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Maria Reich wuchs in einer Musikerfamilie auf, machte ihr Abitur in Berlin und war anschließend Jungstudentin für Violine am Julius-Stern-Institut, dem Programm zur Nachwuchsförderung der UdK-Berlin. Nach einem Auslandsaufenthalt in Frankreich begann sie 2010 ihr Studium an der Zeppelin Universität im Fach Communication and Cultural Management. Während eines einjährigen Auslandsaufenthalts in Peru arbeitete sie im sozial-integrativen Musikprojekt Arpegio und absolvierte ein Forschungssemester zum Thema "Musikerziehung und Persönlichkeitsentwicklung". Für den Berufseinstieg zieht es die frisch gebackene Absolventin zurück nach Berlin, auch wird sie am Jazz-Institut-Berlin weiter Jazzgeige studieren.
„Die Damen legten die Shawls ab, die Herren logierten, alles war in Bewegung, und oft konnte man vor dem Geräusch der lebhaften Konversation etc. kaum die Musik hören.“ So zitiert die Bachelorabsolventin Maria Reich in ihrer Abschlussarbeit den deutschen Musikwissenschaftler Walter Salmen, der über die Bedeutung der klassischen Musik bei Hofe des französischen Adel schrieb. Mit denselben Worten hätte man auch die diesjährige Absolventenfeier im September umschreiben können. Beim Empfang der Gäste gab es neben Sekt auch improvisierter Klaviermusik. Im Rahmen der Veranstaltung wurden hervorragende Abschlussarbeiten mit dem Best Thesis Award ausgezeichnet, darunter Maria Reichs Arbeit mit dem Titel: „ „Mit Klassik spielt man nicht!“ – Zur Improvisation im klassischen Konzert.”
Alles andere als improvisiert ist die Bachelorarbeit von Maria Reich. Detailliert legte sie in ihrer Arbeit dar, wie sich die Rolle der Improvisation seit dem Barock im klassischen Konzert gewandelt hat und welche Faktoren über die Zeit zum Verschwinden der Improvisation führten. Der Bedeutungsverlust der Improvisation zeichnet sich bis in die Gegenwart ab. Die heutige „Kultur der Aufführung“ im klassischen Konzert, wie ZU-Juniorprofessor Martin Tröndle in der Arbeit zitiert wird, ist hochformalisiert und lässt kaum noch Platz für das freie Spiel der Musiker. „Mit die größte Herausforderung bei der Recherche war, dass es zum Improvisationsspiel vor der Zeit von Aufnahmegeräten keine Primärquellen gibt, die Aufschluss gegeben hätten.“, sagt Reich. Für ihre Arbeit bezog sich die Preisträgerin deshalb auf Beschreibungen, die Zeitzeugen schriftlich festhielten. Auch wenn diese Quellen schwer zu recherchieren waren, reichten sie aus, um bewerten zu können, wie und in welchem Maße sich die Rolle der Improvisation im Verlauf der relativ großen Zeitspanne seit dem Barock gewandelt hat.
Reichs Blick in die Vergangenheit der klassischen Musik zeigt, dass es Konzerten nicht schon immer an Improvisationsspiel mangelte. Im Gegenteil: Vor der Einführung der Notenschrift wurden Stücke ausschließlich improvisiert und unterlagen immer der Interpretation des jeweiligen Künstlers. Wissenschaftler untersuchten bestimmte Improvisationsweisen zunächst in Bezug auf den Gesang, da anfänglich nur dieser notiert wurde. Die Improvisation reifte zu einer Disziplin, in der sich Virtuosen gegenseitig maßen, wie zum Beispiel die Musiker Scarlatti und Händel oder Bach und Marchand im Jahre 1717. In Barock und Klassik gab es noch einen fließenden Übergang zwischen Improvisation und Komposition.
Schon im Barock gab es Skeptiker des Improvisationsspiels. Grund dafür waren zum einen besonders versierte Musiker, die das Spiel mit willkürlichen Veränderungen ausreizten sowie weniger versierte Musiker, denen Stilsicherheit und Formbewusstsein fehlte, um gekonnt zu improvisieren. Auch die Überhöhung des Komponisten zum künstlerischen Genie, die bereits im 18. Jahrhundert begann, erlaubte keine willkürliche Veränderung der geschaffenen Werke mehr, da die Originalität des Komponisten gewahrt werden sollte. Diese Entwicklungen führten auch dazu, dass improvisatorische Elemente in der Komposition mehr und mehr ausnotiert und somit in die Komposition integriert wurden. Ein Vorreiter dieser Entwicklung war Beethoven. Er konnte auf Grund seines Gehörverlusts selbst keine Konzerte mehr geben und begann deshalb alle Passagen, die sonst der freien Interpretation des Künstlers überlassen waren, genau auszufeilen. Zudem stand Beethoven an der Schwelle von der Klassik zur Romantik. Obwohl im Formbewusstsein noch der Klassik verbunden begann er bereits, wie später in der Romantik üblich, auch die Darbietungsweise der Stücke, wie etwa ausdifferenzierte Dynamik und Agogik, im Notentext vorzugeben. Diese Veränderung bezeichnet Reich in ihrer Arbeit in Bezug auf die Autorin Sarah Goehr als „Beethoven Paradigma“.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Konzert kontinuierlich standardisiert, was sich durch die Entwicklung technischer Verbreitungsmedien verstärkte. Ausgefallene Interpretationen und spontane Improvisationen wichen dem Ruf nach Werktreue. Doch auch wenn das klassische Konzert allmählich immer stärker normiert wurde und gegenwärtig kaum noch Raum für Improvisation lässt, ist diese nicht gänzlich aus der Musik verschwunden. Eindrucksvoll zeigt dies die in Reichs Arbeit vorgestellte venezolanische Pianistin Gabriela Montero. Sie ließ sich bei einem Konzert in Köln vom Publikum ein Volkslied als Inspiration für eine mehrminütige Improvisation vorgeben.
Auch wenn das Improvisationsspiel wie im Falle von Montero die Ausnahme bleibt, sieht Reich dennoch ein wachsendes Interesse an der Improvisation im klassischen Konzert: „Kompositionsweisen zeitgenössischer Komponisten in der Neuen Musik lassen Interpreten zum Teil wieder größere Spielräume und fordern alle Beteiligten heraus, einen Perspektivwechsel in ihrer Idee vom klassischen Konzert zu wagen.“ Neben der Gegenbewegung zur Standardisierung des Konzerts sieht sie auch die Chance, durch mehr Improvisation und dem dadurch entstehender Interaktion zwischen improvisierenden Musikern und Publikum, im konservativen Konzertbetrieb neue Reize zu setzen. Nicht ganz sicher ist sich die ZU-Absolventin bei der Frage, ob die Reintegration von Spielräumen für Improvisation ein wirksames Mittel gegen schwindende Publikumszahlen im klassischen Konzert sein könnte: „Kein Konzert wäre wie das andere und das „Gespräch“ zwischen den Akteuren des klassischen Konzerts könnte an Lebendigkeit und Präsenz gewinnen. Die Aufgabe ist aber größer als nur Improvisation ins Konzert zu integrieren, da der ungeübte Zuhörer im Zweifel nicht mit diesem Element vertraut ist und es schlichtweg nicht als solches erkennt.“
Titelbild: Andreas Friedrich / Redaktion
Bilder im Text: Zeppelin Universität /Bilder (Archiv-Material)
Piano Piano! / flickr.com (CC BY 2.0)
Leo Reynolds / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)