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Dr. Gregor Gysi, geboren am 16. Januar 1948 in Berlin; konfessionslos; geschieden; drei Kinder, ist Mitglied des Bundestages für die Partei DIE LINKE. Von 1962 bis 1964 Ausbildung zum Facharbeiter für Rinderzucht; 1966 bis 1970 Studium der Rechtswissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin mit dem Abschluss als Diplom-Jurist; 1970 und 1971 Ausbildung als Richterassistent an Gerichten in Berlin; 1971 Ausbildung als Praktikant im Kollegium der Rechtsanwälte in Berlin, Aufnahme in das Kollegium und Zulassung als Rechtsanwalt am 1. November 1971; 1970 bis 1974 außerplanmäßige Aspirantur an der Humboldt Universität zu Berlin mit dem Abschluss als Doktor Juris. Seit 1971Tätigkeit als Rechtsanwalt.
Im Dezember 1989 war Gysi Vorsitzender der SED (eine Woche), Vorsitzender der SED-PDS (sechs Wochen) und dann Vorsitzender der PDS. Seit 18. März 1990 Mitglied der Volkskammer und Fraktionsvorsitzender; seit 3. Oktober 1990 Mitglied des Bundestages; 1990 bis 1998 Vorsitzender der Abgeordnetengruppe der PDS; 1998 bis 2000 Vorsitzender der Fraktion der PDS. Mitglied im Bundestag bis 2002; Abgeordneter des Berliner Abgeordnetenhauses und Bürgermeister und Senator für Wirtschaft, Arbeit und Frauen in Berlin; August 2002 Rücktritt als Bürgermeister und Ausscheiden aus dem Berliner Abgeordnetenhaus; seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages; 2005 bis 2015 Fraktionsvorsitzender der PDS und ab 2007 der Partei Die Linke; außenpolitischer Sprecher der Fraktion und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses.
Gysi ist Mitglied der Gewerkschaft ver.di und des politischen Beirates des Bundesverbandes der mittelständischen Wirtschaft sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Den 24. Februar 2022 – das Datum, an dem Wladimir Putin den Einmarschbefehl in die Ukraine gab – bezeichnet Gregor Gysi als einen „schwarzen Tag für Europa und die Welt“. Zwar habe auch der Westen in den vergangenen Jahren in den Beziehungen zu Russland einiges versäumt, doch „keiner der Fehler von NATO und Co. rechtfertigt diesen Angriffskrieg“.
Kritik übt der Linken-Politiker auch an der deutschen Reaktion auf den nun ausgebrochenen Krieg. In erster Linie am kürzlich beschlossenen „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro zur Aufrüstung der Bundeswehr, womit knapp ein Viertel des deutschen Bundeshaushaltes in das Militär fließen wird. „Aber mehr Investitionen beseitigen nicht die Gefahren“, sagt Gysi. Die NATO investiere mehr als zehnmal so viel Geld in Rüstung und Militär wie Russland und trotzdem kam es zum Krieg. Ebenfalls kritisiert er die deutschen Waffenlieferungen in die Ukraine, denn Deutschland stehe in einer historischen Verantwortung: Beim Angriff von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg verloren mindestens 24 Millionen sowjetische Bürgerinnen und Bürger ihr Leben. Daher sollten im Ukraine-Konflikt keine Menschen mit deutschen Waffen getötet werden. Zum Ende seiner einleitenden Ausführungen gesteht Gregor Gysi ein, dass auch er den Angriffskrieg lange Zeit nicht für möglich gehalten hatte.
Ebenso wenig hielt er die Geschwindigkeit für möglich, mit der sich die Digitalisierung als „neue technische Revolution“ in den vergangenen Jahren vollzogen hat: „Die Entwicklung geht so rasant vor sich, dass keiner überschauen kann, was in einem Zeitraum von zehn Jahren wirklich passiert.“ Als Beispiel für diese rasante Entwicklung führte Gysi die Innovationsschübe in der Halbleiterindustrie an: Alle drei Jahre würden dort komplett neue Standards gesetzt. Damit bezieht er sich auf ein Phänomen, das in Fachkreisen als das „Mooresche Gesetz“ bekannt ist. Ursprünglich besagt dieses, dass sich die Anzahl an Transistoren, die in einen integrierten Schaltkreis festgelegter Größe passen, alle zwei Jahre verdoppelt. Heute allerdings ist eine Variation dieses Gesetztes weit verbreiteter, nach der sich die verfügbare Rechenkapazität, die man für 1.000 US-Dollar erwerben kann, alle 18 Monate verdoppelt.
