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Kulturen der Sucht
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Kulturtheorie

Kulturen der Sucht

Interview: Frauke Leonie Fichtner | Redaktion
01.07.2013
Jede Art von Konsum, auch die von Wasser und Brot und sozialer Interaktion, auch die mit Freunden, Familie und Kollegen, gehorcht denselben Bedingungen der möglichen Entstehung einer Sucht.

Professor Dr. Dirk Baecker
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Dirk Baecker

    Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.

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    Factbox
    Charles Baudelaire

    Baudelaire war ein französischer Schriftsteller, geboren 1821 in Paris und 1867 ebendort verstorben.
    1845/1846 erschienen die kunsttheoretisch bedeutenden Abhandlungen Les Salons, mit denen er zeitgenössische Künstler wie Daumier, Manet und Delacroix bekannt machte. Als sein Hauptwerk gilt der 1857 erschienene Gedichtzyklus Les Fleurs du Mal (Die Blumen des Bösen). Das Werk brachte ihm, sowie Verleger und Drucker ein Gerichtsverfahren ein. Sie wurden wegen 'Beleidigung der öffentlichen Moral und der guten Sitten' für schuldig befunden. Dieses Urteil wurde erst nach dem 2. Weltkrieg aufgehoben. Entsprungen war es sechs Gedichten in besagter Sammlung, welche als obszön und gotteslästerlich aufgefasst wurden. 1860 erschienen mehrere Essays unter dem Namen Die künstlichen Paradiese.

    Sportsucht

    Sport ist ein Beispiel für einer positiven Betätigung aus der schnell eine Sucht werden kann. Die Grenzen verschwimmen hier schnell. Lesen Sie mehr in der SZ.

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Was bedeutet der Begriff artificial paradise?


Professor Dr. Dirk Baecker: Künstliche Paradiese, wie sie Charles Baudelaire in einem wunderbaren Essay beschrieben hat, sind die einzigen Paradiese, die den Menschen noch vergönnt sind, seit sie aus dem echten Paradies nach Adams Biss in den Apfel vom Baum der Erkenntnis vertrieben worden sind. Engel mit flammenden Schwertern bewachen seinen Eingang. Dorthin kommen wir also nie zurück. Seither ist jedes Paradies, das wir für uns schaffen, ein vorübergehendes Paradies, das in Differenz zu einer Welt steht, die nach wie vor dadurch gekennzeichnet ist, dass wir aus dem Paradies vertrieben worden sind.

Worin besteht der Reiz dieser künstlichen Paradiese für das Individuum?


Baecker: Der Reiz des künstlichen Paradieses besteht also darin, dass man sich in ihm über die Welt und über eine kleine Flucht aus der Welt zugleich informieren kann. Mithilfe einer Droge, die chemischer, physischer, psychischer oder sozialer Art sein kann (Cannabis, Sport, Traum, Freundschaft) katapultiert man sich in einen Zustand, von dem man weiß, dass er nicht dauert, und den man daher nicht mit der Welt schlechthin verwechselt. Das ist ein Moment der Erkenntnis, der von äußerster Schärfe ist und doch wie in einer Trance genossen werden kann.
Das Wort "Kiffen", das wir verwenden, um den Akt des Konsums einer Droge zu verwenden, kommt von "kief", einem arabischen Wort sowohl für den Geisteszustand des Rausches als auch für das Hilfsmittel, insbesondere Marihuana, die getrockneten Blütentrauben der Pflanze Cannabis. Hier wird die Künstlichkeit des Vorgangs in einem Wort auf den Punkt gebracht: Der Rausch ist ein Geisteszustand, der in dem Moment, in dem man ihn erreicht, schon wieder nachzulassen beginnt und daher neue Entscheidungen benötigt, um ihn aufrechtzuerhalten. Was könnte über die Unvollkommenheit der Welt und die Geschenke, die sie uns macht, um dieser Unvollkommenheit zu entfliehen, besser aufklären?

Charles Baudelaire - mehr über den französischen Schriftsteller


Wie entsteht eine Sucht?


Baecker: Es gibt drei Bedingungen, die die Humankapitaltheorie von Gary S. Becker als Bedingungen der Entwicklung einer Sucht identifiziert hat. Meinen Sie dies? Da ist erstens die Bedingung des unbeständigen Gleichgewichts. Für jemanden, der Drogen konsumiert, ist der Aufwand nie gleich dem Nutzen, eben weil die Wirkung der Droge im Moment schon wieder nachlässt oder weniger später wieder nachzulassen droht. Dann nimmt man mehr und reproduziert damit nur das unbeständige Gleichgewicht. Drogenabhängige beschreiben dies oft als die Situation, der sie gerne entfliehen würden, aber nicht können. Die zweite Bedingung hört auf den Namen "naheliegende Komplementarität" (adjacent complementarity). Hier geht es darum, dass die weitere Einnahme von Drogen auch auf der Entscheidungsebene, also ganz unabhängig von physischen Suchteffekten, rational ist, wenn man einmal drogensüchtig ist, weil das ganze Umfeld, in dem Drogenerwerb, eventuelle Kleinkriminalität und Drogenkonsum "naheliegend" sind, dem Drogenabhängigen bekannt ist. Drogenabhängige reduzieren ihre Entscheidungskosten, indem sie auf das zurückgreifen, was sie so oder so bereits kennen und beherrschen. Und die dritte Bedingung, hyperbolisches Diskontieren, macht darauf aufmerksam, dass Süchtige laufend damit beschäftigt sind, die unmittelbare Gegenwart auf übertriebene (hyperbolische) Art und Weise höher zu schätzen als die Zukunft, von der sie wissen, dass sie ihnen bevorsteht. Die einzige Möglichkeit, hier auszusteigen, ist der Moment, in dem der eigene Tod schon fast Gewiss ist, also aus der übertrieben abgewerteten Zukunft in die tatsächliche Gegenwart drängt. Hier schnellen die Kosten der Sucht ebenfalls hyperbolisch ins Unendliche – und der Ausstieg wird ökonomisch rational.

Ein Beispiel: Die Sucht nach Sport


Ist es möglich, diese Bedingungen vom Individuum auf die Gesellschaft umzumünzen?


Baecker: Nein, das ist nicht möglich und auch nicht sinnvoll. Die Pointe der rationalen Humankapitaltheorie der Sucht, die Gary S. Becker in vielen Aufsätzen entwickelt hat und die in der ökonomischen Theorie seltsamerweise kaum die angemessene Aufmerksamkeit gefunden hat, besteht nicht in der Entwicklung einer Metapher etwa für eine "wachstumssüchtige" Gesellschaft. Die Pointe besteht viel interessanter darin, dass die Gesellschaft in diesem Rationalkalkül des Individuums eine eigene und sehr präzise Rolle spielt. Nicht umsonst ist Beckers Lehrstuhl an der University of Chicago bis heute sowohl dem Department of Economics und dem Department of Sociology zugeordnet. Die Gesellschaft als Begriff für ein Feld von Interaktionsgelegenheiten ist neben Fragen des Umgangs mit der Zeit und mit sonstigen Umständen der natürlichen Umwelt einer der Faktoren, der die Kosten einer Transaktion entweder reduziert oder erhöht. Rational ist es, jene "Gesellschaft" im Sinne von Interaktionspartnern aufzusuchen, mit denen man sich auskennt und mit denen Umgang zu pflegen daher relativ günstig zu haben ist, und jede andere Gesellschaft, in der Handeln anstrengend, also "teuer" ist, eher zu meiden. So kommt es zu den oft beschriebenen Bindungseffekten der Drogenabhängigen an ihr "Milieu". Dort kennt man sich aus, dort steht der Aufwand in einem günstigen Verhältnis zum Ertrag. Man kann sich leicht vorstellen, was das für die Bekämpfung des Drogenkonsums heißt. Solange dieser Kampf für den Drogenabhängigen die Kosten des Drogenkonsums erhöht, zugleich jedoch eine "Gesellschaft" bereit steht, die im Verhältnis dazu günstige Ausweichmöglichkeiten anbieten, hat dieser Kampf keine Chance.

Aber wo sehen Sie hier die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft?


Baecker: Wenn man so will, sind in diesen ökonomischen Modellen nicht die "Gesellschaft", sondern die "Sucht" die entscheidende Metapher, die allgemein genug ist, um auch Verhältnisse zu beschreiben, die wir nicht mit Drogen in Verbindung bringen. Denn jede Art von Konsum, auch die von Wasser und Brot, jede Art von sozialer Interaktion, auch die mit Freunden, Familie und Kollegen, und jede Art des Umgangs mit der Zeit, auch jene des Lebens in einer verlorenen Vergangenheit oder in einer goldenen Zukunft, gehorcht denselben Bedingungen der möglichen Entstehung einer Sucht. Sobald man sich mit seinen Verhältnissen auskennt, ist es ökonomisch rational, sich an diese Verhältnisse zu halten. Das gilt sogar für Leute, die ihre Verhältnisse dauernd ändern, denn diese Leute kennen sich offensichtlich besonders gut damit aus, ihre Bekanntschaften, Gewohnheiten und Orientierungen laufend zu wechseln und würden in unkalkulierbare Kosten getrieben, müssten sie es plötzlich in der einen oder anderen Situation länger aushalten.

Drogen

Ist die moderne Gesellschaft süchtig nach sich selbst?


Baecker: Wer soll das sein, die moderne Gesellschaft? Wie kann sie also süchtig nach sich selbst sein? Nein, man kann nur umgekehrt und in enger Abstimmung von soziologischen und ökonomischem Theorien zu beschreiben versuchen, wie durch das Handeln und Erleben von Menschen in jeder Art von Gesellschaft bestimmte Verhältnisse zustande kommen, die es aufwendig (und deshalb unter Umständen attraktiv) machen, nach Formen des Handelns und Erlebens zu suchen, die von diesen Verhältnissen abweichen, und es stattdessen "nahelegen", sich an die bereit bewährten Verhältnisse zu halten. Interessanterweise warnt spätestens die moderne Gesellschaft sich vor diesen Suchteffekten, indem sie sich selbst als "Kultur" beschreibt. Denn Kultur heißt seit dem 18. Jahrhundert, dass man sich für und gegen die tradierten Verhältnisse entscheiden kann. Die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als Kultur senkt die Kosten des Vergleichs mit anderen Kulturen und damit auch die Kosten der Übernahme von Eigenschaften einer anderen Kultur und erhöht zugleich die Kosten der Orientierung an der eigenen Tradition, weil "kultiviertes" Verhalten nicht ohne Anstrengung zu haben ist. In manchen Milieus muss man diese Kosten sichtbar ("distinguiert") eingehen, um dazuzugehören, in anderen Milieus kann man darauf verzichten. Auf diese Art und Weise bleibt die Gesellschaft flexibel im Umgang mit den eigenen Verhältnissen.


Foto: Elisa Maser (Titel)

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