ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Lehmann ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziologie mit dem Schwerpunkt auf Organisationstheorie an der Zeppelin Universität. Sie studierte Design an der Hochschule für Kunst und Design in Halle, später Erziehungswissenschaften und Soziologie an den Universitäten Halle/Wittenberg und Bielefeld. Nach ihrer Promotion und Habilitation in Soziologie arbeitete sie in Forschung und Lehre an den Universitäten Halle/Wittenberg, Leipzig, der Bauhaus-Universität Weimar, der Wirtschaftsuniversität Wien und der Universität Duisburg-Essen.
Eine umfangreiche Ausführung zur Soziologie des Zufalls findet sich im Sammelband der Zeppelin Universität „Stabilie Fragilität. Fragile Stabilät." (Erscheinungsdatum: 30. Juni 2013). Darin finden sich u.a. Beiträge von Dirk Baecker, Stephan A. Jansen, Bob Jessop, Claus Offe, Nico Stehr, Marcel Tyrell und Helmut Willke zum wissenschaftlichen Jahresthema der Zeppelin Universität.
Im Rahmen dessen beschäftigten sich die Wissenschaftler mit der generellen These von der Fragilität der modernen Gesellschaft: die wachsende Unfähigkeit staatlicher sowie anderer großer gesellschaftlicher Institutionen gegenwärtig – und voraussichtlich auch in Zukunft – ihren Willen durchzusetzen. Es kommt, je nach unserem Standort in der Gesellschaft, zu einer stabilen Fragilität oder der fragilen Stabilität der sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Verhältnisse.
Was ist ein Zufall im soziologischen Sinne?
Professorin Dr. Maren Lehmann: Wenn man, Georg Simmel folgend, davon ausgeht, dass das Bezugsproblem der Soziologie die Frage ist, "wie Gesellschaft möglich ist", und wenn man, Niklas Luhmann folgend, das zuspitzt auf die Frage, "wie soziale Ordnung möglich ist", dann markiert der Zufall diese Möglichkeit. Er markiert also die andere Seite des Gewissen und des Sicheren. Aber er markiert gerade nicht, und darauf kommt es an, das Scheitern dieser Möglichkeit. Vielleicht kann man definieren: Der Zufall markiert den Moment der Unentscheidbarkeit - des Schwankens - zwischen möglicher Ordnung und möglicher Unordnung, und "markiert" heißt: er ist der Moment, in dem die Unentscheidbarkeit als Entscheidungsproblem auffällt. Der Zufall ist der Moment, in dem entschieden werden muss, obwohl nicht entschieden werden kann, und das heißt: er ist der Moment, in dem alle Sicherheiten versagen und in dem deshalb nur entschieden werden kann. Das verbindet übrigens den Zufalls- mit dem Krisenbegriff.
Welche Rolle spielt er für die Herstellung von Ordnung?
Lehmann: Für die Soziologie ist die Einsicht zentral, dass es für diese Frage nach dem „Wie?" keine abschließende Antwort gibt. Soziale Ordnung ist für die Gesellschaft immer auch anders möglich - und der Soziologie geht es darum, Ordnungsvarianten zu vergleichen. Dabei gilt immer die Annahme, dass das, was möglich ist, einerseits nicht unmöglich und andererseits nicht notwendig ist. Mit diesen beiden Modalitäten - nicht unmöglich und nicht notwendig - ist einer der wichtigsten soziologischen Grundbegriffe definiert: der Begriff der Kontingenz. Der Zufall ist ein möglicher Terminus zur Beschreibung dieser Kontingenz.
Wie veränderte sich die Funktion des Zufalls für [die] Gesellschaft über die Jahrhunderte?
Lehmann: In einer Gesellschaft, die auf eine jenseitige, das heißt mit gesellschaftlichen Mitteln nicht zu verstehende und nicht zu berechnende ordnende Instanz vertraut (das ist jene Gesellschaft, die Arthur O. Lovejoy als great chain of being beschrieben hat), kann der Zufall sehr leicht hingenommen werden, weil er die Unberechenbarkeit des Jenseitigen bestätigt. In der neuzeitlichen Gesellschaft (in der diese great chain in komplexe, hochvariable Netze differenziert ist) muss dem Zufall aber misstraut werden, weil diese Gesellschaft sich selbst ordnet; der Zufall erscheint dann als Fehlstelle der Ordnung. Andererseits ist diese Fehlstelle natürlich eine Gelegenheit, die Ordnung zu ändern - und diese Gelegenheit hat in einer sich selbst ordnenden Gesellschaft geradezu imperative Kraft. Der Zufall wird zur Chance, die genutzt werden kann und deshalb genutzt werden muss. In der spätmodernen Gegenwartsgesellschaft ist der Zufall also kein unerklärliches Ereignis mehr, das man als Zertifikat des Jenseitigen hinnehmen kann, sondern eine unerwartete Gelegenheit, die nicht ungenutzt verstreichen darf.
Sie schreiben, der Sinn der Soziologie selbst sei kontingent. Warum?
Lehmann: Weil die Soziologie die Gesellschaft nicht von außen beobachtet, sondern selbst Teil (oder genauer: Variante) des Problems ist, auf das sie bezogen ist. Wenn das Bezugsproblem der Soziologie die Kontingenz sozialer Ordnung ist, dann ist sie als Variante dieser Ordnung selbst kontingent.
Fotos: martinluff (Titel) | tiegetuf (Text)