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Vorlesen ohne Rassismus
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Kinderbücher

Vorlesen ohne Rassismus

von Frauke Leonie Fichtner | Redaktion
02.10.2013
Sprache ist ein wichtiger Faktor zur Ausbildung von kultureller Identität und wächst mit ihrer Gesellschaft.

Nora Hodeige
Master-Absolventin
 
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    Zur Person
    Nora Hodeige

     ... ist Master-Absolventin der Kultur- und Kommunikationswissenschaften (CCM) der Zeppelin Universität. In ihrem Bachelor studierte sie Orientalistik an der Universität Wien und kam in Verbindung dieser beiden Studien auf die Idee zu ihrer Master Arbeit mit dem Thema „Die Repräsentation des Anderen am Beispiel des aktuellen Mediendiskurses über Kinderbücher“

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    Factbox
    Der Thienemann Verlag macht aus "Negerlein" "Messerwerfer"

    Im Anhang finden Sie die Stellungnahme des Verlages zur Änderung des Klassikers "Die kleine Hexe" von Ottfried Preußler.  Zum 90. Geburtstag des Autors sollte lediglich eine Neuauflage des Buches erscheinen. Die Änderungen waren Wunsch vieler Leser, die sich in Briefen an Preußler selbst wandten. Leider starb Preußler am 18.02.2013, doch den Beginn der Debatte um das Wort mit N bekam er noch mit.

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Ausgelöst wurde der Diskurs im Januar 2013, als das Stuttgarter Verlagshaus Thienemann bekannt gab, rassistische Begriffe aus Preußlers Die kleine Hexe zu streichen. Preußler selbst war kein Rassist, die besagten Wörter lediglich zu seinen Lebzeiten noch in einem anderen Kontext zu verstehen. „Der Verlag reagierte hier auf den Leserbrief eines Vaters mit Migrationshintergrund, welcher beim Vorlesen des Buches auf die besagten Begriffe stieß“, berichtet Nora Hodeige. „Mit diesem Schreiben überzeugte man die Angehörigen von Preußler von der Notwendigkeit der nachträglichen Änderung des Werkes.“ Die daraus entstandene Debatte war größer als erwartet, die Positionen vielseitig. Hodeige näherte sich dem Diskurs in dem sie große deutsche Tages- und Wochenzeitungen sowie meinungsbildende Magazine einer Medienanalyse unterzog: „Betrachtet man die jeweilige Herangehensweise der einzelnen Zeitungen und die jeweils genutzten „Codes“, also Wörter die mit einer bestimmten Konnotation gefärbt sind, kann man schnell Tendenzen in Bezug auf deren Gesellschaftsverständnis, Menschenbild und Werte ermitteln. Genauso lässt sich mit jenen verfahren, die zitiert werden. Die Analyse der Debatte bietet so die Möglichkeit herauszufinden, welche Lösungsvorschläge für das Dilemma kollektives Einverständnis hervorrufen könnten.“

Pipi Langstrumpf ist Kult und schon lange nicht mehr nur für Kinder. Sollte das Werk so erhalten bleiben wie es ist? Oder nimmt die Geschichte durch die Änderung bestimmter Wörter keinen Schaden?
Pipi Langstrumpf ist Kult und schon lange nicht mehr nur für Kinder. Sollte das Werk so erhalten bleiben wie es ist? Oder nimmt die Geschichte durch die Änderung bestimmter Wörter keinen Schaden?

Eine dominierende Gruppe in dieser Auseinandersetzung sind die Journalisten selbst. Viele von Ihnen halten das Vorgehen des Verlages für Zensur und letztlich stehe hier Rassismus der Meinungsfreiheit entgegen. Viele von ihnen halten das Vorgehen des Verlages für Zensur und letztlich stehe hier das Verständnis von Rassismus jenem von Meinungsfreiheit gegenüber. Die Frage, wer zu entscheiden habe, welche Wörter gestrichen werden dürften und welche nicht, sei der Knackpunkt. Durch Fußnoten oder erläuternde Kommentare, könne das Problem umgangen werden, ohne Begriffe streichen zu müssen und die Klassiker aus ihrem historischen Kontext zu reißen. Schließlich zeigten die Kinderbücher selbst, dass man die besagten Begriffe aus den verschiedensten Intentionen heraus betrachten kann. „Beispielsweise in Lindgrens Pippi Langstrumpf steht das Wort ‚Neger‘ für Exotik und Abenteuer und beschreibt den Mythos, der Menschen mit dunkler Hautfarbe zu ihren Lebzeiten in Schweden anhaftete“, erläutert Hodeige. Streichungen förderten eine Ausdünnung unserer Sprache und somit auch die Möglichkeit, dass die Bedeutung von Begriffen wie „Neger“ in Vergessenheit gerate und dadurch erst recht auf rassistische Art und Weise verwendet werde.

