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Wir Süchtigen!
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Glotzkultur

Wir Süchtigen!

von Nils Metzger | Redaktion
27.02.2014
Nunmehr muss niemand mehr aus Langeweile ein Programm ertragen, er kann aus der Fülle wählen.

Dr. Gloria Meynen
Lehrstuhl für Medientheorie & Kulturgeschichte
 
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    Zur Person
    Dr. Gloria Meynen

    Dr. Gloria Meynen ist Kultur- und Medienwissenschaftlerin, promovierte 2004 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer kulturgeschichtlichen Perspektive auf das Büro. Sie forschte intensiv über die Macht von Bilder und Zeichen, mit dem Fernsehen setzte sie sich bereits 2009 in dem wissenschaftlichen Sammelband "Sendungen" auseinander - Titel ihres Aufsatzes: "Wir, die Marsmenschen!" Seit 2012 beschäftigt sie sich an der Zeppelin Universität mit mal mehr, mal weniger Außerirdischem. Aktuell schreibt sie an einer Kulturgeschichte der Medientheorie.

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    Factbox
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    Arte erstellte Kate Harff, dem Hauptcharakter ihrer Experimentalserie „About Kate" ein eigenes Facebook-Profil, das auch nun, Monate nach Ende der Serie eifrig weiter postet und mit den Fans interagiert.

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Täglich über dreieinhalb Stunden fern sah der Deutsche im Jahr 2013 - rund 40 Minuten mehr als noch in den späten 1990ern. 2012 gingen 132 Millionen Menschen ins Kino, ein immerhin solider Wert, deutlich über dem der beiden Vorjahre. Ist also alles nicht so schlimm, Kino und Fernsehen sind keine aussterbenden Medien?

Dr. Gloria Meynen: An der Aussagekraft der Zahlen will ich gern zweifeln. Das Fernsehen sehen wir an, doch es blickt nicht zurück, da es über kein blinkendes Auge, kein Eye-Tracking-System, verfügt. Es ist schwer zu sagen, ob der Fernseher die 221 Minuten pro Tag nur flimmerte oder ob tatsächlich jemand zusah und zuhörte: Die Einsamkeit der Mattscheibe kann grenzenlos sein. Ein Durchschnitt umfasst vor allem nicht jene, die gar keinen Fernseher besitzen. Die Fernsehliebhaber lieben vermutlich hartnäckiger, die Fernsehstürmer entbehren bestimmt leidenschaftlicher. Die Kinozahlen sind da schon verlässlicher. Dennoch bleibt ein bedrückender Verdacht: Der Patient ist schon tot, aber die Statistik arbeitet weiter. Kurz, es wird Zeit, Fernsehen und Kino unter digitalen Bedingungen neu zu denken: eine Herausforderung für Sendeanstalten, Film- und Medienwissenschaftler.

Bei der Erfassung von Zuschauerzahlen werden die diversen Internetquellen oft noch nicht mit berechnet. Ist das Kalkül? Fürchtet sich die Branche vor der Veränderung?


Meynen: Angst und Kalkül lassen sich unterstellen, aber kaum beweisen. Dass dagegen eine Bewegung weg vom Live-Angebot der Fernsehanstalten hin zu video-on-demand geht, ist evident. Die Abrufzahlen sind dabei eine Abstimmung mit dem Mauszeiger. Denn nunmehr muss niemand mehr aus Langeweile ein Programm ertragen, er kann aus der Fülle wählen. Ein Film, den wir im Kino noch ganz sehen, muss sich online in den ersten fünf bis zehn Minuten bewähren.

Vergangenheit oder Zukunft des Films? Das Babylon-Kino in Berlin setzt sich mit einem ausgefallenen Programm und regelmäßigen Festivals von der Konkurrenz ab.
Vergangenheit oder Zukunft des Films? Das Babylon-Kino in Berlin setzt sich mit einem ausgefallenen Programm und regelmäßigen Festivals von der Konkurrenz ab.

Wie sehr leiden Fernsehen und Kino unter ihrer eigenen Sendeplatzbeschränkung und unter der Fragmentierung der Gesellschaft? Kann ein öffentlich-rechtliches Fernsehen überhaupt die zersplitterte Interessenslandschaft heutiger Jugendlicher und Erwachsener angemessen abbilden? Auf Youtube gibt es für jede Leidenschaft tausende Stunden Videos.

