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Interview mit Florian Muhle

Wie wird auf dem Fußballplatz kommuniziert?

von Sebastian Paul
22.06.2023
Zunächst einmal haben wir herausgefunden, dass Protest und Einflussversuche tatsächlich Standard und nicht die Ausnahme sind. Gleichzeitig haben Schiedsrichter:innen durch ihre Art des Game Managements ebenso wie die Teamverantwortlichen durchaus Einfluss darauf, inwiefern sich das Konfliktpotenzial zwischen Teams und Schiedsrichter:innen mehr oder weniger stark entfaltet.

Prof. Dr. Florian Muhle
Lehrstuhl für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Digitale Kommunikation
 
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Herr Muhle, sitzen Sie eigentlich jeden Samstagnachmittag lautstark schreiend vor dem Fernseher und beschimpfen beim Bundesligaschauen Schiedsrichter:innen?


Prof. Dr. Florian Muhle: Nein, so dürfen Sie sich meine Wochenendgestaltung nicht vorstellen. Tatsächlich schaue ich in der Regel nur am Samstagabend die Zusammenfassungen der Spiele in der Sportschau. Ganz selten bin ich auch im Stadion zu finden. Über Schiedsrichter:innen rege ich mich dabei aber nicht auf – eher über die anderen Beteiligten, die mit allen Mitteln versuchen, die Schiedsrichterentscheidungen zu beeinflussen. Das Publikum zähle ich hier durchaus dazu.


Wie kommt man denn sonst darauf, zu untersuchen, mit welcher Kommunikation Schiedsrichter:innen ihre Entscheidungen auf dem Rasen durchsetzen?


Muhle: Dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich bin Kommunikationsforscher. Also gehört auch die Schiedsrichterkommunikation zu meinem Forschungsbereich. Auf die Idee, mich mit dieser zu befassen, bin ich aber tatsächlich durch einen Kollegen gekommen, Justus Heck, der sich wissenschaftlich mit Vermittlung und Streitschlichtung befasst und sich in diesem Zusammenhang auch für Schiedsrichter:innen interessiert.


Ursprünglich hat er mich als Informant befragt, weil ich in meiner Freizeit in einer selbstorganisierten Fußballliga ohne Schiris spiele und er gerne Fußball mit und ohne Schiedsrichter:innen vergleichen wollte. Aus dem Gespräch ist dann ein gemeinsames Interesse gewachsen. Befördert wird dies noch dadurch, dass ich in meiner Jugend selbst Schiedsrichter und Schiedsrichterassistent war und daher weiß, mit welchen Situationen die Regelhüter:innen jedes Wochenende konfrontiert sind. Dies trägt übrigens dazu bei, dass ich selbst nicht gerne über Schiris schimpfe, da ich mich gut in ihre Situation versetzen kann.


Fangen wir bei den Grundlagen an: Welche Rolle spielen Schiedsrichter:innen für ein Fußballspiel?


Muhle: Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Die offizielle Antwort lautet: Die Aufgabe des Schiedsrichters ist es, die Spielregeln beim Spiel durchzusetzen. (Konflikt-)Soziologisch haben Schiedsrichter:innen aber auch noch eine andere Aufgabe: Sie haben dafür zu sorgen, dass die Konkurrenz zwischen den Teams, die um den Sieg ringen, nicht in einen offenen Konflikt umschlägt.


Paradoxerweise gelingt dies wesentlich dadurch, dass das Konfliktpotenzial zwischen den Teams durch die Anwesenheit von Referees entschärft und stattdessen auf das Verhältnis zwischen Teams und Schiedsrichter:innen verschoben wird. Denn wenn es Schiedsrichter:innen gibt, sind nicht mehr Regelverstöße das Problem. Problematisch wird es, wenn Schiris Vergehen übersehen, nicht ahnden oder mit ihren Entscheidungen falsch liegen. Damit verbunden werden die konkurrierenden Parteien durch die Institutionalisierung des Schiedsrichters von der Verantwortung für die Einhaltung der Regeln weitgehend entbunden.


Und dies hat nicht intendierte Folgen. So trägt die Institution des Schiedsrichters systematisch zu einer „moralischen Entfesselung der Spieler“ bei, wie mein Kollege Justus Heck in einem schönen Aufsatz mit dem Titel „Die Angst des Schiris vor dem Elfmeter. Zur Interaktionssoziologie des Fußballspiels“ geschrieben hat. Sie befriedet zwar ein Stück weit die direkte Konkurrenz zwischen den Teams, sorgt aber gleichzeitig dafür, dass unfaires Verhalten wahrscheinlich wird, während Schiedsrichterentscheidungen mit Protest und Ablehnung rechnen müssen.


Für Ihr Verständnis von Schiedsrichter:innen und der Kommunikation ihrer Entscheidungen spielt Georg Simmel eine wichtige Rolle. War dieser Fußballer – oder wie genau hilft er Ihnen bei den theoretischen Grundlagen für Ihre Arbeit?


Muhle: Ich weiß nicht, ob Georg Simmel sich für Fußball interessiert hat. Explizit über Fußball geschrieben hat er meines Wissens jedenfalls nicht. Simmel hat sich aber für verschiedene soziale Formen interessiert, darunter auch für Konkurrenz und Konflikt. Daher sind seine Überlegungen aufschlussreich für die soziologisch orientierte Analyse des Fußballs. Zudem hat Simmel sich mit der transformierenden Wirkung von Dritten in sozialen Beziehungen beschäftigt.


Zu diesen Dritten gehören auch Schiedsrichter:innen, die einerseits neutrale Dritte sind, andererseits aber auch mit jeder Entscheidung Partei ergreifen. Dies unterscheidet sie etwa von Mediator:innen, die ebenfalls neutrale Dritte sind. Denn eine Entscheidung auf Foul ist ja immer eine Entscheidung für die eine und gegen die andere Mannschaft. Wenig verwunderlich führt dies dazu, dass die um den Sieg konkurrierenden Teams jeweils versuchen, mit lauteren und unlauteren Mitteln die Schiedsrichter:innen auf ihre Seite zu ziehen, um auf diese Weise einen Vorteil gegenüber ihren direkten Konkurrenten zu erlangen.


Simmel hat diesen Aspekt bereits erkannt, der uns heute verständlich macht, warum Täuschen, Schimpfen und Protestieren im Rahmen von Fußballspielen erwartbar zum Repertoire von Spieler:innen, Verantwortlichen und Fans gehören.


Das heißt also, Fußballspiele sind darauf angelegt, dass beide Mannschaften Schiedsrichter:innen anpöbeln?


Muhle: In gewisser Weise könnte man dies so sagen, ja. Ich würde es aber etwas anders ausdrücken: Die Struktur des schiedsrichtergeführten Fußballs macht es systematisch wahrscheinlich, dass im Laufe von Spielen Konflikte zwischen Schiris und Teams entstehen – und gelegentlich sogar eskalieren.


Und wie kann man diese Erkenntnisse jetzt in der Praxis nachweisen?


Muhle: Wir sehen dies ja an jedem Wochenende auf den Fußballplätzen des Landes und kennen die Erfahrungsberichte von Schiedsrichter:innen, die regelmäßig Beschimpfungen, Beleidigungen und manchmal sogar Gewalttätigkeiten aushalten müssen. Der genaue Blick, den wir in unserer Untersuchung von Mikroprozessen problematischer Regeldurchsetzung im Fußball gewagt haben, zeigt darüber hinaus, dass wirklich fast jede Schiedsrichterentscheidung Protestkommunikation nach sich zieht und gleichzeitig Spieler:innen schon in unteren Ligen versuchen, Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. Um dies herauszufinden, haben wir Referees im Amateurbereich mit Funkmikrofonen ausgestattet und die Spiele audiovisuell aufgezeichnet. So konnten wir detailliert nachvollziehen, was auf dem Platz über 90 Minuten gesprochen wird.


Aber reagiere ich dann nicht „sozial erwünscht“, wenn ich ein Funkmikrofon trage und mich mal 90 Minuten am Riemen reiße?


Muhle: Das kann ganz zu Beginn eines Spiels durchaus der Fall sein. Aber solche Voreinstellungen legen sich im Eifer des Gefechts schnell wieder. Zudem zeigen unsere Daten, dass auch bei den aufgenommenen Spielen Protest und Versuche der Einflussnahme auf Schiris durchgängig vorkamen.


Sie haben genau das ausgetestet. Was haben Sie bei Ihren Feldversuchen herausgefunden?


Muhle: Wie bereits erwähnt, haben wir zunächst einmal herausgefunden, dass Protest und Einflussversuche tatsächlich Standard und nicht die Ausnahme sind. Gleichzeitig haben Schiedsrichter:innen durch ihre Art des Game Managements ebenso wie die Teamverantwortlichen, die zur Beruhigung aber auch zur Erregung der Gemüter beitragen können, durchaus Einfluss darauf, inwiefern sich das Konfliktpotenzial zwischen Teams und Unparteiischen mehr oder weniger stark entfaltet.


Lässt sich daraus zum Beispiel ableiten, wie perfekte Schiedsrichter:innen ihre Entscheidungen kommunizieren sollten?


Muhle: Hierzu ist noch viel Forschung notwendig. Grundsätzlich scheint es aber ratsam, dass Schiedsrichter:innen eine gewisse Entscheidungssicherheit demonstrieren, um Einflussversuchen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zugleich sollten sie ihre Entscheidungen offensiv kommunizieren. Dies zeigt auch der Blick in andere Sportarten. Wenn Schiris ihre Entscheidungen erklären, werden diese eher akzeptiert, als wenn sich die Unparteiischen unnahbar geben.


Wollen Sie dieses Thema weiter erforschen – und vielleicht bald die ganze Bundesliga verkabeln, abhören und analysieren?


Muhle: Grundsätzlich bleibt das Thema spannend. Mit meinem Schwerpunkt auf Digitale Kommunikation wäre es natürlich toll, sich im Profifußball genauer die Kommunikation mit den VAR anzuschauen, um zu rekonstruieren, wie Entscheidungsfindung im durch und durch mediatisierten Fußball erfolgt. Ich fürchte nur, dass der DFB kein großes Interesse hätte, die Black Box der VAR-Kommunikation zu öffnen.

Titelbild:

| ZU/Samuel Groesch

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