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Frau Professorin Bechthold, was macht eigentlich eine Zukunftsforscherin?
Laura Bechthold: Als Zukunftsforscherin versuche ich mittels verschiedener, interdisziplinärer Methoden zu verstehen, was aktuell in der Welt passiert und welche Konsequenzen aufkeimende Technologien für unsere Gesellschaft haben könnten. Darüber hinaus geht es in der Zukunftsforschung darum, herauszufinden, welche Annahmen und Weltbilder im Heute dominieren und wie diese Zukunftsvorstellungen prägen. Zukunftsforschung ist also auch immer ein Stück weit Gegenwartsforschung. Zukunftsforschung passiert auch meist nicht „im stillen Kämmerlein“, sondern es geht auch darum, mit verschiedenen Gruppen Zukunftsszenarien zu entwickeln. Diese werden dann beispielsweise für die strategische Planung in Unternehmen oder im öffentlichen Sektor eingesetzt. Ziel ist es hierbei schon heute die wichtigen Hebel zu identifizieren, um langfristig zukunftsfähig zu bleiben. Mich persönlich interessieren vor allem aufkeimende Technologien und die Frage, welche gesellschaftlichen und ethischen Probleme sie mitbringen könnten. Mit meiner Forschung und Lehre möchte ich einen Beitrag leisten, wie wir heute schon die richtigen Weichen stellen können, um Technologien im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung zu gestalten und einzusetzen.
Wie sind Sie Zukunftsforscherin geworden?
Laura Bechthold: Was meinen Hintergrund betrifft, bin ich Sozialwissenschaftlerin. Ich habe an der Zeppelin Universität (ZU) Kommunikations-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften studiert. Nach meinem Bachelorabschluss 2012 habe ich an der Universität Maastricht meinen Master in Nachhaltigkeitswissenschaften gemacht und anschließend in München im Bereich „Innovation und Entrepreneurship“ promoviert. Im Mai 2022 wurde ich ans neu gegründete Bayerische Foresight-Institut berufen.
Das Foresight-Institut wurde im Zuge der Hightech Agenda Bayern ins Leben gerufen, mit der Idee, interdisziplinäre, technologieorientierte Zukunftsforschung zu betreiben. Ziel war es, ein Institut zu schaffen, welches sich nicht auf eine bestimmte Technologie konzentriert, sondern interdisziplinär und übergreifend forscht. Wir am Foresight-Institut schauen uns das ganze Spektrum neuer Technologien sozusagen aus der Vogelperspektive an. Wir sind Wissenschaftler:innen aus verschiedensten Bereichen, beispielsweise aus technologischen wie Ingenieurwissenschaften, aber auch aus sozialwissenschaftlichen Disziplinen, zu denen ich gehöre. Die Zukunftsforschung ist im Vergleich zu anderen Disziplinen ein recht junges Forschungsgebiet, wobei gerade durch die Krisen der vergangenen Jahre das Interesse an Zukunftsforschung im Allgemeinen und „Foresight“ im Speziellen enorm gewachsen ist. Man könnte sagen, die Zukunftsforschung hat aktuell ein gewisses Momentum.
Was sind aktuell die wichtigsten Probleme, mit denen Sie sich als Zukunftsforscherin beschäftigen?
Laura Bechthold: Mein Berufungsgebiet heißt „Technology Assessment & Cultural Management“, zu Deutsch also etwa „gesellschaftliche Technikfolgenabschätzung“. Da dieses Forschungsfeld sehr breit ist, lässt sich nicht so pauschal „das wichtigste“ Problem herausstellen. Aktuell wird natürlich zum Phänomen Künstliche Intelligenz viel geforscht. In diesem Zuge befasse ich mich viel mit „Corporate Digital Responsibility“, also unternehmerischer Verantwortung im digitalen Raum.
