andere der Mitbewerber, das heißt die relative Mehrheit, auf sich vereinigt, zieht ins Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten gehen verloren. Die Zusammensetzung des Parlaments ist leicht durchschaubar, da sich in der Regel klare Mehrheiten bilden. Die relative Mehrheitswahl hat einen mehrheitsbildenden Effekt.
Ein Kreuzchen – und so viele Folgen: Das Ergebnis einer Wahl kann je nach Wahlsystem und trotz gleicher Stimmenverteilung ganz unterschiedlich aussehen. Grund dafür ist das Wahlsystem, das etwa darüber entscheidet, wie gewählt wird, wie Stimmen gewichtet und Wahlkreise geschnitten werden. Bei der relativen Mehrheitswahl wird das Wahlgebiet in so viele Wahlkreise unterteilt, wie Abgeordnete zu wählen sind. Jeder Wahlkreis wählt einen Abgeordneten. Man spricht daher von Einpersonenwahlkreisen. Der Wähler hat eine Stimme pro Kandidat oder Kandidatin. Wer von ihnen mehr Stimmen als jeder andere der Mitbewerber, das heißt die relative Mehrheit, auf sich vereinigt, zieht ins Parlament ein. Die Stimmen für die unterlegenen Kandidaten gehen verloren. Die Zusammensetzung des Parlaments ist leicht durchschaubar, da sich in der Regel klare Mehrheiten bilden. Die relative Mehrheitswahl hat einen mehrheitsbildenden Effekt.

Mittlerweile lässt sich beobachten, dass die Parteien ihre Direktmandate mit immer weniger Stimmen gewinnen, was letztlich zur weiteren Aufblähung des Bundestags führen wird. Tatsächlich werden inzwischen aufgrund des neuen Parteiensystems Direktmandate gelegentlich mit weniger als 25 Prozent der Erststimmen gewonnen. Dies führt aber noch zu einem anderen Problem. Die Grundidee der Mehrheitswahl besteht darin, den „besten“ Repräsentanten der Bevölkerung des Wahlkreises zu finden. Üblicherweise ist damit jemand gemeint, der die „Mitte“ der Bevölkerung repräsentiert. Zur Verfolgung dieses Zwecks ist aber die relative Mehrheitswahl tatsächlich das denkbar schlechteste Mittel, wie der Mathematiker Marquis de Condorcet schon im 18. Jahrhundert nachgewiesen hat.


Bei der Landtagswahl 2016 in Baden-Württemberg zum Beispiel gewann die AfD zwei Direktmandate in Pforzheim und Mannheim, weil sie dort einen hauchdünnen Vorsprung vor den stärksten Konkurrenten im Wahlkreis – Grüne und CDU in Pforzheim sowie SPD und Grüne in Mannheim– errang. Aber natürlich hatten Grüne, CDU, SPD und FDP dort zusammen das Dreifache an Stimmen der AfD. Man muss davon ausgehen, dass die AfD-Wahlkreisgewinner gegen jeden anderen Kandidaten von SPD, Grüne, CDU und FDP verloren hätten, wenn sie gegen diesen im Duell angetreten wären, weil zum Beispiel die SPD-Anhänger in der Regel ihre Stimme immer noch lieber einem Kandidaten der Grünen, der CDU oder der FDP geben würden als einem der AfD, wenn ihr eigener Kandidat nicht zur Verfügung stehen würde. Dasselbe gilt spiegelbildlich für die Anhänger der anderen Parteien.

In diesem Sinne handelt es sich bei den AfD-Wahlkreisgewinnern in Baden-Württemberg mit höchster Wahrscheinlichkeit um sogenannte Condorcet-Verlierer, das heißt um Kandidaten, die jeden paarweisen Vergleich mit einem anderen Kandidaten verloren hätten. Das Problem bei der relativen Mehrheitswahl besteht darin, dass sich die anderen Parteien, die sich untereinander im Vergleich zur AfD relativ nahestehen, gegenseitig die Stimmen wegnehmen, wenn sie alle gleichzeitig antreten. Unter diesen Umständen ist aber der Gewinner der relativen Mehrheitswahl nichts weniger als der beste Repräsentant der Bevölkerung des Wahlkreises, die er ja als Ganzes repräsentieren soll. Die relative Mehrheitswahl verfehlt ihren eigentlichen Zweck inzwischen regelmäßig und ist überdies in hohem Maß dysfunktional, wenn sie dabei auch noch zu einer Aufblähung des Parlaments führt wie in Deutschland.


Noch schlimmer trifft es Systeme wie die USA oder Großbritannien, bei denen sich das Parlament ausschließlich aus Gewinnern der relativen Mehrheitswahl zusammensetzt oder der Präsident nach diesen Maßgaben gewählt wird. So hat Donald Trump bekanntlich insgesamt deutlich weniger Stimmen als Hillary Clinton erhalten, konnte aber dennoch mehr Wahlmänner hinter sich versammeln, die ebenfalls nach dem Prinzip der relativen Mehrheitswahl aus den Staaten entsandt werden. Es ist gut vorstellbar, dass Trump auch die nächste Wahl gewinnen könnte, mit einem deutlichen Verlust an Stimmen und damit einem noch größeren Rückstand gegen seinen Mitbewerber als bei der letzten Wahl. Auch Boris Johnson spekuliert bei den Neuwahlen mit den sehr problematischen Eigenschaften der relativen Mehrheitswahl. Gewinnen die Liberal Democrats deutlich hinzu – vor allem auf Kosten von Labour, so dass sich beide Parteien gegenseitig behindern –, dann kann Johnson womöglich eine klare Mehrheit an Sitzen erhalten, auch wenn er gegenüber dem Ergebnis von May bei der vergangenen Wahl sogar dramatisch an Stimmen verliert.


Sehr treffend hat der Staatsrechtler Peter Badura Ende der 1960er-Jahre, als die Einführung der Mehrheitswahl in Deutschland diskutiert wurde, diese als „staatstreichartige politische Entscheidung im Mantel des Wahlrechts“ bezeichnet. Es ist daher völlig absurd, aktuell über die Einführung des Mehrheitswahlrechts oder eine Stärkung desselben in einem Grabenwahlsystem – bei dem die Hälfte der Sitze ohne Verhältnisausgleich an die Gewinner in den Wahlkreisen verteilt würde – nachzudenken, wie es zum Beispiel der CDU-Abgeordnete Günter Krings tut. Ganz im Gegenteil muss über den Abbau der Mehrheitswahlelemente im gültigen Wahlsystem nachgedacht werden, weil dieses offensichtlich zu immer weniger nachvollziehbaren und mit keinerlei vernünftigen Gründen zu rechtfertigenden Ergebnissen führt.

Titelbild: 

| Ricardo Gomez Angel / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

| Christian Lue / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Joachim Behnke

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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