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Beschreiben, um zu verstehen
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Perspektiven auf die Pandemie

Beschreiben, um zu verstehen

Interview: Sebastian Paul | Redaktion
15.02.2021
Wer in einer komplexen Welt beobachten und handeln will, wird die Wahrnehmungen würdigen müssen.

Prof. Dr. Maren Lehmann
Lehrstuhl für Soziologische Theorie
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Maren Lehmann und Dr. Markus Heidingsfelder

    Maren Lehmann ist seit 2012 Professorin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Organisationstheorie sowie seit 2014 für Soziologische Theorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Ihre Habilitation in Soziologie erfolgte 2009 an der Universität Witten-Herdecke mit der Arbeit Mit Individualität rechnen: Karriere als Organisationsproblem (Velbrück Wissenschaft).

    Markus Heidingsfelder ist seit 2019 Assistant Professor für Medientheorie im Journalismus-Department der Xiamen Universität Malaysia. Er studierte Fernseh-, Film- und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln, 2000 schloss er sein Studium mit M.A. ab. 2009 promovierte er an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit der Arbeit System Pop (Berlin 2012). Lehraufträge an der DJS München, LMU München, der HCU Hamburg und der FU Berlin folgten. Von 2013 bis 2018 war er am Aufbau der ersten Liberal Arts-Universität Pakistans (Habib University) beteiligt. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war er von 1993 bis 1998 Textchef bei Viva Television, von 1999 bis 2003 Textchef und Executive Producer bei MTV. Filme und TV-Produktionen als Autor und Regisseur: Rem Koolhaas – A Kind of Architect (2009); Girls in Popsongs (2011); Durch die Nacht mit ... Chris Dercon und Matthias Lilienthal/Ulrich Seidl und Josef Bierbichler/Tom Schilling und Olli Schulz (alle 2013). Zuletzt erschien bei Springer seine systemtheoretische Analyse des Phänomens Donald Trump (Berlin 2020). 

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    Factbox
    Zum Weiterlesen: „Corona – Weltgesellschaft im Ausnahmezustand?“

    Vorliegender Sammelband ist der Versuch, dem öffentlichen Interesse an wissenschaftlichen Resultaten ohne Verlust an Komplexität und Sinngenauigkeit gerecht zu werden. Er bringt das Nachdenken über die Pandemie in Form eines interdisziplinären Projekts auf die Höhe der gesellschaftlichen Praxis: Soziologie, Philosophie, Psychologie, Theologie, Rechtswissenschaft, Medizin und andere wissenschaftliche Programme leuchten die unterschiedlichen Dimensionen des »Gegenstands« aus, um der übergreifenden Fragestellung gerecht zu werden, die das Virus für unsere Gesellschaft darstellt.

    Mit Beiträgen von: Dirk Baecker, Elena Esposito, Ying Fang, Heiner Fangerau, Peter Fuchs, Alexandra Grund-Wittenberg, Durs Grünbein, Hans-Ulrich Gumbrecht, Gorm Harste, Thomas Heberer, Jörg Heiser, Michael King, Alfons Labisch, Joachim Landkammer, Ding Liu, Qingshuo Liu, Carol Yinghua Lu, Marius Meinhof, Alka Menon, Hans-Georg Moeller, Arist von Schlippe, Fritz B. Simon, Werner Stegmaier, Günter Thomas und Barbara Vinken. 

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Gerade ist Ihr neues Buch „Corona: Weltgesellschaft im Ausnahmezustand?“ erschienen. Da drängen sich direkt zwei Fragen auf. Erstens: Sie versehen den Titel mit einem Fragezeichen. Was lässt sie daran zweifeln, dass sich unsere Weltgesellschaft im Ausnahmezustand befindet?