Aktuell beschäftigen wir uns im Foresight-Institut auch mit regionaler Entwicklung. Wir arbeiten an mehreren Projekten zu der Frage, wie sich der Raum Ingolstadt in den nächsten Jahrzehnten entwickeln wird, kann und soll. Die Veränderungen werden beispielsweise vorangetrieben durch eine sich verändernde Industrie, also den vor Ort ansässigen Unternehmen und Branchen oder dem demografischen Wandel, der Alterszusammensetzung der Gesellschaft. Bei solchen regionalen Veränderungsprozessen ist es wichtig, dass man alle betroffenen Bevölkerungsgruppen nicht nur mitdenkt, sondern auch proaktiv in die Entwicklung von Zukunftsszenarien mit einbezieht.
Hier kommt auch ein weiteres Forschungsfeld ins Spiel, mit dem ich mich seit Beginn meiner Zeit am Institut befasse, die „Futures Literacy“. Das ist ein Konzept der UNESCO, welches Menschen das Denken über die Zukunft näherbringen soll. Der Umgang mit der Zukunft wird sozusagen als eigenständige Kompetenz gesehen. Denn wir alle beschäftigen uns eigentlich die ganze Zeit mit der Zukunft, in jeder Entscheidung, die wir treffen. Aber was ist eigentlich die Zukunft, wenn es sie, sobald sie eintrifft, eigentlich nicht mehr gibt? Man kann die Zukunft als eine Sammlung von Annahmen verstehen, die jeder Mensch auf Basis eigener Erfahrungen, Wissen und sozialer Prägungen trifft und darauf basierend Vorstellungen über die Zukunft entwickelt. Diese Annahmen sind aber von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Bei Futures Literacy geht es darum, Menschen dazu zu befähigen, diese Annahmen bei sich und anderen Menschen zu erkennen. Erst dadurch werden strukturierte und fundierte Dialoge über mögliche Zukunftsszenarien möglich.
Die Zukunftsforschung, die ich betreibe, setzt sich aus drei Teilen zusammen: Erstens gibt es die phänomenorientierten Forschungsprojekte, die sich mit aktuellen Technologien wie Künstlicher Intelligenz und deren Anwendungsgebieten beschäftigen. Dann gibt es die methodischen Fragestellungen, bei denen es darum geht, neue Methoden zu entwickeln, wie man Menschen zum Umgang mit der Zukunft befähigt. Hier arbeite ich zum Beispiel weiterhin mit einem Doktoranden der Zeppelin Universität am Thema Paradoxiefähigkeit. Neben diesen Feldern gibt es noch weitere, außergewöhnlichere Forschungsbereiche. Beispielsweise betreibe ich aktuell mit in einer interdisziplinären Gruppe zusammen Science-Fiction-Forschung. Wir analysieren Science-Fiction-Literatur, -Filme und -Videospiele und schauen, was wir daraus lernen können. Science-Fiction bietet dabei zwei spannende Anknüpfungsfelder: Zum einen können wir Science-Fiction als Ideenarchiv für neue Entwicklungen verstehen. Zum anderen ist es aber auch eine Projektionsfläche der Gegenwart, die uns Aufschluss darüber gibt, welche Annahmen, Ängste, Sorgen, aber auch Hoffnungen die heutige Gesellschaft beschäftigen.
Den Grundstein Ihrer akademischen Laufbahn haben sie an der Zeppelin Universität gelegt. Sie haben dort Ihren Bachelorabschluss in Kommunikations-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften erlangt. Was haben Sie in dieser Zeit gelernt, was Ihnen heute als Zukunftsforscherin hilft?
Laura Bechthold: Als Zukunftsforscherin arbeite ich sehr interdisziplinär und versuche, die Entwicklungen aus der Vogelperspektive zu betrachten. Diese Eigenschaften wurden mir schon an der ZU nähergebracht. Dort habe ich das vernetzte Denken gelernt, also das Denken nicht nur in, sondern vor allem zwischen den verschiedenen Disziplinen. Wenn wir beispielsweise vom Begriff „Netzwerk“ sprechen, hat ein ITler eine andere Vorstellung als ein Wirtschaftswissenschaftler oder ein Sozialwissenschaftler. Die Fähigkeit, zu verstehen, aus welcher Disziplin eine andere Person kommt und sich in sie hineinzudenken, das wurde an der ZU geschult.