Meynen: Zum Glück muss heute niemand mehr leiden, denn Fernsehen und Kino können sich ja verändern. Sendeanstalten stellen ihr Angebot ins Netz und ergänzen es durch eigenständige Netzangebote – wie dieses Angebot aussehen kann, ist eine große, offene Frage. Kinos setzen auf das ultimative Live-Erlebnis mit mehr Platz, größeren Leinwänden und endlich schönen Kinoräumen. Der garantiert taco-freie neue Zoopalast in Berlin oder die Astor Film Lounge sind Beispiele. Nachdem Youtube 2010 die 15-Minuten-Grenze aufgehoben hat, findet man zwar dort viele Filme und Sendungen. Doch kann man nie gewiss sein, ob der Film vollständig ist oder zusammengeschnitten wurde. Es ist ein anderes Format, das nicht direkt mit Fernsehen und Kino in Konkurrenz tritt.

Aktuell experimentieren Produktionsgesellschaften sehr viel mit Staffel-Längen und Ausstrahlungsintervallen. Dabei existieren mehrere Modelle: wenige Folgen, die dafür allesamt in Spielfilmlänge und mit kürzeren Abständen zwischen den einzelnen Staffeln (z.B. „Sherlock“), ein traditionelles Staffel-Format („Game of Thrones“, „Breaking Bad“,...), oder die Veröffentlichung einer gesamten Staffel zu einem bestimmten Zeitpunkt (z.B. „House of Cards“). Wie sehr wird der Erfolg einer Serie noch immer von solchen Faktoren bestimmt und wird sich eines dieser Modelle im Internetvertrieb gegenüber den anderen durchsetzen?


Meynen: Welche Form sich durchsetzen wird, scheint ungewiss. Auch bleibt immer Raum für viele Formen. Schon die Fortsetzungsromane des 19. Jahrhunderts und das Fernsehen kannten Cliffhanger. Einmal veröffentlichte Serien erzeugen dagegen ihre eigene Zeitstruktur: Darum lieben wir sie. Cliffhanger sind ein Relikt aus alten Zeiten. Mit ihnen können die Serienproduzenten den Wahrheitstest machen: Lieben wir unsere Serien so sehr, dass wir ihnen über die Pause treu bleiben? Ich träume dagegen von einer freien, kollaborativen Fortsetzung von Serien-Narrationen, in denen die Zuschauer die fremd diktierten Pausen durch eigene Narrationen überbrücken und das Seil zur Serien-Narration am Ende ohne Reue kappen.

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In den 90ern war es Volkssport unter Star-Trek-Fans, Wil Wheaton für seine Darstellung des Wesley Crusher in „The Next Generation" zu hassen - heute produziert er unter anderem eine erfolgreiche Brettspielesendung auf Youtube.
In den 90ern war es Volkssport unter Star-Trek-Fans, Wil Wheaton für seine Darstellung des Wesley Crusher in „The Next Generation" zu hassen - heute produziert er unter anderem eine erfolgreiche Brettspielesendung auf Youtube.

Sich über eine oder mehrere Staffeln spannenden Handlungsbögen sind bereits seit den 1990ern bekannt - zumindest stammt das älteste, mir präsente Beispiel, Babylon 5, aus dieser Zeit. Sie galten stets als großes Risiko, heute erzählen die meisten erfolgreichen Serien aber eine durchgängige Geschichte. Woher stammt diese Bereitschaft der Produktionsunternehmen und Sender?

Meynen: Das ist eine direkte Folge des Medienwandels vom analogen Fernsehen zu den digitalen Angeboten. Zunächst mit den DVDs und heute mit den Streaming-Angeboten liegen zwischen den einzelnen Episoden und Staffeln häufig nicht mehr Wochen und Monate. Auch kann man digitale Konserven mehrfach sehen. Damit rechnen die Drehbuchschreiber. Darum kann man komplexe, paradoxe Narrationen, Identitäten spinnen – Fährten und Finten auslegen, die keine Handlung jemals aufgreifen wird. Hauptfiguren wie Nate Fisher in „Six Feet under“ drohen zu sterben, werden widerbelebt – sie sterben zahlreiche Tode. Nebenfiguren und Gegenstände, die dagegen niemals das Zeug zum Helden haben, können durch beharrliches Auftauchen einen zweiten roten Faden durch die Serienhandlung legen – sie versprechen eine zweite Handlung, die möglich ist, doch niemals stattfinden wird.

