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Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf ist Juniorprofessor für Medienkultur und Mitglied des Karl-Mannheim-Lehrstuhl für Kulturwissenschaft an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Mediensoziologie, den Media Cultural Studies und der kritischen und konstruktivistischen Epistemologie. Zuvor lehrte und arbeitete der gebürtige Österreicher in Wien, Innsbruck und Mannheim.
Was wissen wir über Wissen? Eine Frage, welche die Welt nicht erst seit Francis Bacon beschäftigt - aber Forscher trotzdem bis heute nicht mehr losgelassen hat. Auf die Reise zum Wissen über das Wissen haben sich auch Marian Adolf und Nico Stehr begeben und erkunden in ihrem Buch "Knowledge (Key Ideas)" die soziolgischen Grundlagen des Wissens.
Darum geht's: "Almost everything we do is based on our knowledge of the world around us: how we dress in the morning, how we go about our work, how we interact with other people – all these things rest on our understanding of how we know life. Knowledge might be seen as the most central as well as the most under-researched trait of social life: we mainly think of knowledge as either technical (scientific knowledge) or formal (as bestowed by academic education). The things that we know are obscured in our everyday routines, not revealing their true status as "known" – until critical moments demand it. This book establishes a fundamentally social understanding of knowledge.
Knowledge is re-embedded into the discussion of how we, as individuals and groups, and as a modern society produce and reproduce knowledge as the foundation of our lives. Knowledge is approached as a societal phenomenon, as we uncover the ingredients and settings in which knowledge is produced and put to use."
Können Sie kurz zusammenfassen, um was es in Ihrem Buch geht?
Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf: Den Begriff Wissen verwenden wir alle ganz selbstverständlich im Alltag. Nur selten bietet sich Anlass, darüber nachzudenken, was damit eigentlich gemeint ist. In unserem Buch versammeln Nico Stehr und ich unser Wissen über Wissen, und entwerfen einen soziologischen Wissensbegriff, den wir in verschiedenen Kontexten beleuchten. Im Zentrum steht dabei die Rolle des Wissens als gesellschaftliche Größe.
Unter dem Begriff „Wissen“ kann man alles zusammenfassen, was wir an Erkenntnissen in unserem Leben täglich bewusst oder unbewusst anwenden. Gibt es in ihrem Werk Schlüsselbegriffe, um die Unsumme von Erkenntnissen zu kanalisieren?
Adolf: Meinte Francis Bacon noch, das Wissen Macht sei, so trifft es eine Abwandlung vielleicht besser. Wir verstehen Wissen als „Handlungsvermögen“, als Befähigung Dinge in Bewegung zu setzen. Unter diesen Bedingungen wird deutlich, dass vor allem neues Wissen dazu angetan ist, die Welt in der wir leben, und damit auch unsere Gesellschaften zu verändern. Dieser soziale Wissensbegriff wird in unserem neuen Buch auf verschiedene Merkmale hin untersucht. Denn wenn Wissen nicht als überzeitliche, stabile Essenz, sondern als historisch wirkmächtiger Aspekt des Sozialen verstanden wird, dann treten damit Fragen auf, auf die wir für unsere heutige Gesellschaft dringende Antworten brauchen: Wo entsteht Wissen, wer verfügt darüber, und unter welchen Bedingungen wird es „aktiv“? Wie verhalten sich unterschiedliche Arten des Wissens zueinander, und welche Funktionen haben sie inne? Muss man Wissen schützen, kann man es kontrollieren, und braucht es heute so etwas wie eine Wissenspolitik, die ehemals getrennte Handlungsfelder der Gesellschaft, etwa Forschung, Bildung und Alltag unter einem Dach zusammenfasst? Auf diese und andere Fragen versuchen wir in unserem Text Antworten zu finden, und diskutieren dabei historische und aktuelle Theorien des Wissens.
Wenn „Wissen“ die Grundlage jedes menschlichen Handelns ist, ist es dann noch ein allgemeingültig definierbarer Begriff oder abhängig von den sozialen und kulturellen Lebensumständen des „Wissenden“?