Ein anderer, ganz praktischer Skill, der trainiert wurde und mir heute in der wissenschaftlichen Karriere sehr zugutekommt, war das Lesen langer, komplizierter Originaltexte. Seit dem ersten Bachelorsemester haben wir in Vorlesungen an der ZU mit den Originaltexten gearbeitet, uns dadurch gekämpft und die Texte dann noch mit anderen diskutiert. So verliert man auch die Angst vor diesen komplexen Texten. Das hört sich zunächst etwas trivial an, ist aber in Zeiten schnelllebiger Medien eine Fähigkeit, die aus meiner Sicht immer weiter verloren geht. Die aber sehr wichtig wird, wenn man komplexe Sachverhalte in der Tiefe durchdringen möchte.
Sie sprachen bereits über „Interdisziplinarität“. Warum ist es heutzutage so wichtig, interdisziplinär denken zu können?
Laura Bechthold: Ich glaube, weil man umgekehrt gesehen hat, was herauskommt, wenn man es nicht tut. Zu oft beschränken wir uns auf die Optimierung der eigenen Disziplin oder denken in Silos. Dadurch blenden wir andere Aspekte aus und geraten in ein Schwarz-Weiß-Denken. Wir brauchen interdisziplinäres Denken, um Verknüpfungen zwischen den vielen kleinen Teilproblemen zu sehen und so die großen Probleme unserer Zeit langfristig wirklich lösen zu können.
2019 haben Sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Friedrichshafener Institut für Familienunternehmen gearbeitet. Die mittelständischen Unternehmen gelten als der Motor der deutschen Wirtschaft. Wie steht es um den deutschen Mittelstand nach drei Jahren Krise?
Laura Bechthold: Zunächst muss ich sagen: Ich bin kein Fan von Panikmache und polarisierenden Vorhersagen. Es gibt viele selbsternannte „Zukunftsgurus“, die behaupten: „Die Zukunft wird genau so und so kommen und wenn Sie jetzt nicht genau das und das machen, sind Sie morgen weg!“ Bei solchen absoluten Wahrheiten werde ich immer direkt skeptisch. Der deutsche Mittelstand ist resilienter, als man denkt. Viele mittelständische Unternehmen greifen auf jahrzehntelange Erfahrung zurück und haben bereits eine hohe Adaptionsfähigkeit bewiesen. Die Herausforderung ist aktuell, diese Anpassungsfähigkeit zu erhalten und sich an die Geschwindigkeit neuer Veränderungen anzupassen. Es geht dabei auch nicht darum, allen Entwicklungen blind hinterherzurennen, sondern aktuelle Entwicklungen und Trends genau zu verfolgen und sich die Frage zu stellen: „Welchen Trends sind wirklich wichtig für mein Unternehmen, weil wir sonst vom Markt verdrängt werden?“. Aber natürlich müssen sie auch wissen, wo sie standhaft sein müssen und nicht mit jedem Trend mitgehen. Diese Abwägung ist zwar eine Herausforderung, aber für die meisten Unternehmen machbar. Genau hierbei können dann so etwas wie Foresight-Prozesse nützlich sein.
Sie haben gerade gesagt, dass Sie „kein Fan von starken Prognosen“ seien. Wenn es in der Zukunftsforschung nicht um starke Prognosen geht, worum denn dann?
Laura Bechthold: Man muss grundlegend unterscheiden zwischen exakten Vorhersagen und der Entwicklung von Szenarien. Eine Vorhersage wäre: „In 5 Jahren passiert genau dies und jenes, und wenn Sie sich nicht darauf einstellen, wird Ihr Unternehmen vollständig vom Markt verdrängt.“ Solche Aussagen sind oft einfache Wahrheiten, die sich leider gut verkaufen lassen. In der Zukunftsforschung geht es durchaus um Fragen wie: „Inwiefern können wir auf heutiger Datenbasis mit Simulation und statistischen Modellen Bewertungen abgeben über zukünftige Entwicklungen?“. Je weiter diese Entwicklungen in der Zukunft liegen, desto schwieriger wird es jedoch, diese zu simulieren, da die Anzahl der mathematischen Möglichkeiten exponentiell steigt und die jeweilige Eintrittswahrscheinlichkeit immer kleiner wird. Zukunftsforschung ist also auch die Erkenntnis, dass wir die Zukunft nicht sicher vorhersagen können. Es ist Unsinn, das von sich zu behaupten.
Wir können aber Annahmen treffen über mögliche, gleich wahrscheinliche Entwicklungen, welche verschiedene Richtungen zukünftiger Entwicklungen aufzeigen. Wir wissen heute nicht genau, welchen Verlauf die Entwicklungen nehmen werden, aber wir können überlegen, welche Implikationen die verschiedenen Richtungen für die eigene Organisation hätten. Man spricht in der Forschung also nicht von der einen Zukunft, sondern von verschiedenen möglichen Zukünften.
Was bedeutet das für unseren aktuellen Umgang mit Künstlicher Intelligenz?
Laura Bechthold: Wir müssen schauen, was zum heutigen Zeitpunkt realistisch ist und uns fragen, wo unsere Wahrnehmung vielleicht von Science-Fiction oder Medienhypes beeinflusst wird. Darüber hinaus müssen wir Rahmenbedingungen setzen und Szenarien für verantwortungsvollen Umgang mit Künstlicher Intelligenz entwickeln.
Ich gebe ein fiktives Beispiel: Die Aussagen und Ergebnisse einer Künstlichen Intelligenz hängen maßgeblich vom Datensatz ab, mit dem sie trainiert wurde. Wenn ich also beispielsweise als Unternehmen ein Künstliches Intelligenzmodell für eine Bewerberauswahl entwickle und in der Vergangenheit aus irgendwelchen Gründen vornehmlich nur deutsche Bewerber im Bewerbungsprozess hatte, kann es zu systematischen Verzerrungen kommen und Fehlschlüssen seitens der KI kommen, wie: „Deutsche Bewerber sind grundsätzlich die besseren.“ Die meisten Datensätze von heute basieren auf historischen Daten, die irgendwann einmal gesammelt wurden. Diese reflektieren damit auch die Gesellschaft, wie sie sich bis heute herausgebildet hat – mit allen diskriminierenden Strukturen und Ungleichheiten. Wenn wir bei der Entwicklung von KI nicht aufpassen, kopieren wir diese historisch-erwachsenen Strukturen aus der analogen Welt eins zu eins in die digitale Welt. Es gibt einige Beispiele, die uns die Konsequenzen verzerrter Algorithmen aufgezeigt haben.
An dieser Stelle kann die Zukunftsforschung aus meiner Sicht einen Beitrag zur gesellschaftlichen Verbesserung leisten. Wenn die Historie diverse diskriminierende Strukturen aufgebaut hat, wie könnten Szenarien für eine moderne, diverse und faire Gesellschaft aussehen? Und wie können wir beispielsweise diese Erkenntnisse für die Entwicklungen verantwortungsvoller Technologien nutzen? Zur Beantwortung dieser Fragen können Zukunftsforscher:innen einen wichtigen Beitrag leisten.
Frau Prof. Laura Bechthold wurde 1987 in Esslingen geboren. 2012 schloss sie ihren Bachelor in Kommunikations-, Kultur- und Wirtschaftswissenschaften an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen ab. Anschließend absolvierte sie ihr Masterstudium in Sustainability Science & Policy an der Universität Maastricht. Danach war sie Teil des Managementteams des Munich Center for Digital Technology and Management (CDTM), verbrachte einen Forschungsaufenthalt an der University of California, Berkeley, und promovierte am Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb. Seit 2022 forscht sie am Bayerischen Foresight-Institut an der Technischen Hochschule Ingolstadt.