Prof. Dr. Maren Lehmann und Dr. Markus Heidingsfelder: Kurz gesagt: Wir fragen lieber, als zu dekretieren. Das Buch ist ein Gespräch darüber, was „Corona“ für die Weltgesellschaft und in der Weltgesellschaft bedeutet. Der Ausdruck „Ausnahmezustand“ fällt da zwar oft. Aber wie triftig ist er? Von Weltgesellschaft zu reden heißt, von einem sozialen Zusammenhang zu reden, der alle Formvarianten seiner selbst einschließt. Es gibt also keine Gesellschaft außerhalb der Gesellschaft, oder anders gesagt: Die Weltgesellschaft macht von sich selbst keine Ausnahmen. Was wir also gerade erleben, ist keine Ausnahme, sondern eine solche Formvariante der Weltgesellschaft. Schon gar nicht übrigens ist es ein Zustand; vielmehr ist es doch eine weit dynamischere Situation, als es alltäglich sonst üblich ist. Aber nur weil Gewohnheiten außer Takt geraten, liegt noch kein Ausnahmezustand vor. Es ist doch eher so, dass zwar plötzlich unsere Alltäglichkeiten, die Sicherheiten der wohlhabenden Weltnische, außer Takt geraten sind – dass aber die ärmeren Weltregionen an Unsicherheit gewöhnt sind (weswegen wir in unserer Nische inzwischen schon wieder diskutieren, ob uns nicht jeder Fortschritt in Gestalt von Impfungen und Medikamenten bevorzugt zustehen sollte, weil wir für unsere Sicherheit eben bezahlen können).

Nochmals kurz gesagt: Als wir den Band konzipierten, hatten wir den Eindruck, einer Gesellschaft beim Lernen zuzusehen, eine fragende, suchende, in vielleicht lange vermisster Weise auch wissbegierige Gesellschaft zu beobachten – und deshalb das Fragezeichen.


Und zweitens: Ergibt ein gedrucktes Buch in so bewegten Zeiten wie heute überhaupt noch Sinn? Schon nach den letzten Zeilen kann die Welt mit Virusmutationen oder neuen Lockdown-Regeln eine ganz andere sein.


Lehmann und Heidingsfelder: Ja, klar kann die Welt jeden Moment eine andere sein, und ja, klar ist die Versuchung groß, diese Einschätzung als Sedativum einzunehmen, um sich wieder schlafen legen zu können. Noch jede Lustlosigkeit lässt sich so zur Sinnlosigkeit hochtheoretisieren. Ein dermaßen erdrückendes Ruhebedürfnis hatten wir aber beide nicht, und die vielen Beiträgerinnen und Beiträger ebenfalls nicht. Wir konnten einander nicht treffen, aber dem Schreiben stand nichts im Wege.


Und wenn Sie anspielen auf den Anachronismus Buch: Über die begrenzten Rezeptionschancen eigenen Schreibens kann man ja nicht verwundert sein. So ist das eben: Nicht alles interessiert alle. Das Buch ist überdies, wenn man gelesen und diskutiert werden möchte, immer noch die attraktivste Publikationsform, denn Zeitschriftenaufsätze werden nur bilanziert, aber nicht gelesen, und Online-Publikationen haben keinerlei Distinktion und verlieren sich einfach in den assoziativen medialen Netzen.


So oder so: Welchen Ansatz verfolgen Sie mit dem Buch, das sich der Pandemie aus fünf verschiedenen Blickrichtungen nähert?


Lehmann und Heidingsfelder: Es ging uns darum, Perspektiven zu verknüpfen, sie aber weder zu parallelisieren noch zu hierarchisieren. Dass ein Buch dazu zwingt, eine sequenzielle Ordnung herzustellen, mussten wir hinnehmen. Der Sache nach sollte einfach beschrieben werden, was geschieht – um zu verstehen. Was hatte es etwa mit der Beobachtung auf sich, dass von der Verwendung des Ausdrucks „Ausnahmezustand“ bestimmte Durchgriffsrechte strategisch erhofft werden, die mit diesem Ausdruck gar nicht verbunden sind? Ließe sich das einfach als Freude an autoritären Spekulationen verstehen, die in jüngerer Zeit ohnehin immer breitere Kreise zieht? Und im Zusammenhang damit: Wie könnte der Geringschätzung Chinas begegnet werden, die sich im vergangenen Jahr doppelt zeigte: Als die Pandemie begann, haben sich Europa und Amerika in gewohnter Arroganz damit beruhigt, so völlig anders zu sein als Asien, dass dessen Probleme nicht unsere Probleme sein oder je werden könnten. Und als die Pandemie sich fortsetzte, meinte man, auf chinesische oder koreanische Formen der Krisenbewältigung nicht einmal interessehalber achten zu müssen, weil die hierzulande nicht zumutbar seien. All das schien uns mitleidlos, verächtlich und strategisch mindestens unklug, und dagegen gab es doch ein einfaches Mittel: Gespräch.


Sie schreiben, dass die Weltgesellschaft „kein Außen mehr abtrennt und kein Innen mehr isoliert“. Ist diese Definition so noch haltbar – in einer Zeit, in der wir Grenzen wieder schließen, Flüge verbieten, Grundrechte einschränken und über Impfnationalismus debattieren?

Lehmann und Heidingsfelder: Ganz sicher. Wäre dem nicht so, wären die Grenzschließungen kein Skandalon mehr und nicht einmal mehr Thema. Was wir aber offenbar schwer ertragen, sind Wohlstandslimitationen: Wir sind bereit, Grenzschließungen oder Flugverbote dann zu skandalisieren, wenn sie unseren Tourismus limitieren, aber nicht dann, wenn sie das Leben von Flüchtenden gefährden. Anfechtungen grundrechtlicher Art sind das für die Flüchtenden, nicht für die Touristen. Und das Ausgeliefertsein der nationalen Regierungen an Pharma- und Krankenhauskonzerne ist angesichts der Knappheit an Intensivbetten und Impfstoffen jetzt zwar endlich wieder einmal als Problem aufgefallen; neu ist es aber nicht. Dass es ein Fehler sein könnte, Krankenhäuser zu privatisieren und dann im Krisenfall kaum direkte Steuerungsmöglichkeiten zu haben, ist jedenfalls länger bekannt. Letztlich sind durch all diese älteren Strukturprobleme komplexe Verhandlungsprobleme entstanden, die zwar zeitlich aufwändig sind und in Kompromisse münden, die manchen enttäuschen werden, die aber doch keinerlei Grundrecht einschränken. Kompromisse sind die einzigen nachhaltigen Krisenbewältigungen, die wir kennen.


Die Pandemie, so erklären Sie, sei ein Hinweis auf die Implikationen vernetzter, inklusiver Globalität. Was meinen Sie damit – und vor allem: Was müssen wir daraus für die Zukunft unseres Zusammenlebens ableiten?

Lehmann und Heidingsfelder: Das Coronavirus begegnet uns ja im Modus mathematischer Erkenntnis, weil es (jedenfalls mit alltäglichen Mitteln) empirisch ungreifbar ist. Beschrieben wird es zwar mit Ansteckungs- und Überwältigungsvokabeln, die eine Verteidigungs- und Kampfrhetorik provozieren. Aber wir haben es mit einem Unsicherheitsquantum zu tun, das – wie jede Unsicherheit – keinen Bestand hat, sondern sich nur vernetzen kann. Das heißt: Es vernetzt sich im selben Moment, da es auftaucht; sein Wirt ist nicht eine Person, sondern eine Relation (eine Beziehung), so dass schon der Einzelfall eines solchen Unsicherheitsquantums zwei Relata (zwei Adressen) aktualisiert. Das ist Vernetzung. Soziologisch ist das ein relativ alter Hut, schon Spencer und Tarde diskutieren so etwas. Aber jetzt erst wird erfahrbar und hoffentlich mit der Zeit auch verständlich, was das heißt. Vielleicht muss einem Theorie wirklich auf den Leib rücken, damit man sie durchdenkt.


