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Joachim Kunstmann, 1961 in Münster geboren, ist evangelischer Theologe und seit 2002 Professor an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten. Sein Schwerpunkt liegt auf der Frage nach der Bedeutung der christlichen Tradition unter den Lebensbedingungen und Denkweisen der späten Moderne. Er ist ausgebildet in systemischer Therapie. Kunstmann hat in Erlangen, Hamburg und München studiert und als Pfarrer und Religionslehrer, seit 1996 als Assistent an der Universität Bayreuth, gearbeitet. Seine Dissertation (1997) behandelt die Wendung theologischen und kirchlichen Denkens hin zur Postmoderne, seine Habilitation (2001) das Grundsatzthema Religion und Bildung.
Der studierte Theologe und habilitierte Kulturwissenschaftler Joachim Kunstmann eröffnete den Abend mit einem Impulsvortrag und nicht weniger als der Frage nach dem Sinn des Lebens. Doch genau diese Fragen – Warum sind wir hier? Was ist der Sinn unseres Lebens? – würden nicht mehr in der Öffentlichkeit diskutiert und primär ins Privatleben abgeschoben. Wieso eigentlich? Weil es laut Kunstmann keine Einrichtung im öffentlichen Leben gibt, die diese Fragen tangiert. Außer: der Kirche.
Doch mit der Aufklärung verlor die Kirche an Bedeutung und damit ging der Verlust von Sicherheit und einer vorgegebenen Struktur in der Gesellschaft verloren. So entstand ein Vakuum an Orientierung. „Es gab wenige, die das so sehr gespürt haben wie Humboldt“, erklärt Kunstmann. Während Humboldt als „Zermürber“ bekannt war, verfolgte er ein hehres Ziel, nämlich „den Sieg der Aufklärung zu feiern, aber auch auf die Folgen aufmerksam zu machen“. In dieser nun orientierungslosen Welt sollte eine ganzheitliche Bildung die Voraussetzung sein, sich zurecht zu finden.
Das heutige deutsche Schulsystem und die Realität an den meisten Universitäten hätten allerdings wenig mit Bildung im Humboldtschen Sinne zu tun. Statt Orientierung zu finden, in dem man sich mit den großen Fragen im Leben beschäftigt, würden Schülerinnen und Schüler sowie Studierende nur auf einen späteren Beruf ausgebildet werden – Kunstmann würde einen Satz wie „Ausbildung ist das Aus der Bildung“ jederzeit unterschreiben. Denn Bildung wird spätestens seit der letzten Generation als Bildung von historischem Verständnis angesehen – mit dem Ziel, die zentralen Themen der Gegenwart zu verstehen: „Doch über Problembewältigung wird man nicht gebildet. Wenn wir gebildet sind, können wir Probleme bewältigen, aber nicht andersherum.“
Warum genau ist der evangelische Theologe aus Baden-Württemberg so ein leidenschaftlicher „Humboldtianer“? Dafür muss er weit ausholen, bis zu den alten Griechen, den Erfindern der Demokratie. Diese haben im Vorgänger des heutigen Gymnasiums nur drei Disziplinen erlernt: Musik, Rhetorik und Bewegung. Keine Mathematik, keine Biologie, keine Rechtschreibung – und dennoch gelten die so ausgebildeten als sehr gebildet, so Kunstmann. Denn diese drei Tätigkeiten sind äußerst komplex und fordern und fördern das Gehirn in einer Art und Weise, wie Mathematik es nie tun könnte. Kunstmann verweist hierbei auch auf Studien, in denen Kinder, die frühkindliche musikalische Bildung genossen haben, bei vielen Intelligenztests besser abschneiden als andere.
Der Fotograf Peter Badge porträtiert seit 18 Jahren alle lebenden Nobelpreisträger und hat eine Feststellung machen können: Statt abgehobenen grauhaarigen Gestalten findet er aufgeweckte, neugierige, musikalische und sportliche ältere Herrschaften vor. Kunstmann sieht seine These bestätigt, dass Intelligenz durch Musik, Bewegung und einer endlosen Neugierde gefördert wird, denn: „Das ist das, was den Menschen zur Entfaltung bringt und nicht irgendwelche ECTS.“
Neugierde sei das treibende Element von Bildung. „Warum sitzen wir hier anstatt mit Chips vor dem Fernseher?“, fragt Kunstmann in das gut gefüllte Forum im ZF Campus der ZU. „Was motiviert uns Menschen, uns zu bilden?“ Für ihn ist es die Neugierde, die Kinder wie auch die Nobelpreisträger vereint. „Doch der Mensch muss, wenn er sich bilden will, sich erst einmal entbilden“, zitiert er den Theologen und Philosophen Meister Eckhart. „Entbilden“ bedeutet aufgeweckt zu sein und Kapazitäten zu haben, um neugierig auf die Welt blicken zu können. Diese Kapazitäten würden Kindern im heutigen Schulsystem genommen. „Wir sind weich geworden, uns fehlt das zupackende“, bedauert Kunstmann, „sich mit den großen Fragen der Welt auseinander setzen zu wollen und Leidenschaft für Dinge zu entwickeln.“
Damit es nicht vielen jungen Menschen so ergeht, muss sich das Schulsystem verändern und wieder ganzheitlicher werden. Nach einer eher negativen Bilanz lässt sich ein Lichtblick für Kunstmann festhalten: An der Zeppelin Universität wird das Humboldtsche Bildungsideal unter dem von Studierenden ausgedachten Slogan „Humboldt reloaded“ noch gelehrt und gelebt. Nur so können die Probleme in unserer äußerst komplexen Welt angegangen werden.
Titelbild:
| Faustin Tuyambaze / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| A. Carse / Berlin und seine Kunstschätze, Payne Leipzig und Dresden (Gemeinfrei) | Link
| Bildergalerie: Valentin Kremer / Zeppelin Universität
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm