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Der Bachelor-Absolvent der Zeppelin Universität im Fach Politik- und Verwaltungswissenschaft wurde für seine Abschlussarbeit mit dem Best-Thesis-Award der Zeppelin Universitätsgesellschaft ausgezeichnet. Artur Lebedew stammt ursprünglich aus Kirgistan und wird im Herbst das Master-Studium der Philosophie aufnehmen.
Am 30. Juni 2009 entschied der Zweite Senat des Gerichts über das Zustimmungsgesetz des Vertrages von Lissabon. Sie stimmten grundsätzlich dem weitergehenden Integrationsprozess zu, forderten bei der Ratifizierung des Vertrages aber die ausreichende Beteiligung des Bundestages und Bundesrates.
Ebenso machte das Urteil eine Aussage über die Vereinbarkeit der Konzeption eines europäischen Bundesstaates mit dem Grundgesetz. Dies verneinte das Gericht mit der Begründung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Nationalstaates. Das Bundesverfassungsgericht betont so, die Wichtigkeit und Souveränität, der Nationalstaaten, die die Macht über die Institutionen und die konstituierenden Verträge besitzen.
(Quelle: Bachelor-Arbeit von Artur Lebedew)
Die degressiv proportionale Sitzverteilung der Abgeordneten im Europäischen Parlament ermöglicht kleineren Staaten eine bessere Mitbestimmung, wird vom Bundesverfassungsgericht aber als Demokratiedefizit interpretiert.
Ebenso sind die eingeschränkten Kompetenzen des EP hinsichtlich der Gesetzgebung, also der Bearbeitungen von Rechtsakten und deren Abstimmung, Grund für das der Europäischen Union zugeschriebene Demokratiedefizit.
„Jürgen Habermas stellt in seinem Essay „Die Krise der Europäischen Union im Lichte einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts" eine zukünftige kosmopolitische Gemeinschaft der Weltbürger in Aussicht. Der Philosoph zeichnet den Weg, den die politischen Akteure und ihre geschaffenen Institutionen gehen und die unterschiedlichen Anforderungen und Stationen, die sie passieren müssen, nach und beginnt bei der endgültigen Vergemeinschaftung der EU. Für einen europäischen Bundesstaat setzt er neben einer eindeutigen Rolle der Kommission und einer höheren Legitimität des Rates, eine vereinheitlichte Konstituierung des EP, seiner Wahlen in den einzelnen MS der EU und der zu wählenden Parteien voraus. Habermas argumentiert, dass der Kern der Reformen der EU auf den Weg zu einem Bundesstaat in der Wahrnehmung der Institution selbst liegt."
(Quelle: Bachelor-Arbeit von Artur Lebedew)
Sie gehen davon aus, dass die Stärkung des Europäischen Parlamentes dabei helfen kann, die europäische Integration voranzubringen. Warum?
In der Arbeit versuche ich darzustellen, wie eine nächste Integrationsstufe der Europäischen Union erreicht werden kann. Dabei ist sicher zu hinterfragen, ob ein stärker integriertes Europa gut ist. Ich beantworte diese Frage mit Ja, denn Probleme wie globale Wirtschaftskrisen oder Klimawandel müssen auf der globalen Ebene gesteuert werden. Warum werden solche Fragen aber bisher nicht auf einer globalen oder zumindest europäischen Ebene entschieden? Unter anderem deshalb, weil Gerichte das nicht erlauben. So verbietet das Bundesverfassungsgericht, dass das Europäische Parlament (EP) über solche Fragen abstimmen darf.
Warum setzt das Gericht dieses Verbot?
Auf der einen Seite ist das EP technisch nicht demokratisch legitimiert. So sagt das Gericht zu Recht etwa, dass die Stimmen der Bürger unterschiedlich gewichtet würden; ein Abgeordneter aus Malta repräsentiert zwölf Mal weniger Bürger als ein deutscher Abgeordneter. Auf der anderen Seite zweifelt das Gericht die demokratische Legitimation des EP an, weil es gar kein europäisches Volk gebe, das das EP vertreten könnte. Aus der Sicht des Gerichtes kann eine Demokratie nur funktionieren, wenn die Menschen darin einem Volk zugehören, die untereinander diskutierten. Weil Europa in verschiedene Nationalstaats-Völker unterteilt sei, die sich von der Sprache und der Kultur stark unterscheiden, sprächen die Menschen nicht miteinander und dürften so auch keine politischen Entscheidungen über ihr Zusammenleben treffen.
Sie argumentieren, dass man die technischen Legitimationsdefizite aufheben könnte, wenn durch eine neue normative Demokratievorstellung ein Europa der Bürger und nicht der Völker denkbar würde. Wie begründen Sie das?
Es würde sehr lange dauern, bis wir von einem einheitlichen europäischen Volk sprechen könnten. Deshalb plädiere ich für eine andere Sicht auf die Demokratie, um das normative Problem zu lösen. Demokratische Entscheidungen fußen meiner Meinung nach nicht auf der Abstimmung eines Nationalvolkes, wo Menschen über ihre Probleme diskutieren. Sondern sie fußen auf der akkumulierten Abstimmung der Bürger in einer Gruppe. Der Unterschied ist, dass auf der einen Seite demokratische Entscheidungen ein Nationalvolk brauchen, das eine gemeinsame Sprache spricht oder gemeinsame Festtage feiert. Auf der anderen Seite braucht es Bürger, die zusammen etwas entscheiden wollen, auch wenn sie sich voneinander stärker unterscheiden als die Bürger einer homogeneren Kulturnation. Dieses zweite Model betont nicht die Rolle des Nationalstaates, sondern die Rolle einer Rechtsgemeinschaft. Die Bürger befolgen hier gemeinsame Regeln und lassen ihre Probleme von einem europäischen Parlament angehen, weil sie der Meinung sind, die Probleme so besser zu lösen.
Die Unterschiede zwischen den Nationen spielen bei demokratischen Entscheidungen dann keine Rolle mehr?
Das Vorurteil ist ja, dass sich die verschiedenen Völker in Europa zu wenig miteinander solidarisieren. Und es stimmt: Wie oft hört man etwa, dass Deutsche nicht die Schulden von Griechen bezahlen wollen? Auf lange Sicht werden die Bürger die Unterschiede nicht tolerieren und sich zerstreiten. Das Gedankenspiel, dies zu ändern, ist ein funktionales Moment, vieles davon steht schon bei Habermas. Kurz gesagt: Indem ich die Bedingungen der handelnden Menschen ändere, verändern die Menschen auch ihre Handlungen. Auf das normative Problem der europäischen Demokratie angewandt, bedeutet das folgendes: Indem man Probleme auf einer europäischen Ebene angeht, diskutieren Bürger, Politiker, Journalisten und Geschäftsleute diese auf einer europäischen Ebene, weil sie sonst nicht zu Entscheidungen kommen. Und weil Bürger Europas so miteinander reden müssen, werden sie ihre Klischees abbauen und so etwas wie Solidarität entwickeln. Das ist natürlich ein Modell. Aber nach diesem Modell entstanden über viele Jahre auch die Nationalstaaten.
Sie vergleichen die EU mit der Schweiz, was können wir von ihr lernen?
So wie die EU ein Flickenteppich von Kulturen und Völkern ist, ist auch die Schweiz durch unterschiedliche Kulturen und Menschentypen zusammengesetzt: Die italienischen Schweizer sind anders als die Menschen in Zürich, sprechen eine andere Sprache und haben eine andere ethnische Prägung. Das ihnen Gemeinsame ist die politische Kultur der demokratischen Beteiligung: Trotz verschiedener Völker stimmen die Schweizer gemeinsam über nationale Fragen ab oder lassen Entscheidungen von einem gemeinsam gewählten Parlament treffen. Das Argument, das auf der europäischen Ebene gilt, die EU sei kein homogenes Volk und dürfe nicht über alle zwischenstaatlichen Fragen entscheiden, hat in der Schweiz keine Bedeutung. Das gleiche gilt übrigens auch in Indien oder den USA. Auch dort sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Volksgruppen groß, teilweise größer als zwischen den europäischen Staaten. Die Bürger verstehen sich aber auch da als eine politische Kulturgemeinschaft, die gemeinsam Entscheidungen treffen will. Diese Länder zeigen: Wir brauchen in Europa kein homogenes Volk, um wichtige Entscheidungen zu treffen. Vielmehr brauchen wir Menschen, die glauben, dass globale Probleme nicht von nationalen Parlamenten gelöst werden können, sondern von globalen Institutionen.
Foto: Anirudh Koul / flickr.com
Grafik: Andreas Fachner