Aber nicht nur die Journalisten verstrickten sich in heißen Debatten: „Fast alle Zeitungen, ließen in ihren Berichten auch Betroffene zu Wort kommen“, berichtet Hodeige. „Schließlich ist Sprache ein wichtiger Faktor zur Ausbildung kultureller Identität.“ Ein häufiges Argument in diesem Zusammenhang sei, dass eine Sprache sich mit ihrer Gesellschaft verwandeln müsse. Die Veränderungen der deutschen Gesellschaft in den letzten 20 Jahren zögen mit sich, dass Kinderbuch-Klassiker nicht mehr nur weißen Kindern zur Ausbildung ihres Fremd- und Selbstbildes dienten. Laut Hodeige sei auch in diesem Zusammenhang eine klare Kodierung festzustellen. „Begriffe wie „politische Korrektheit“ oder das „Bild des Anderen“ geben Aufschluss darüber, wie die Öffentlichkeit sich eine Sprachregulierung vorstellen könnte, in der man allen kulturellen Hintergründen gerecht wird.“ Eine Diskriminierung durch den Begriff „Neger“ ist Hodeiges Analyse nach nicht akzeptiert. Es sei lediglich eine Frage der Höflichkeit, auf die Forderungen der betroffenen Familien zu reagieren und fragliche Wörter aus besagter Literatur zu streichen. Schließlich handle es sich nicht um neutrale Wörter, die, ohne ihren historischen Kontext zu erläutern, verwendet werden könnten.

Lesen Sie hier die Stellungnahme des Thienemann Verlages nach


Doch auch abseits der breiten Diskussion spielen unzählige weitere Aspekte eine Rolle. So kamen letztlich vor allem die Kinder selbst in besagtem Diskurs zu kurz. Häufig werde diskutiert, wie man Kinderbücher am besten an die heutige Gesellschaft anpassen könne, doch scheint man den Kindern dabei recht wenig zuzutrauen. „Viele der Artikel berichten davon, dass die Streichung der Wörter dazu diene, Kinder zu schützen. Aber vielleicht unterschätzen wir die Kinder da. Es scheint sich mehr um ein Problem von Erwachsenen zu handeln“, so Hodeige. Eine Änderung von Kinderbüchern sei kaum durch genannte Sprachwandlung zu rechtfertigen, solange Erwachsenenbücher nicht auch geändert würden. Schließlich seien die Bücher nicht primär Instrument der Erziehung, sondern dienten der Unterhaltung und sollten mit Hilfe der Eltern reflektiert werden. Rassismus entstünde nicht aus einzelnen Wörtern, sondern aus Stereotypen. Eine wirkliche Lösung für jene Kinder, die Menschen ihrer eigenen Hautfarbe als Neger bezeichnet finden, bietet diese Argumentation jedoch nicht. „Ich glaube man kann sich einigen, dass neue gesellschaftliche Verhältnisse auch neue Kinderbücher brauchen. Aber unser Anspruch an Klassiker, wie Pippi Langstrumpf oder Die kleine Hexe sollte sein, dass sie solche bleiben dürfen“, schließt Hodeige.

Eine wirkliche Lösung kann die Masterarbeit von Nora Hodeige genauso wenig liefern wie die Diskussionen selbst in den deutschen Medien. In Lindgrens „Pippi Langstrumpf“ wurde der „Negerkönig“ zum „Südseekönig“, und auch Preußlers Werk hat bereits Änderungen erfahren. Dennoch ist nicht jeder damit einverstanden. Laut einer Umfrage der Bild ist Deutschland hier gespalten und zwar in etwa Hälfte-Hälfte. Das Dilemma bleibt, ohne dass eine gesellschaftliche Handlungsmöglichkeit gefunden wurde. Vielleicht ist Deutschland an an einem Wendepunkt für seine Kinderbuchliteratur angekommen, und jene Kinderbücher, die heute für die multikulturellen Strukturen unserer Gesellschaft entstehen, werden zu den Klassikern zukünftiger Generationen.



Titelbild: Global Partnership for Education (CC BY-NC-ND 2.0)

Text: Dennis Aycicek (CC BY-NC-SA 2.0)

 

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