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Die Traumfabrik des Staatsrechts
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Fiskalpolitik

Die Traumfabrik des Staatsrechts

von Professor Dr. Georg Jochum | Zeppelin Universität
08.09.2012
Auf Basis der bisherigen Erfahrungen kann festgehalten werden, dass jede verfassungs- rechtliche Regel hinsichtlich des Staatshaushaltes von dem Willen der Politiker abhängig ist, die verfas- sungsrechtlichen Forderungen zu erfüllen.

Professor Dr. Georg Jochum
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Georg Jochum

    Professor Dr. Georg Jochum ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Steuer- und Europarecht und Recht der Regulierung. Seine Schwerpunkte liebgen bei europäischem Gemeinschaftsrecht und dort speziell dem Finanz- und Währungsrecht.

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    AUF

    Dieser Artikel ist in AUF, dem Magazin für Zwischenfragen der Zeppelin Universität, in Papierversion zu lesen.
    #03 beschäftigt sich mit "Bürger. Macht. Staat?"

    Zwischenfrage an Georg Jochum

    Warum sind eigentlich Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes zum staatlichen Finanzgebaren so wirkungslos?

    Jochum: Der Haushalt wird jährlich aufgestellt und verabschiedet. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet oftmals erst, wenn der Haushalt längst vollzogen ist. Aber selbst wenn ein Haushalt durch das Bundesverfassungsgericht gestoppt würde, so müssten gesetzliche Verpflichtungen weiter erfüllt werden, so dass auch dieser Effekt nur sehr gering ist. Schließlich bleibt das Ganze auch ohne unmittelbare Konsequenzen für die handelnden Personen.

    Welche Wirksamkeit räumen Sie aus den bisherigen rechtlichen Erfahrungen der Schuldenbremse ein?


    Jochum: Um ehrlich zu sein nur eine sehr geringe. Die Schuldenbremse ist in Kraft. Die Übergangsphase ist zwar noch nicht abgeschlossen, doch die Übergangsphase erlaubt nur Ausnahmen von der Regel. Die Politik könnte die Schuldenbremse derzeit so leicht einhalten wie selten. Es herrscht ein Boom. Die Bundesrepublik verschuldet sich trotzdem weiter, obwohl zurzeit eigentlich Überschüsse produziert und die Schulden abgebaut werden müssten. Stattdessen schafft man mit dem Betreuungsgeld neue Ausgaben, die künftige Haushalte binden. Wenn es aber bereits in guten Zeiten an einem Willen fehlt, wird das Recht allein nicht viel ausrichten können.

    Zwischenfrage an Georg Jochum

     Welche Wirksamkeit räumen Sie aus den bisherigen rechtlichen Erfahrungen der Schuldenbremse ein?

    Jochum: „Um ehrlich zu sein nureine sehr geringe. Die Schuldenbremse ist in Kraft. Die Übergangsphase ist zwarnoch nicht abgeschlossen, doch die Übergangsphase erlaubt nur Ausnahmen von der Regel. Die Politik könnte die Schuldenbremse derzeit so leicht einhalten wie selten. Es herrscht ein Boom. Die Bundesrepublik verschuldet sich trotzdem weiter, obwohl zurzeit eigentlich Überschüsse produziert und die Schulden abgebaut werden müssten. Stattdessen schafft man mit dem Betreuungsgeld neue Ausgaben, die künftige Haushalte binden. Wenn es aber bereits in guten Zeiten an einem Willen fehlt, wird das Recht allein nicht viel ausrichten können.

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Denn exzessive öffentliche Schulden sind nichts Neues. Schon im alten Rom waren sie ein Problem. So forderte im Jahr 55 v. Chr. Cicero in einer seiner Reden, dass das Budget ausgeglichen sein sollte und die öffentlichen Schulden reduziert
werden müssten (2). 2000 Jahre sind seitdem vergangen und die öffentlichen Schulden sind nicht verschwunden. Diese Erfahrung stimmt nicht gerade optimistisch, was den jüngsten Versuch betrifft, öffentliche Schulden durch verfassungsrechtliche Maßnahmen einzugrenzen. 

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Wie entwickelte sich die öffentliche Verschuldung in Deutschland in Beziehung zum verfassungsrechtlichen Rahmen?

Wenn wir die Entwicklung der öffentlichen Verschuldung der Bundesrepublik Deutschland betrachten, so können zwei Perioden festgestellt werden, welche mit verfassungsrechtlichen Maßnahmen korrespondieren, die durch den volkswirtschaftlichen Zeitgeist inspiriert wurden. Die erste Periode reicht bis 1969. In dieser Zeit wuchs die Staatsverschuldung nicht sonderlich stark. Zwar beträgt die Steigerung prozentual 600 Prozent, wenn man auf die absoluten Zahlen schaut. Betrachtet man die Zahlen allerdings in Relation zum Bruttosozialprodukt, so ist der Anstieg nur sehr langsam von 19 Prozent auf 21 Prozent des Bruttosozialprodukts. Die zweite Periode beginnt 1969 und ist durch ein starkes Wachstum der Schulden geprägt. Von 1969 bis 2009 stieg die Staatsverschuldung von 21 auf 73 Prozent des Bruttosozialprodukts; in absoluten Zahlen beträgt die Steigerung 27.952 Prozent. Dabei ist festzustellen, dass diese Entwicklung mit einem Wechsel des verfassungsrechtlichen Rahmens korrespondiert.

Die erste Periode reicht vom Ende des Krieges und endet mit der ersten Wirtschaftskrise nach dem Krieg im Jahr 1964. In dieser Zeit des Wirtschaftswunders waren die Regierungen sehr restriktiv im Hinblick auf schuldenfinanzierte Haushalte. Der Anstieg der Staatsverschuldung in den fünfziger Jahren war vor allem durch die Übernahme der Schulden des Deutschen Reiches durch die Bundesrepublik im Rahmen des Londoner Schuldenabkommens verursacht (3) . Auch die verfassungsrechtlichen Regelungen des Grundgesetzes im Hinblick auf die Kreditaufnahme waren sehr streng. Der ursprüngliche Art. 115 GG erlaubte die Kreditfinanzierung des Haushaltes nur in Ausnahmefällen und nur für wirtschaftliche Aktivitäten des Staates. Eine weitere Begrenzung bestand darin, dass Kredite oder Sicherheiten, die finanzielle Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland für mehr als ein Jahr bedeuteten, nur aufgrund eines formellen Bundesgesetzes erlaubt werden konnten. Dieses Gesetz hatte die Summe des Kredits oder der Verpflichtung zu bestimmen, für die der Bund die Sicherheit übernehmen sollte (4).

Diese Regeln waren auch Ausdruck eines ökonomischen Standpunkts. Denn der parlamentarische Rat wollte bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes keine
klaren Entscheidungen der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik treffen (5). Dementsprechend war es

Zwischenfrage an Georg Jochum


auch nicht möglich, aus den verfassungsrechtlichen Regelungen Leitlinien für die Finanz oder Wirtschaftspolitik der deutschen Regierung abzuleiten. (6) Insofern waren die Gründe für die sehr restriktive Verschuldungspolitik im wesentlichen einer wirtschaftspolitischen Auffassung und der Tatsache geschuldet,
dass das rasante Wachstum der Volkswirtschaft der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren eine Finanzierung der durchaus wachsenden Staatsausgaben
auch ohne Schulden ermöglichte. Die Regelung des Artikels 115 GG selbst war durchaus inspiriert von der klassischen liberalen Idee des Staatshaushaltes. Der Haushalt hatte eine Finanzierungsfunktion, die den Staat in die Lage versetzen
sollte, seine Aufgaben zu erfüllen, eine politische Funktion, nämlich die Kontrolle des Parlaments über die Regierung sicherzustellen, und eine rechtliche
Funktion, nämlich eine effektive Finanzkontrolle zu ermöglichen. (7) 

In den sechziger Jahren änderten sich die Dinge, als die erste Wirtschaftskrise nach dem Krieg Deutschland traf. In dieser Zeit wurde auch die ökonomische Theorie von John Meynard Keynes (8) über die Rolle der Staatsverschuldung in Wirtschaftskrisen politisch wirkungsmächtig. (9) Der Staatshaushalt spielte nun eine aktive Rolle, um schwere Rezessionen zu vermeiden. Während eines Abschwungs sollte der Staatshaushalt als Instrument zur Stimulierung der Wirtschaft genutzt werden. Dann sollten insbesondere öffentliche Investitionen in Straßen, Universitäten Schulen oder Infrastruktur vorgenommen werden. Um diese so genannte antizyklische Haushaltspolitik verfassungsrechtlich zu ermöglichen, wurden die Vorstellungen von Keynes 1969 in das Grundgesetz geschrieben. (10) Die Defizite, die während der Rezession aufgelaufen waren, sollten während der Zeiten eines wirtschaftlichen Aufschwungs abgebaut werden. Art. 115 GG sah nun eine neue Begrenzung der Staatsverschuldung vor. Die Begrenzung war nun die Summe der Investitionen des Haushalts. Außerdem erlaubte Art. 115 GG eine Ausnahme dieser Regel. Eine Verschuldung über diese Grenze hinaus sollte möglich sein, um Störungen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts entgegenzuwirken. Damit waren kreditfinanzierte Haushalte das moderne Instrument einer modernen Wirtschaftspolitik.


In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die volkswirtschaftlichen Theorien von Keynes zu einer Zeit in das Grundgesetz eingefuhrt wurden, als diese Theorien bereits nicht mehr dem Stand der Wissenschaft der Volkswirtschaftslehre entsprachen. Der Mainstream der deutschen Politik wollte den verfassungsrechtlichen Rahmen fur eine antizyklische Finanzpolitik schaffen und hinkte damit der volkswirtschaftlichen Theorie hinterher. Die Politik verkundete, dass die Defizite, die während der Rezession aufgelaufen waren, während der Zeiten eines wirtschaftlichen Aufschwungs abgebaut wurden. Doch diese antizyklische Politik, fur die 1969 das Grundgesetz geändert wurde, wurde bereits im ersten Aufschwung, 1970, aufgegeben. (11)


Seit 1970 hat keine deutsche Regierung einen ausgeglichenen Haushalt erreicht. (12) Jahr für Jahr wächst die öffentliche Verschuldung und während der meisten Zeit wurde auch die Begrenzung des Artikels 115 GG missachtet. Die verfassungsrechtlichen Maßnahmen, übermaßige Haushaltsdefizite zu vermeiden, scheiterten auf ganzer Linie. Die Idee einer aktiven, antizyklischen Haushaltspolitik konnte durch die verfassungsrechtlichen Bestimmungen nicht durchgesetzt werden. Das Problem bestand vor allem darin, dass sich die Haushalte der modernen westeuropäischen Wohlfahrtstaaten fur eine solche antizyklische Haushaltspolitik nicht eigneten. Denn die meisten Ausgaben des Haushalts waren bereits durch gesetzliche Verpflichtungen außerhalb des Haushaltsplans festgelegt. Daher bestand nur ein sehr kleiner Spielraum für eine aktive Haushaltspolitik. Auch waren die Prozesse der Haushaltserstellung zu langsam, um auf eine volkswirtschaftliche Entwicklung angemessen reagieren zu können. (13) Die Ausdehnung des Wohlfahrtstaates kombiniert mit einer wachsenden Arbeitslosigkeit verursachte ein strukturelles Haushaltsdefizit, welches zum stetigen Ansteigen der Staatsverschuldung führte.

In den achtziger Jahren war Keynes Theorie als wirtschaftspolitische Leitlinie „out“. Es war offensichtlich geworden, dass die Theorie von Keynes und seinen Nachfolgern in der Praxis nicht wirksam war. Der politische Mainstream folgte nun einer neuen wirtschaftlichen Theorie. (14) Die nun herrschende Theorie, die sogenannte „neue Klassische Theorie“ betonte, dass der Staat keine aktive Rolle spielen sollte. Die Aufgabe des Staates wurde darin gesehen, Stabilität durch stabile Preise und ausgeglichene Haushalte zu organisieren. (15)

Zwischenfrage an Georg Jochum


Ähnlich wie Ende der sechziger Jahre die Doktrin von J.M.Keynes fand der nun herrschende neo-klassische Zeitgeist Eingang in juristische Grundsatzdokumente. Diesmal war es der EGV. Ähnlich wie das Grundgesetz war auch der EGV anfangs wirtschaftspolitisch neutral. Eine eindeutige volkswirtschaftliche Zielvorgabe fehlte. Durch den Maastrichter Vertrag änderte sich dies. Im Zuge der Einführung der Wirtschafts- und Wahrungsunion wurden volkswirtschaftlich eindeutigere Zielvorgaben aufgenommen. Durch diesen Vertrag wurde die Haushaltspolitik der Mitgliedstaaten verpflichtet „übermäßige Defizite zu vermeiden“ (Art 126 Abs. 1 AEU [104 c EGV Maastrichter Fassung]). Außerdem wurde die Tätigkeit der Gemeinschaft im Rahmen dieser Wirtschafts- und Währungsunion auf folgende „richtungweisende Grundsätze“ festgelegt: „stabile Preise, gesunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungensowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz “ (Art 119 Abs. 3 AEU [Art. 3a EGV Maastrichter Fassung]).


Es ist hier nicht die Aufgabe, die volkswirtschaftliche Konzeption dieser Regelungen punktgenau zu bestimmen. Es genugt festzuhalten, dass die Haushaltspolitik in der Vorstellung des Maastrichter Vertrages konjunkturpolitisch eine andere Funktion hatte als im GG von 1969. Sie wird einseitig auf Ausgabenbegrenzung festgelegt und vor allem im Zusammenhang mit der Geldpolitik gesehen. Dies wird besonders deutlich an den im 5. Protokoll zum Maastrichter Vertrag festgelegten Defizitkriterien. Das jährliche Defizit darf nicht mehr als drei Prozent, das Gesamtdefizit nicht mehr als 60 Prozent des BIP zu Marktpreisen betragen. Auch diese Defizitregel erwies sich, wie die Euro-Krise zeigt, als nicht sehr wirksam. Auch die Bundesrepublik Deutschland verletzte regelmäßig diese Regeln.

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Welche neuen rechtliche Rahmen hat die Schuldenbremse?

Mit Beginn des 21. Jahrhunderts war es Konsens unter allen politischen Parteien in Deutschland, dass der existierende verfassungsrechtliche Rahmen nicht in der Lage war, ausgeglichene Haushalte durchzusetzen und eine wachsende Staatsverschuldung zu verhindern. Das Problem der wachsenden Staatsverschuldung, welches durch den EG-Vertrag nun auch eine europäische Dimension bekommen hatte, war daher eins der Hauptthemen der sogenannten Föderalismuskommission II, die sich aus Vertretern des Bundes und der Bundesländer zusammensetzte und deren Ziel die Reform der Finanzverfassung der Bundesrepublik Deutschland war. (16) Das Ergebnis dieser Föderalismuskommission war eine Änderung des Grundgesetzes, mit der die sogenannte Schuldenbremse in das Grundgesetz eingefügt wurde. Die Verfassungsänderungen traten am 1. August 2009 in Kraft und sollen nun eine neue effektive verfassungsrechtliche Regelung zur Vermeidung wachsender Staatsverschuldung bilden.

Der Hauptteil der Änderung ist die Einführung eines generellen Verbots, Haushalte mit neuen Schulden auszugleichen. Dies ist sowohl in Art. 109 Abs. 3 GG fur den Gesamtstaat als auch in Art. 115 Abs. 2 GG für den Bund ausgesprochen. Doch dieses allgemeine Verbot defizitfinanzierter Haushalte hat drei Ausnahmen. Die wichtigste Ausnahme ist die allgemeine Krediterlaubnis für den Bundeshaushalt. Der Bund darf Kredite bis zu einer Höhe von 0,35 % des Bruttoinlandsprodukts aufnehmen. Es handelt sich somit um eine verfassungsrechtliche Erlaubnis einer moderaten jährlichen Verschuldung des Bundes, die derzeit bei knapp 10 Milliarden Euro liegen wurde. Diese allgemeine Krediterlaubnis ist allerdings nur für den Bundeshaushalt vorgesehen. Die Haushalte der Länder haben eine solche Ausnahme nicht. Die beiden anderen Ausnahmen sind Optionen des Gesetzgebers. Gemas Art. 109 Abs. 3 GG konnen Landes und Bundesgesetzgeber Regelungen schaffen, um eine in bezug auf Auf- und Abschwung symmetrische Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung zu ermöglichen. Die zweite Möglichkeit ist eine Ausnahmeregelung fur Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen.

Für die Bundesebene ist dies in Art. 115 Abs. 2 GG näher definiert. Für den Fall einer von der Normallage abweichenden realen Entwicklung sind die Abweichungen der tatsächlichen Kreditaufnahme auf einem Kontrollkonto zu erfassen. Steigen die Belastungen auf mehr als 1,5 Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts, so müssen die diese Grenze überschreitenden Belastungen konjunkturgerecht zurückgeführt werden. Das heißt die Schulden müssen in der nächsten Aufschwungsphase aus dem soweit ausgeglichenen Budget zurückgefuhrt werden. Alles weitere ist in einem Bundesgesetz zu regeln. Für den Fall von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Situationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, können die Kreditobergrenzen aufgrund eines Beschlusses der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages überschritten werden, wobei dieser Beschluss mit einem Tilgungsplan zu verbinden ist. Die Rückführung dieser Schulden hat binnen eines angemessenen Zeitraums zu erfolgen.

Die neuen verfassungsrechtlichen Bestimmungen erlauben demnach auch eine antizyklische Finanzpolitik. Aber im Gegensatz zur früheren Regelung sind Bund und Länder nun verpflichtet, die Staatsverschuldung während der Aufschwungsperiode abzubauen. Damit ist es nicht mehr ausreichend, im Aufschwung lediglich das jährliche Defizit zu reduzieren, sondern nunmehr notwendig, im Aufschwung einen Haushaltsüberschuss zu produzieren. Das Hauptproblem dieser antizyklischen Finanzpolitik ist die Frage, was unter dem verfassungsrechtlichen Ausdruck „Normallage“ zu verstehen ist. Dies wird im Ausführungsgesetz zu Art. 115 GG näher definiert. Gemäß § 5 Abs. 1 des Ausführungsgesetzes sollen aus der Abweichung der erwarteten wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage Maß und Umfang der zu veranschlagenden konjunkturell bedingten Kreditaufnahmen oder Kredittilgungen abgeleitet werden. Eine Abweichung der wirtschaftlichen Entwicklung von der konjunkturellen Normallage liegt gemäß § 5 Abs. 2 des Gesetzes vor, wenn eine Unter- oder Uberauslastung der gesamtwirtschaftlichen Produktionskapazitäten (Produktionslücke) zu erwarten ist. Die Produktionslücke ist gesetzlich definiert als Abweichung des auf Grundlage eines Konjunkturbereinigungsverfahren zu schätzenden Produktionspotenzials vom erwarteten Bruttoinlandsprodukt für das Haushaltsjahr, für das der Haushalt aufgestellt wird. Diese Definition begegnet rechtsstaatlichen Bedenken. (17) Denn nach dieser Definition dürfte eine Normallage der Volkswirtschaft eine absolute Ausnahme sein. Denn es ist kaum vorstellbar, dass die Produktionskapazitäten üblicherweise ausgeglichen sind.

Hinsichtlich dieser neuen Schuldenbremse gibt es Übergangsregelungen. Diese finden sich in Art. 143d GG. Demnach wurden die Regelungen mit Beginn des Jahres 2011 wirksam. Während einer Übergangszeit sind Abweichungen erlaubt. Die Länder dürfen bis zum Haushaltsjahr 2019 Kredite aufnehmen. Für den Bundeshaushalt sind Abweichungen bis zum Haushaltsjahr 2016 zulässig. Außerdem wird die Einführung der Schuldenbremse mit einer verfassungsrechtlichen Zusage fur fünf Länder abgefedert. So erhalten Berlin, Bremen, Saarland, Sachsen Anhalt und in Schleswig-Holstein und 18 Millionen Euro.

Zwischenfrage an Georg Jochum


Wie ist die Schuldenbremse zu bewerten?

Wegen der erwähnten Übergangszeit kann derzeit noch nichts darüber ausgesagt werden, ob die Schuldenbremse tatsächlich wirkt. Insofern können die Regeln nur im Rahmen einer ersten Betrachtung bewertet werden. Zunächst ist festzustellen, dass eine effektive Kontrolle der Haushaltspolitik durch das

Bundesverfassungsgericht nicht erwartet werden kann. Dies ist eine Aussage, die sich auf Basis der bisherigen Erfahrungen verfassungsgerichtlicher Kontrolle der Staatsverschuldungsregelungen sicher treffen lässt. Ein verfassungswidriger Haushalt war in den letzten Jahren der Normalfall. Die Entscheidungen des Verfassungsgerichts haben niemals bewirkt, dass die Aufstellung eines verfassungswidrigen Haushalts gestoppt werden konnte. 


Die Hoffnung, dass dies für die Schuldenbremse anders sein soll, beruht auf Beispielen anderer Staaten, insbesondere der Schweizer Schuldenbremse. (18) Doch der vielfach gelobte Schweizer Fall unterscheidet sich vom deutschen nicht unerheblich. Insbesondere eine Bedingung, die für die Funktionsfähigkeit der Schuldenbremse sehr wichtig zu sein scheint, fehlt in Deutschland. Denn anders als in der Schweiz besitzen die Länder und Gemeinden nur eine sehr eingeschränkte Steuerhoheit. In der Schweiz haben die Kantone und die Gemeinden ihre eigene breite Steuerbasis und haben Möglichkeit, selbstständig die Steuersätze zu bestimmen. Insofern können die Kantone und Gemeinden in der Schweiz auf Änderungen der Ausgaben mit entsprechender Änderung der Einnahmen reagieren. In Deutschland ist dies nicht möglich. Länder und Gemeinden sind in der Regel zu Ausgaben verpflichtet, die ihre Ursache in Bundesgesetzen haben. Es bedeutet, dass ein großer Teil ihres Haushalts nicht unter der Kontrolle des Landeshaushaltsgesetzgebers liegt. Auf Änderungen, insbesondere Erhöhungen der Ausgaben in Folge Bundesgesetzlicher Verpflichtung können die Länder aber nicht mit einer Ausweitung ihrer Einkünfte durch Erhebung von Steuern reagieren.

Wie steht es um die Durchsetzbarkeit?

Es ist also durchaus denkbar, dass die Einhaltung der Schuldenbremse insbesondere die Länder überfordern könnte. Wenn dieser Fall einträte, würde die Schuldenbremse ein ähnliches Schicksal erleiden wie die bisherigen Versuche der verfassungsrechtlichen Beherrschung des staatlichen Finanzgebarens.


Auf Basis der bisherigen Erfahrungen kann festgehalten werden, dass jede verfassungsrechtliche Regel hinsichtlich des Staatshaushaltes von dem Willen der Politiker abhängig ist, die verfassungsrechtlichen Forderungen zu erfüllen. Auf diesem hochpolitischen Gebiet hat Recht, insbesondere Verfassungsrecht, von Natur aus nur einem begrenzten Effekt, da es an einer effektiven gerichtlichen Durchsetzbarkeit fehlt. Denn wie sollen Verfassungsgerichtsurteile geahndet werden, die oftmals erst verkündet werden, nachdem der betreffende Haushalt längst Geschichte ist. Selbst in Eilverfahren stellt sich die Frage nach der Vollstreckbarkeit solche Entscheidungen. Soll etwa infolge einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts der Haushalt gestoppt werden, mit der Folge, dass wichtige Ausgaben nicht mehr getätigt werden können? Es kommt demnach ganz entscheidend darauf an, welche politischen Zwänge auf die handelnden Personen ausgeübt werden. Denkbar ist etwa ein entsprechendes Verhalten der Wähler, welches Verletzungen der verfassungsrechtlichen
Regelungen über die Staatsverschuldung negativ sanktioniert. Eine andere Möglichkeit ist der Druck von Kapitalmärkten, die eine Verletzung der verfassungsrechtlich verankerten Schuldenbremse zum Anlass nehmen, die Kreditwürdigkeit des entsprechenden Landes infrage zu stellen. Die Einhaltung der Schuldenbremse demnach nur mit Hilfe verfassungsrechtlicher Gebote sicherzustellen, ist wohl eher eine Illusion als eine Realität. Die gehört in der Tat in die Traumfabrik des Staatsrechts.



(1) H.J. Papier, Steuerberatung 1999, 49,53.
(2) Zitiert nach Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. Art 115, Rdnr. 1
(3) Vgl. Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. Art 115, Rdnr. 8
(4) Vgl. Henneke, in: Schmidt-Bleibtreu/Hofmann/Hopfauf, GG, Art 115, Rdnr. 1
(5) Vgl. Von Mangoldt, das Bonner Grundgesetz, S. 34, 95
(6) Vgl. BVerfGE 50,290,336 ff.
(7) Vgl. Neumark, Theorie und Praxis der Budgetgestaltung, in Handbuch der Finanzwissenschaft, 2. Aufl. 1952,
554, 558
(8) vor allem: Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1936
(9) Vgl. Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., Art 115, Rdnr. 8
(10) Vgl. Lappin, Kreditäre Finanzierung des Staates unter dem Grundgesetz, 1994, S. 72 ff.
(11) Vgl. zum ganzen: Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., Art 115, Rdnr. 8
(12) Sondereffekte, wie die Versteigerung der UMTS-Lizenzen, bleiben unberücksichtigt.
(13) Kirchh of NVwZ 1983, 505,506; v. Mutius, VVdStRL 42 (1984), 147, 159.
(14) Vgl. im Überblick, Franz, Makroökonomische Kontroversen, in: Berthold, Allgemeine Wirtschaftstheorie, 131,136.
(15) Vgl. statt vieler: Lucas, Journal of Politcal Economy Vol. 83 (1975), 1113,(1139).
(16) Vgl. BT-Drs. 16/3885
(17) Vgl. zum Ganzen Wendt, in: von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl., Art 115, Rdnr. 43 m.w.N.
(18) Vgl. zum schweizer Fall: Danninger, a New Rule “The Swiss Debt Brake”, IMF working paper WP/02/18; Feld/Kirchgässner, On the Effectivness of Debt Brakes; Th e Sw iss Experience, 2005, Bodmer, The Swiss Debt Brake: How it Works and What Can Go Wrong, Schweizerische Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik vol 142 (2006), 307



Bilder: Andreas Fachner

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