Adolf: Was als Wissen gilt, ist tatsächlich nicht in Stein gemeißelt. Das gilt sowohl historisch als auch kulturell: die soziale Rolle eines Schamanen ist etwa über dessen Kenntnis spiritueller Zusammenhänge gerechtfertigt. Und die bisweilen immensen Abweichungen von Expertenmeinungen hinsichtlich aktueller Probleme scheinen sich auch auf unterschiedliches Wissen zu gründen. Das, was die klassische Wissenssoziologie als Standortgebundenheit des Wissens zu untersuchen begann, scheint aus soziologischer Sicht also prinzipiell für alle Wissensformen zu gelten. Aber damit beginnen die uns interessierenden Fragen ja erst.
Denken Sie, dass die weltweit bestehenden sozialen und religiösen Konflikte auch auf unterschiedliches „Wissen“ zurückführen lassen?
Adolf: Ja, denn wesentlich ist doch, dass dieses unterschiedliche Wissen verschiedenen Akteuren eine Handlungslegitimation für ihr Handeln bietet: wer um den Willen des Propheten weiß, zieht daraus die Handlungsermächtigung in seinem Sinne zu handeln. Wer um den Zusammenhang ökonomischer Schlüsselfaktoren weiß, gibt entsprechende Wirtschaftspolitiken aus. Entgegen anderer, traditioneller Analysen von Wissensansprüchen kehren wir die Perspektive also um: nicht was „richtig“ ist interessiert uns, sondern das, was sozial „wahr“ ist.
Gibt es für alle Menschen anwendbare Grundformen des „Wissens“, unabhängig kulturellen und sozialen Umständen?
Adolf: In den Natur- und Technikwissenschaften ist der Begriff des Wissens von seiner Korrespondenz mit beobachtbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen geprägt. Das macht gerade „neues Wissen“ zu einem ganz besonderen Gut, denn es erlaubt exklusive Verfügung über diese Kausalketten. Doch ein solcher Zugriff auf die Kategorie des Wissens allein greift zu kurz. Denn er unterschlägt, dass naturwissenschaftliches Wissen nicht einfach in die gesellschaftlichen Wirklichkeiten jenseits des Labors übertragen werden kann. Er unterschlägt, dass auch wissenschaftliches Wissen sich wandelt indem es voranschreitet, umgesetzt oder verworfen wird. Und er unterschlägt, dass das, was wissenschaftlich möglich ist, sozial nicht erwünscht und umsetzbar sein muss; et vice versa.
Können Sie an einem Beispiel erläutern, ob und wie „Wissen“ dem gesellschaftlichen Wandel, z. B. in der Bundesrepublik unterworfen ist?
Adolf: Denken Sie beispielsweise an die Geschichte der Atomenergie in Deutschland: Zunächst erforschte man die Mechanismen der Energiegewinnung durch Kernspaltung. Dann wurden diese Prinzipien von Ingenieuren umgesetzt, nicht aber ohne immer aufwändigere und teurere Anlagen zu erschaffen. Zur Etablierung der Kernenergie wurden immense politische und finanzielle Mittel aufgewandt, um die neue zukunftsweisende und billige, vor allem aber angeblich sichere Energieform politisch durchzusetzen – die fiel ja nicht einfach vom Himmel. Heute wissen wir deutlich mehr über die zivile Nutzung der Kernenergie, und zumindest die offizielle Politik der Bundesrepublik will einen Ausstieg aus einer Energieform die immens unbeliebt, immens teuer und potenziell katastrophal ist. Über die Folgekosten der einst zukunftsweisenden und billigen Energiepolitik werden in den kommenden Jahrzehnten noch zahlreiche politische Gefechte entstehen.
Titelbild: anchylosaurus / flickr.com
Bilder im Text: Schub@, David Baxendale, starmanseries / flickr.com
Interview-Antworten: Jun.-Prof. Dr. Marian Adolf
Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm