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Professor Dr. Helmut Willke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Global Governance und hat zudem Gastprofessuren in Washington, D.C., Genf und Wien inne. Der studierte Rechtswissenschaftler und Jurist lehrte zuvor in Bielefeld und wurde 1994 mit dem Leibnizpreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Willke forscht schwerpunktmäßig in den Bereichen globale Netzwerke und Steuerungsregime, sowie System- und Staatstheorie.
Der ehemalige Fallschirmjäger und Arbeitsvermittler bei der Arbeitsagentur Heidelberg, Dirk Niebel (FDP), gehört seit 1998 als Abgeordneter für den Wahlkreis 274 Heidelberg-Weinheim dem Deutschen Bundestag an. Er war von 1998 bis 2009 arbeitsmarktpolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion und von Mai 2005 bis Oktober 2009 Generalsekretär der FDP-Bundespartei. Seit dem 28. Oktober 2009 ist er Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.
Deutschlands Entwicklungspolitik hat seit 2009 einen grundsätzlichen Wandel vollzogen. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt, ist werte- und interessenorientiert und ersetzt das klassische Geber-Nehmer-Verhältnis durch eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Doppel- und Dreifachstrukturen wurden in einer großen Reform abgebaut und die Kooperation mit der Privatwirtschaft intensiviert. Gemeinsam mit Professor Dr. Helmut Willke, Lehrstuhl für Global Governance an der ZU, diskutiert Minister Dirk Niebel (FDP) am 17. September ab 18:00 Uhr die Grundsatzfragen im Nord-Süd Verhältnis.
Über den Sachstand der Entwicklungspolitik ist in der breiten Öffentlichkeit nur wenig bekannt. Minister Niebel droht, eher als Minister „mit dem Teppich“ in die Geschichte einzugehen als durch seine umfassenden Reformen. Woran liegt das?
Professor Dr. Helmut Willke: Für die breite Mehrheit ist Entwicklungspolitik nicht 'sexy', weil sie eher mit verhungernden Kindern und Korruption in 'Bananenrepubliken' verbunden wird. Man entlastet sein moralisches Gewissen einmal im Jahr vor Weihachten, und das war's dann. Hinzu kommt, dass Entwicklungspolitik tatsächlich auch inhaltlich schwieriger zu verstehen ist, weil sich Kontexte und Bedingungen für dieses Politikfeld nach Ende des Kalten Krieges stark verändert haben. Es ist ein Feld für Spezialisten und Professionelle geworden und mit dem faktischen Wegfall von Wehrpflicht – und damit Wehrersatz- oder Friedensdienst – ist auch die Alternative des Entwicklungsdienstes für viele uninteressant geworden. Minister Niebel hat nach wackeligen Anfängen wichtige Reformen wie die Zusammenlegung von GTZ, DED und Invent zur GIZ in Gang gebracht, die aber nur für Insider von Bedeutung sind.
Aber auch wenn Entwicklungspolitik nicht unbedingt sexy ist, spenden wir doch jedes Jahr zu Wehinachten Millionen für Projekte in Entwicklungsländern. Dies spricht für ein großes Interesse der Bundesbürger an den dortigen Zuständen. Warum macht sich die Politik diese Interesse so wenig zu Nutzen?
Willke: Nein, es zeugt nicht von großem Interesse, sondern von großem schlechten Gewissen darüber, dass es 'uns noch gut geht und denen so schlecht'. Die Kirchen unterstützen das und werben das meiste Geld ein. Die Politik hat wenig Nutzen davon, weil das Interesse, jedenfalls bei der großen Mehrheit, nicht stabil ist und die tieferen und konzeptionellen Fragen der Entwicklungspolitik nur wenige interessieren.
Sie haben wichtige Reformen von Minister Niebel angesprochen: An welchen Stellen gibt es denn gelungene Beispiele für Entwicklungspolitik und warum werden diese nicht stärker in den öffentlichen Fokus gerückt?
Willke: Vor allem die Weiterentwicklung des etwas schwammigen „Hilfe zur Selbsthilfe“-Konzepts zu der Entwicklungskonzeption des Capacity Building ist gelungen. Nach Jahrzehnten verfehlter und oft sogar schädlicher Enwicklungspolitik hat sich ab 2000 mit den 'Millennium-Entwicklungszielen' tatsächlich etwas zum Besseren verändert. Voraussetzung für jede endogene Entwicklung ist der Aufbau von Fähigkeiten und Kompetenzen, die es ermöglichen Selbsthilfe praktisch umzusetzen. Immer noch allerdings ist das Capacity Building in der Praxis nur ein Lippenbekenntnis. Die alten Strukturen, Routinen und Vorstellungen der Institutionen und Personen, die Entwicklungspolitik betreiben, sind immer noch sehr stark und wehren sich gegen Veränderung.
Die ergriffenden Maßnahmen klingen nachvollziehbar, für den aktuellen Wahlkampf zur Werbung aber gänzlich ungeeignet. Sind sich da alle Parteien einig oder warum ist Entwicklungspolitik eher unpopulär?
Willke: Die Parteien sind sich global einig, konkret und in den Ansätzen aber sehr uneinig. Aber wen will man damit hinter dem Ofen vorlocken? Mit dem Thema ist politisch kein Blumentopf zu gewinnen, wenn die Mehrheit der Wähler sich nur dafür interessiert, wer wieviel verspricht und von wem nach den Wahlen mehr an Nettoeinkommen oder Rente zu erwarten ist. Nicht umsonst hat Niebel daher das Ministerium erst mal abschaffen wollen.
Das Ministerium existiert aber auch nach vier Jahren schwarz-geld weiterhin, auch wenn bei den Bildern von völlig entkräfteten Bootsflüchtlingen für den Bürger keine Verbesserung sichtbar wird. Wie können hier, besonders kurzfristig, politische Erfolge erzielt werden?
Willke: Selbst wenn sich vor Ort für die Menschen sehr viel verändert – und dafür spricht jedenfalls in Afrika seit Jahrzehnten sehr wenig – dann ist im Vergleich dazu Europa immer noch das gelobte Land und das Paradies. Es werden also auch weiterhin Bootsflüchtlinge kommen. Es ist eine ganz schwierige Frage, wie gerade bei gelingender Entwicklungspolitik und bei gelingenden Aufbau von Kompetenzen vor Ort eine Abwanderung verhindert werden kann.
Die Probleme kurzfristig zu lösen scheint also kaum machbar. Wie lässt sich denn aber in der Bevölkerung Verständnis dafür wecken, dass die Probleme in den Entwicklungsländern gelöst werden müssen und dies nicht ohne Kosten möglich ist?
Willke: Genau das ist eine Kernfrage. Verständnis lässt sich definitiv nicht in Formen des Altruismus oder des Gutmenschentums wecken, sondern nur in Formen des aufgeklärten Egoismus. Erst wenn der Durchschnittswähler versteht, dass es in ihrem ureigenen Interesse ist, Probleme weit weg zu bearbeiten, damit sie nicht vor Ort und vor der eigenen Nase massiv werden, erst dann wird Entwicklungspolitik zu einem politischen Thema. Übrigens teilt sie dieses Schicksal mit allen großen globalen Problemen, vom Klimawandel über die Finanzkrise bis zu knappen Ressourcen.
Titelbild: Julien Harneis (CC BY-SA 2.0)
Text: dirk-niebel.de | ärzte-ohne-grenzen.at (jeweils rechtefrei)