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Mehr als eine Hülle
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Vortrag von Mirko Winkel

Mehr als eine Hülle

von Fabio Sommer | Freier Autor
15.11.2021
Man kann viel über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich anschaut, wie sie mit Verpackung und Müll umgeht.

Mirko Winkel
Bildender Künstler
 
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    Zur Person
    Mirko Winkel

    Mirko Winkel wurde in der DDR geboren und lebt in Berlin und Wien. Er studierte Bildende Kunst und Performance Kunst bei Marina Abramovic und Christoph Schlingensief und absolvierte ein Masterstudium in Solo/Dance/Authorship an der Universität der Künste und der HfS Ernst Busch Berlin.

    Seine recherchebasierten, vornehmlich kollaborativen Arbeiten sind sowohl Performances, Videos, Vorträge und Texte, aber auch Raumkonzepte, Ideen und Verbesserungsvorschläge. Er ist Mitbegründer der Freien Klasse Braunschweig (Theaterformen 2004, Elektropopklub 2005) und der Agentur Mysafir (9. Istanbul Biennale) und war Teil eines einjährigen theatralen Experiments am Gesamtwerk von Heiner Müller („Jenseits des Todes – HM3“, Wien 2006). Zusammen mit Doreen Uhlig entwickelte er die „Thesen zur Performance-Kunst“ (Life Art Festival Peking), mit Alex Gerbaulet entwickelte er einen Film über jugendliche Neonazis in einem ostdeutschen Gefängnis, mit Anat Eisenberg realisierte er eine begehbare Installation in einem Istanbuler Luxusapartment, die wiederum für das Münchner Volkstheater „Radikal jung 2014“ neu adaptiert wurde. In Co-Regie mit Martin Schick hat er für das Konzert Theater Bern eine Casting-Show entwickelt, in der die größten Schweizer Probleme gegeneinander antraten. Zurzeit entwickelt er einem Film über den Neubau des Brandenburger Parlaments in Gestalt des Potsdamer Stadtschlosses und konzipierte mit „Protein“ ein Magazin über das Altern. Seit drei Jahren unterrichtet er am Institut für Performative Künste und Bildung an der Kunsthochschule Braunschweig.

    Seit 2008 arbeitet er in den Produktionen Christoph Winklers in unterschiedlichen Funktionen mit.

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Der Besuch eines besonderen Gebäudes in San Francisco war es, der bei Mirko Winkel die Faszination für Verpackungen auslöste. Bei diesem Gebäude handelte es sich allerdings nicht um den ringförmigen Hauptsitz des Internetkonzerns Apple, dessen Verpackungen viele Menschen täglich mit Freude öffnen, oder um einen innovativen Unverpacktladen, in dem einem die sonstige Allgegenwart von Verpackungen erst durch ihre Abwesenheit bewusst wird. Mirko Winkel besuchte das „Columbarium“: ein Gebäude, in dem Urnen in vielen verschiedenen Farben und Formen aufbewahrt werden – also als „Verpackungen der Toten“ dienen. Diese Idee war es, die Winkel bei seiner Rückkehr nach Deutschland dazu bewegte, das „DeathLab“ in Berlin zu gründen. Dort setzte er sich näher mit der deutschen Sterbekultur auseinander und konzipierte als Teil des Künstlerkollektivs „Finale Form“ kreative Urnenlösungen.


Nach dieser einführenden Geschichte leitet der studierte Verpackungstechnologe Mirko Winkel zum Thema der industriellen Verpackungen über. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der Verpackung verrät: Ihre Funktionen wurden über die Jahre hinweg immer vielfältiger. Während Verpackungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur den Zweck von Schutz und besserer Haltbarkeit des Produktes erfüllten, kamen ab den 1950er-Jahren auch Kommunikationsfunktionen hinzu wie etwa das Branding durch Marken, die aktive Produktbewerbung und das Bereitstellen von mehr Informationen über den Verpackungsinhalt. Die Entwicklung weg von traditionellen Märkten hin zu Supermärkten und Discountern sowie die zunehmende Individualisierung im Konsumverhalten spielten dabei eine wichtige Rolle. Daher erfüllte die Verpackung ab den 1980er-Jahren auch Funktionen, um sie besser in den Regalen der Supermärkte platzieren zu können und sie „shelf-ready“ zu machen.

Heute dominieren neben dem E-Commerce vor allem Faktoren wie ressourcenschonende Produktion und Recyclingfähigkeit die Verpackungsindustrie. Doch auch das Erlebnis des Auspackens selbst – die berühmte „unboxing experience“ – beeinflusst das Verpackungsdesign heute stark (Stichwort Apple). Mirko Winkel weist dabei darauf hin, dass der meiste Verpackungsmüll hinter den Kulissen beziehungsweise Regalen der Supermärkte anfällt, nämlich in deren Zentrallagern. Denn dort würden die DIN-Paletten mit meterweise Stretchfolie eingewickelt, da sie andernfalls nicht von den Einzelhändlern akzeptiert werden.

„Man kann viel über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich anschaut, wie sie mit Verpackung und Müll umgeht“, sagt Mirko Winkel in seinem Vortrag. Genauso wie unsere Gesellschaft haben sich auch Verpackungen in den vergangenen hundert Jahren stark verändert. Denn an ihre Funktionalität wurden immer mehr Ansprüche gestellt. Heute müssen Verpackungen vor allem eine hohe Recyclingfähigkeit besitzen.
„Man kann viel über eine Gesellschaft erfahren, wenn man sich anschaut, wie sie mit Verpackung und Müll umgeht“, sagt Mirko Winkel in seinem Vortrag. Genauso wie unsere Gesellschaft haben sich auch Verpackungen in den vergangenen hundert Jahren stark verändert. Denn an ihre Funktionalität wurden immer mehr Ansprüche gestellt. Heute müssen Verpackungen vor allem eine hohe Recyclingfähigkeit besitzen.

Im letzten Abschnitt seines Vortrages geht Mirko Winkel auf Verpackungen in der DDR ein: „Der Sozialismus war das Paradies der Behelfsverpackungen.“ Da in der DDR Ressourcenmangel herrschte, stellte der Karton das primäre Verpackungsmaterial dar. Dieser musste zu mindestens zwei Drittel bedruckt sein, um kein Material zu verschwenden. Oft fanden sich spezielle Sprüche auf den Kartons, denn „über die Verpackung wurden die Werte der DDR transportiert“. Im „Freilichtmuseum der Entschleunigung“ – wie Mirko Winkel die DDR auch umschreibt – herrschten drei zentrale Kriterien, die auf Verpackungen anzuwenden waren: Standardisierung, Sparsamkeit und Wiederverwertbarkeit.


„Von diesen Kriterien können wir heute wieder lernen“, konstatiert Winkel. So waren die Verpackungen in der DDR „Einstoffverpackungen“, womit sie leichter produziert und wiederverwertet werden konnten. Heute bestehen die meisten Verpackungen aus vier bis fünf verschiedenen Materialien: Dadurch vereinen Verpackungen zwar die besten Eigenschaften der jeweiligen Materialien in sich, sind aber deutlich schwerer zu recyceln. Auch waren die Verpackungen in der DDR sehr zeitlos gestaltet und für deren Weiterentwicklung wurde auf das Feedback der Konsumentinnen und Konsumenten gehört.

Diese wurden beim Thema Verpackung auch auf andere Art und Weise miteinbezogen: So war es den Bürgerinnen und Bürgern möglich, alte Verpackungen und Wertstoffe an Stellen der „Sekundär-Rohstofferfassung“ (kurz SERO) abzugeben, die diese aufkaufte und für die Wiederverwendung bereitstellte. Für ein Kilo Wellpappe bekam man knapp 30 Pfennig und für ein Kilo „unsortierte Alttextilien“ 50 Pfennig. „Mit der SERO hat die DDR damals die weltweit höchste Recyclingquote in ihrem Wirtschaftskreislauf aufgewiesen, die bis heute keine andere Nation erreicht“, erläutert Winkel. Das lag unter anderem daran, dass das Sammeln von alten Verpackungen sehr spielerisch gestaltet wurde – etwas, das man heute vielleicht unter dem Begriff „Gamification“ verstehen würde.


Zum Schluss seines Vortrages kommt Mirko Winkel noch einmal auf die heutige Situation zu sprechen, in der das Thema Nachhaltigkeit die Verpackungsindustrie dominiert. Das liege auch an den hohen Regularien, die die EU in den vergangenen Jahren für Verpackungen beschlossen hat. So sollen in Zukunft etwa Kronkorken nicht mehr einzeln von den dazugehörigen Flaschen abnehmbar sein, damit sie nicht einfach in die Natur geworfen werden können. „Bei diesen Maßnahmen steht allerdings primär die ökologische und weniger die soziale oder ökonomische Nachhaltigkeit im Vordergrund“, bemerkt Winkel. Verpackungshersteller hätten zum Teil Probleme, den hohen Anforderungen der EU in so kurzer Zeit nachzukommen. Das zeigt, dass auch die EU primär an den Abfallaspekt von Verpackungen denkt. Doch Mirko Winkel hat in seinem Vortrag gezeigt: Sie sind viel mehr als das.

Titelbild: 

| Karina Tess / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

| Fabio Sommer / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)


Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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