Besonders staatliches Handeln spielt in der Krise aktuell eine tragende Rolle – auch Sie sprechen die Ausdehnung eines organisationalen Alltags an, was „als Übergriff empfunden werden muss“. Aber brauchen wir nicht gerade die volle Härte und Organisation des Staates, um die Pandemie zu bekämpfen? Wir Menschen selbst sind da offenbar nicht in der Lage zu – sobald Lockdown-Regeln gelockert werden, klettern schließlich auch die Ansteckungen auf ein gefährliches Niveau.

Lehmann und Heidingsfelder: Das Schöne am organisationalen Alltag in Schulen, Firmen, Kirchen, Universitäten ist ja, dass nicht als Übergriff behandelt werden muss, was als Übergriff empfunden worden war – meistens war niemand Besonderes gemeint, sondern bloß Handlungsstärke demonstriert worden, das kann man dahingestellt sein lassen; oder man wartet ab, denn alles, auch der Übergriff, dauert so lange, dass bald vergessen ist, wer gemeint gewesen war. Man lässt es einfach ins Leere laufen, und an Leere mangelt es organisational nie. Das Blöde am organisationalen Alltag ist allerdings, dass er zu Ehrgeiz verführt; verschiedentlich motiviert er vermehrte Anstrengungen um Sichtbarkeit – und Krisen sind willkommene Gelegenheiten, dieses Theater aufzuführen. Teil dieses Theaters ist die Behauptung, dass die Leute ohne diese kämpferische Strenge über die Stränge schlagen und die Mäuse in Abwesenheit des Herrn auf dem Tisch tanzen würden. Dass dergleichen viel Aufmerksamkeit findet (zumal, wenn alle Welt sich so langweilt wie zurzeit), heißt nicht, dass es in beachtlicher Häufigkeit vorkommt. Unter Ausdrücken wie „die volle Härte“ kann sich doch eigentlich nur etwas ziemlich Lächerliches verbergen.


Sie erläutern, dass die Pandemie auch ein weltweiter „Test für die Praktikabilität digitaler Technik“ ist. Bestehen wir den Test – oder versagen wir gerade?

Lehmann und Heidingsfelder: Die Welt besteht ihn, das ist gar keine Frage. Welche gesellschaftlichen Konsequenzen das hat, diese Frage ist von weit größerem Interesse.


Sie loben, dass viele Autoren im Buch vor allem eine „Empirie der Wahrnehmung“ pflegen. Erachten Sie diese Form der Empirie für hilfreich oder sollten wir uns nicht wirklich nur dann äußern, wenn wir wissenschaftlich fundierte Belege für unsere Aussagen haben, um das Gros der Bevölkerung in solch bewegten Zeiten nicht weiter zu verunsichern?

Lehmann und Heidingsfelder: Mit solchem akademischen Elitarismus kommt man keiner Problembeschreibung und keiner Problemlösung auch nur einen Schritt näher. Jede Laborwissenschaft führt ein Journal, um die Wahrnehmungen zu notieren, aus denen sich mögliche Variationen des Forschungsdesigns ergeben können – man sieht eben mehr, als man zu sehen plant, und es kommt darauf an, diesen vermeintlich wertlosen Abfall als Ressource ernst zu nehmen. Unsicherheit ist im Übrigen (ihrer Instabilität wegen, die wir schon erwähnt haben) leichter wahrzunehmen, als zu verstehen. Alltäglich kann sie vielleicht vergessen werden (aber wer vergisst einen Blick, einen Schrei, eine Unruhe?), wissenschaftlich muss sie aufgezeichnet werden. Deswegen die Journale in den Labors, und deswegen unser Gesprächsstil. Wer in einer komplexen Welt beobachten und handeln will, wird die Wahrnehmungen würdigen müssen.


Und Sie verzichten auf eine Auflistung aller Namen und Kurzreferate im Buch. Haben Sie trotzdem eine Annäherung an das Thema gefunden, die Sie besonders begeistert hat?

Lehmann und Heidingsfelder: Das ist nicht erforderlich. Wissenschaft ist nicht begeisterungsaffin.

Zum Weiterlesen: „Corona – Weltgesellschaft im Ausnahmezustand?“


Titelbild: 

| Fusion Medical Animation / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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