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Professor Dr. Karen van den Berg hat den Lehrstuhl für Kulturtheorie und inszenatorische Praxis an der Zeppelin Universität inne. Sie studierte Kunstwissenschaft, Klassische Archäologie und Nordische Philologie in Saarbrücken und Basel, wo sie auch promovierte. Von 1993-2003 war sie Dozentin für Kunstwissenschaft am Studium fundamentale der Privaten Universität Witten/Herdecke. Seit 1988 realisiert sie als freie Ausstellungskuratorin zahlreiche Ausstellungsprojekte in öffentlichen Räumen und in Kunstinstitutionen – zuletzt mit den Ausstellungsreihen „Politics of Research“ und „Pari Mutuel“ im Flughafen Berlin Tempelhof.
Ihre Forschungsschwerpunkte sind Theorie des Inszenierens und Ausstellens; Kunst und Öffentlichkeit; Kunstvermittlung und Politik des Zeigens; Kunst und Emotionen (insbesondere Kitsch und Schmerz); Rollenmodelle künstlerischen Handelns; Altern und künstlerische Alterswerke; Soziale Effekte von Bildungsarchitekturen.
Lana del Rey ist der Künstlername von Elizabeth Woolridge Grant. Die US-amerikanische Sängerin wurde 1986 in New York geboren. Als Teenager war sie alkoholabhängig und musste mit 14 zum Entzug auf ein Internat. In New York studierte sie ab ihrem 18. Lebensjahr Philosophie und arbeitete als Sozialarbeiterin. Ihre musikalische Karriere begann sie mit 17 und trat unter verschiedenen Pseudonymen auf. Ihren Durchbruch erreichte sie 2010 mit „Born to Die“. In Deutschland wurde sie mit ihrem Song „Videogames“ Ende 2011 bekannt, der innerhalb eines Monats über eine Million Aufrufe auf Youtube erreichte. An Lana del Rey scheiden sich die Geister: Für die einen ist sie eine unechte Kunstfigur, für die anderen ein authentisches Do-it-yourself Girl.
Das Video zu „Ride“ wurde im Oktober 2012 veröffentlicht und spielt in Nevada. Kritiker bezeichneten das Video als prostitutionsverherrlichend und frauenfeindlich.
Der Begriff White Trash reicht bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück. Manchen Quellen zufolge wurden so Weiße bezeichnet, die keine Sklaven hatten. Anderen Quellen zufolge wurden weiße Dienstboten so bezeichnet.
Von 1880 bis 1920 wurden in den USA sogenannte „eugenische Familienstudien“ durchgeführt, in denen Forscher an armen Weißen in ländlichen Gebieten angeblich genetische Defekte festgestellt haben. Diese Studien beeinflussten die Sozialpolitik Anfang des 20. Jahrhunderts und wurden von konservativen Politikern als Propagandamaterial missbraucht. Wegen des Gebrauchs dieser Theorien durch die Nazis wurden sie in den USA als wissenschaftliche Theorie zwar aufgegeben, die Stereotype über arme Weiße in ländlichen Gegenden haben sich jedoch gehalten.
Die Begriffe Cracker, Hillbilly, Okie und Redneck überschneiden sich im Sprachgebrauch mit White Trash. Bei den erst genannten wird jedoch hauptsächlich eine Verbindung zu Armut und schlechter Bildung hergestellt, während die Bezeichnung White Trash die Betonung auf unmoralisches Verhalten der Person legt.
Trailer Parks sind Wohnwagensiedlungen in den USA. Trailer Trash ist die abwertende Bezeichnung für dort lebende Menschen, die meist aus finanziellen Gründen diese günstige Art des Eigenheims gewählt haben. Die britische Zeitung Daily Mail berichtete in einer Photoreportage über den ärmesten Teil der USA, dem Appalachian county in Kentucky. 41,5 Prozent der dortigen Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, viele davon wohnen in Trailer Parks.
Sie zückt einen Revolver und schmiegt sich an ältere Männer auf schweren Motorrädern. Die im letzten Jahr kometenhaft aufgestiegene Sängerin Lana del Rey bedient sich im jüngst erschienenen Musikvideo zu ihrem Lied „Ride“ vieler Klischees. Kommerziell, retro und wenig einfallsreich – so bezeichnen viele Lana del Rey‘s gleichnamiges Video. Und in vielem gibt Professor Dr. Karen van den Berg den Kritikern recht. Dennoch hält sie das Werk aktueller Popkultur gleichwohl für bemerkenswert. „Die Selbstinszenierung von Lana del Rey ist höchst irritierend. Einerseits stellt sie sich als Mischung aus Prostituierter und verlorenem Straßenkind dar; andererseits tritt sie als glamouröse Pop-Diva der 60er auf.“ In dem Video bezieht sich del Rey immer wieder auf die amerikanische Unterschicht – genauer White Trash, stellt diese aber in einem anderen Licht dar, als es sonst im Musikbusiness üblich ist. Gleichzeitig ist das Stück im Mainstream beheimatet und sagt damit viel aus über die Gesellschaft, die es hört.
White Trash ist ein Schimpfwort, das von der amerikanischen Mittel- und Oberschicht als Beschreibung der weißen Unterschicht benutzt wird. Laut den Kulturwissenschaftlern Annalee Newitz und Matt Wray legt der Begriff den amerikanischen Hass auf „die Armen“ offen. Er zeigt die Angst und die Aggressivität, der den amerikanischen Mythos der Klassenlosigkeit untermauert. Wer White Trash sagt, geht davon aus, dass Weiße grundsätzlich kulturell, intellektuell und damit auch materiell überlegen sind. Mit White Trash bekommen die „anderen Weißen“ – die bestimmten Normen entgegenstehen – einen Namen.
White Trash ist demnach eine beleidigende Bezeichnung für sozial schwache Weiße, die voraussetzt, dass alle Mitglieder dieser Gruppe ähnliche Eigenschaften verbinden. Dabei wird der Begriff unterschiedlich gefüllt. Für die einen ist es eher eine innere Einstellung, die Lebenswandel, Bildung und Intellekt der so Bezeichneten beschreibt. White Trash wäre somit auch nicht von materiellem Wohlstand abhängig. In diesem Verständnis gelten Paris Hilton oder Britney Spears als Beispiele dafür, dass White Trash auch reich sein kann.
Allerdings gehen die meisten Definitionen davon aus, dass White Trash ungebildet ist, und als Bezieher von niedrigen Einkommen in Wohnwagensiedlungen, sogenannten Trailer Parks, lebt. Gemäß dem Vorurteil ist White Trash auch noch ungepflegt, gibt überschüssiges Geld eher für Flachbild-Fernseher als Kinderkleidung aus, hat ein loses Mundwerk und streitet gerne laut und öffentlich.
Karen van den Berg sieht in Lana del Rey‘s „Ride“ klare Verbindungen zum White Trash Stereotyp. Diese würden bei der Kleidung der Sängerin beginnen, gingen über Szenen, in denen sie gelangweilt und rauchend an einer Tankstelle warte, bis hin zu Beziehungen zu offensichtlich wesentlich älteren, schwitzenden, übergewichtigen Männern der Unterschicht.
Dabei ist es nichts Neues, dass die Unterschicht in Liedtexten und Musikvideos auftaucht. Man denke nur an die vielen Beispiele aus dem Hip Hop, in denen Musiker das Leben inmitten von Armut, Arbeitslosigkeit, Verzweiflung, Gewalt und Drogen ungeschminkt darstellen. Doch genau darin sieht van den Berg den Unterschied zu Lana del Rey: „Hip Hop Künstler treten als rebellische Stimmen der Outcasts auf und prangern soziale Missstände an. Del Reys Bilder sprechen eine andere Sprache, sie kreieren eine lasziv-naiv romantische Melancholie.“ Lana del Rey zeige die Unterschicht zwar einerseits in Momenten gelangweilter Bedeutungslosigkeit, gleichzeitig lädt sie sie mit dem Versprechen von Freiheit und Glück auf. Das passiert durch Szenen mit Motorradfahrern, die stark an Road Movies wie „Easy Rider“ erinnern. „Damit bringt sie die weiße Unterschicht mit den Mythen des freien, ungebundenen Biker Lebens zusammen und erkennt ausgerechnet hierin den amerikanischen Traum vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten wieder“, sagt Karen van den Berg.
Die Unterschicht wird nicht als problembehaftetes Milieu dargestellt. „White Trash verspricht bei Lana del Rey Freiheit, Glück und Authentizität. Das Mädchen der Mittelschicht sucht Zuflucht am Rand der Gesellschaft. Die Idee vom Wärmestrom der Unterschichten, von dem Ernst Bloch einst sprach, erfährt hier eine Art Revival. Dort wird das abgeholt, was längst verloren geglaubt wurde: Das echte, pure Leben. Die großen existentiellen Erfahrungen, die nicht korrumpiert sind von Karriereambitionen und Selbstoptimierung“, so van den Berg.
Im Vorspann von „Ride“ sagt del Rey „I was always an unusual girl. My mother told me I had a chameleon soul, no moral compass pointing due north, no fixed personality [...] I was born to be the other woman. I belonged to no one, who belonged to everyone.“ So führt Lana del Rey ihre Sehnsucht ein. Elizabeth Woolridge Grant , das ist der bürgerliche Name der Künstlerin, die sich Lana del Rey nennt, ist selbst ein Kind der Mittelschicht, hat Philosophie in New York City studiert. Aber sie war eben auch schon als Teenager auf Alkoholentzug und zog mit zwanzig Jahren in einen Trailer Park. Der Huffington Post sagte sie in einem Interview, dass sie sich vor ihrem Leben im Trailer Park wie gefangen gefühlt hätte, im Trailer Park sei sie jedoch frei gewesen: „Ich hätte kaum glücklicher sein können, vorher hatte ich immer nur von Flucht geträumt.“
Wenn Mainstream Musik den Geschmack und die Sehnsüchte der Massen bedient, sagt ihr Inhalt etwas über die Gesellschaft aus. Und genau darin ist van den Bergs Interesse an Lana del Rey begründet. Für die Wissenschaftlerin zeigt die Gesellschaft hier ein neues ästhetisches Interesse an der Unterschicht. Und das sei kein voyeuristisches, sondern lege vielmehr die Sehnsüchte nach Authentizität einer spätkapitalistischen Arbeitsgesellschaft offen, in der Emotionen längst zum Gegenstand der kapitalistischen Logik geworden seien. Van den Berg: „Meine These ist, dass das Interesse an gesellschaftlichen Außenseitern und Unterprivilegierten von der Sehnsucht genährt wird, der allgegenwärtigen Logik des Kapitalismus zu entfliehen.“ Für die Mittelschicht stellt das Leben der Unterschicht laut van den Berg plötzlich nicht mehr nur ein sogenanntes Worst-Case-Abstiegs-Szenario dar. Sie wird zur möglichen Alternative eines auf die existentiellen Bedürfnisse und Gefühle konzentrierten und wahren Lebens.
Bild: Universal Music Group