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Jan Assmann wurde 1938 geboren und studierte Ägyptologie, Klassische Archäologie und Gräzistik in München, Heidelberg, Paris und Göttingen. Zur ägyptischen Religion, Geschichte, Literatur und Kunst sowie zur allgemeinen Kulturtheorie ("Das kulturelle Gedächtnis") und Religionswissenschaft ("Monotheismus und Kosmo-theismus") hat er diverse Bücher und Aufsätze veröffentlicht, einige davon mit seiner Frau, der Ägyptologin und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann. Seit 2005 ist er Honorarprofessor für Allgemeine Kulturwissenschaft und Religionstheorie an der Universität Konstanz.
Als Zoroastrismus bzw. Zarathustrismus wird eine monotheistische – anfangs auch dualistische – Religion bezeichnet, die zu ihrem Entstehungszeitpunkt zwischen 1800 und 600 vor Christus vor allem im zentralasiatischen Raum und Persien verbreitet war. Sie zählt heute etwa 150.000 Anhänger, große Teile davon in Indien und im Iran.
Im Zentrum des Glaubens stehen der Schöpfergott Ahura Mazda und der böse Dämon Ahriman. Lange Zeit wurden verstorbene Zoroastrier zur Himmelsbestattung in sogenannte Dakhmahs gelegt: Die nach oben offenen Türen verhindert das Eindringen von Landtieren, nicht aber von Vögeln, die die Leichname verspeisen. Inzwischen werden sie in Betongräbern beigesetzt. Die Trauer um verstorbene Angehörige ist unüblich, da davon ausgegangen wird, dass der Verstorbene eine weitere Stufe zum ewigen Licht hinter sich gebracht hat.
Welche Bedeutung hat das Grab auf dem Friedhof für unser Totengedenken gesellschaftlich?
Das namentlich gekennzeichnete Grab der Eltern und anderer Verwandter ist ein Medium des intergenerationellen Kontakts, der zum Menschsein dazugehört. Das heißt nicht, dass es nicht auch Kulturen gibt, die dieses Element verdrängen, wie zum Beispiel den Zoroastrismus . Wie sehr aber der Einzelne Teil eines „Systems“ ist, zu dem auch die Toten gehören, zeigt sich an verschiedenen Praktiken, wie z.B. der „Familienaufstellung“ – einer therapeutischen Methode, die dieses Familiensystem durch Repräsentanten nachzustellen und therapeutisch zu beeinflussen versucht.
Wodurch werden Veränderungen im Totengedenken ausgelöst?
Für das ungeheure Menschheitsverbrechen des Holocaust, das alle herkömmlichen Begriffe von Unrecht und Unterdrückung übersteigt, mussten Formen der Erinnerung erst gefunden werden. Es war ebenso unmöglich, es zu vergessen, wie es zu erinnern. So hat es 60 Jahre gedauert, bis nach dem Krieg ein Mahnmal für die ermordeten Juden errichtet wurde, das stellvertretend die Funktionen eines Friedhofs wahrnehmen kann. Während dieser 60 Jahre hat die Latenz dieser Erinnerung zu vielfältigen Symptomen geführt. Dazu gehören vor allem die Skandale um einen Artikel von Ernst Nolte 1986, die Bundestagsrede von Ph. Jenninger 1988, die Friedenspreisrede von Martin Walser 1998 und viele andere mehr. Seit einer Reihe von Jahren aber scheint der Bann gebrochen und die Erinnerung an den Judenmord sowie andere genozidale Untaten des NS-Regimes findet vielfältige Formen wie z.B. die „Stolpersteine“ oder Einladungen von Gemeinden an Nachkommen der Vertriebenen mit spontanen Gedenkveranstaltungen.
Und Erinnerungsformen dieser Art treten an die Rolle des klassischen Grabsteins? Warum?
Das Grab mit dem Grabstein ist eine Erinnerungsform, die beispielsweise im ersten Weltkrieg nicht mehr funktionierte, weil viele Tote vermisst oder durch Granaten zerfetzt waren und kein Grab bekamen. Und es ist eine Erinnerungsform, die heute allmählich verschwindet, weil viele Menschen den Glauben an eine wirksame Erinnerungsform an die Toten verloren und die Toten einfach aus ihrem Leben ausgebürgert haben. Sie gehen nicht mehr auf den Friedhof, lassen sich nicht mehr traditionell begraben. Und das wiederum führt zu Symptomen und Störungen, wie sie die geschilderten spiritistischen Praktiken oder die neuen Methoden der Familienaufstellung in den Griff zu bekommen versuchen.
Das heißt konkret?
Nach dem ersten Weltkrieg mit seinen vielen Millionen Toten beispielsweise grassierten für einige Jahre Formen von Spiritismus, die versuchten, mit den Toten Kontakt aufzunehmen. Die von unserer Kultur traditionell vorgesehene und legitimierte Form solchen Kontakts ist der Friedhofbesuch. Wenn diese Form verschwindet, werden eben andere Totenbräuche an ihre Stelle treten.
Bild: Jakob Müller