In „Breaking Bad“ ist ein solcher geheimer roter Faden etwa der rosafarbene Teddybär, der am Anfang der zweiten Staffel in Walter Whites Swimming Pool auftaucht und bis zum letzten Teddybär-Auge in der vierten Staffel lebendig bleibt. Doch lässt sich vermutlich niemals sicher sagen, wer diese Nebenfiguren triggert und füttert. Möglich ist, dass eine Fanseite einen Take, eine Nebenfigur, einen Gegenstand aufgreift und ein Serienautor sich entschließt, diesen losen Faden aufzunehmen. Die Pässe und Kurzschlüsse zwischen den Drehbuchautoren und Fans sind im Medium schon angelegt. Die Mitautorschaft ein verborgenes Feature jeder Serie. Es führt gleichsam wie der pinkfarbene Plüschbär von „Breaking Bad“ ein geheimes Leben in der Medienlogik der Serien. Doch darin zeigt sie mehr als anderen Stellen ein amerikanischer Traum: Jeder kann vom Teddybär zu Walter White aufsteigen, vom Zuschauer zum Serienautor werden.

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Die TARDIS aus der britischen Kult-Serie „Dr Who" - für die meisten Menschen lediglich eine blaue Telefonbox; für Eingeweihte ein globales Symbol der Nerd-Kultur. "It's bigger on the inside." Yes, indeed!
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Im vergangenen Jahre entwarf Arte mit „About Kate" eine Serie mit interaktiven Elementen, wobei sich Zuschauer unter anderem an der Gestaltung einzelner Szenen beteiligen, wie auch den Handlungsverlauf beeinflussen konnten. War das bereits ein Vorgeschmack auf die Interaktivität, die Sie sich wünschen - oder nur Spielerei?


Meynen: Ja, die Interaktivität ist digitalen Medien inhärent, wenn auch die Autorschaft verteilt ist. Sie ist vermutlich die digitale Antwort auf den Cliffhanger, dem zu sehr die analoge Logik der Fortsetzungsromane eingeschrieben ist. „About Kate” endet knapp 50 Jahre nach der Kubakrise wie „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb” mit „We’ll meet again”. Das kann kein Zufall sein. Kate Harff hat das Ende ihrer Serie überlebt. Sie lebt munter auf der Facebook-Seite weiter. Die Zukunft bringt womöglich immer mehr Serienfans hervor, die das Ende einer Staffel einfach ignorieren und mit ihren Helden an einen dritten Ort auswandern. Und diese Ignoranz kann zum Ziel und besten Kompliment einer Serie werden. Diese Fans spinnen die Erzählungen und Identitäten ihrer Helden nach dem Ende der Serien auf eigene Faust fort. Sie folgen ihren Besetzungen und Narrationen so ausdauernd, dass jede tatsächliche Fortsetzung zu spät kommt und sie enttäuschen muss.

Bloopers, nicht verwendete, verunglückte Szenen, der Abfall der Serien, sind erste Anfänge alternativer Erzählungen. Sie zeigen Figuren, die aus ihren Rollen fallen und gerade in den Fehlern zu leben beginnen. Die zufälligen und willkürlichen kollaborativen Formen der Autorschaft und Geschichtsschreibungen der Zuschauer, Schauspieler und Drehbuchautoren sind eine mögliche Zukunft der Serien im Netz. Denn digitale Medien sind im Gegensatz zum Fernsehen ein Schreib- und-Lese-Speicher. Doch schaffen sich Serien mit allen kollaborativen Formen der Autorschaft auch ein Stück weit selbst ab. Der Anfang und die wohlbeleibte Mitte sind ihr Ende.

Alle reden von einem „Goldenen Zeitalter der Serie", das seit einigen Jahren andauert. Solche goldenen Zeitalter dauern nie ewig. Was könnte den Trend wieder zu Gunsten traditioneller Filme umkehren?

Meynen: Ein Medium ist keine Katze. Es hat niemals sieben Leben. Wenn der traditionelle Film wie der pinkfarbene Teddybär in einer späteren Staffel der Mediengeschichte wieder auftaucht, ist er vermutlich ein anderer geworden. Doch wetten, dass der Plüschbär einmal die siebte Staffel von Breaking Bad schreibt, in der ein rosafarbener Teddybär die Hauptrolle spielt? – Das goldene Zeitalter der Serien wäre schlagartig plüschpink: beendet, gestorben, aber nicht begraben.


Vielen Dank für das Interview!

Kate H.: Wenn imaginäre Helden ein digitales Leben nach dem Tod beginnen.


Titelbild: Evert F. Baumgardner / Wikimedia Commons (public domain)
Bilder im Text: Heinrich-Böll-Stiftung / Flickr (CC BY-SA 2.0),

Heather Paul / Flickr (CC BY-ND 2.0),

Pellaeon / Flickr (CC BY 2.0),

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