Doch unabhängig von der verwendeten Variation zeigt das „Mooresche Gesetz“ eines sehr deutlich: Die Entwicklung ist ungebremst. Daran anknüpfend weist der Linken-Bundestagsabgeordnete auch auf eine Verschärfung des demografischen Problems hin: Denn wie lange ältere Menschen, zu denen er sich selbst zählt, mit den digitalen Entwicklungen Schritt halten können, sei fraglich.
Wenn die fulminanten Fortschritte in der Halbleiterindustrie nun den Digitalisierungsprozess beschleunigen, liegt es nahe, dass auch die Digitalisierung selbst mit Beschleunigungsprozessen einhergeht. Und diese sieht Gregor Gysi im eigentlichen Vortragsthema: Denn „die Digitalisierung beschleunigt und vertieft die Globalisierung“. Um das zu veranschaulichen, bezieht er sich erneut auf die Ukraine-Krise: „Man kann noch so viele Sanktionen treffen, sie treffen auch immer einen selbst.“ Das Beispiel des nur teilweisen Ausschlusses russischer Banken vom SWIFT-System zeige das deutlich. Denn die Sberbank, die größte russische Bank, sowie die Gazprombank bleiben vorerst im System, da viele EU-Länder – darunter auch Deutschland – über diese Banken die Zahlungen der Energielieferungen aus Russland abwickeln, von denen sie besonders abhängig sind.
Doch Gregor Gysi fasst nicht nur die finanziellen Abwicklungen, sondern auch die wirtschaftlichen Entwicklungen der globalisierten Welt ins Auge: „Politik steht überall vor der Frage, wie sie die Macht der weltumspannenden Konzerne begrenzen kann.“ Doch anstatt gemeinsam Bemühungen anzustellen, das Primat der Politik wieder zu etablieren, passiere aktuell gerade das Gegenteil: Nationalstaaten konkurrieren untereinander, Unternehmen den attraktivsten Standort zu bieten, indem sie etwa mit niedrigen Steuersätzen oder mit einem unternehmerfreundlichen Arbeitsrecht locken.
Letztlich habe die Digitalisierung ein weiteres globales Phänomen hervorgebracht: die Schaffung eines globalen Lebensstandards. Der Linken-Politiker betont, dass wir in Europa in den vergangenen Jahrzehnten so gut haben leben können, „weil die Menschen in Afrika gar nicht wussten, wie wir lebten“. Doch die Digitalisierung hat das geändert: Heute sind Bilder und Videos vom Lebensstil von Menschen am anderen Ende der Welt nur einen Fingertipp entfernt. Daher sollten wir uns auch nicht wundern, wenn sich etwa ein afrikanischer Ingenieur dreimal überlegt, ob er seinen Beruf nicht lieber in Europa oder anderen wohlhabenden Teilen der Welt ausübt. Aus diesem Punkt leitet Gregor Gysi ab: „Wenn man die Zahl der Flüchtlinge wirksam begrenzen will, dann müssen wir die Fluchtursachen effektiv beseitigen“ – Abschottung und Deals mit der Türkei seien da keine Lösung.
Überhaupt können die Aufgaben, vor denen die globalisierte Welt in diesem Jahrhundert steht, nur gemeinsam und ohne nationalen Egoismus gelöst werden. Dabei setzt Gregor Gysi voll und ganz auf die junge Generation im Publikum: dass sie dieses falsche Denken vom nationalen Egoismus überwindet, dass sie stattdessen international denkt und damit die kommenden Probleme bewältigt. „Aber Sie müssen sich anstrengen“, so Gysi. „Und vergessen Sie nie: Die Sache immer wichtiger nehmen als sich selbst!“
Titelbild:
| Anne Nygård / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Max Roser und Hannah Ritchie / Our World in Data (CC-BY 4.0) | Link
| Nicolas Bühringer / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm