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Michael Göring ist Stiftungsmanager und Autor.
| Vor der Wand (Roman) 2013
| Der Seiltänzer (Roman) 2011
| UnternehmensStiftung (Sachbuch) 2009
Er leitet als Vorsitzender des Vorstandes die ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius in Hamburg. Darüber hinaus lehrt er als Honorarprofessor am Institut für Kultur- und Medienmanagement der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Seit dem 22. Mai 2014 ist Michael Göring zudem Vorsitzender des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen in Berlin.
Eine Jugend in den 1960er und 70er Jahren in einer typischen Mittelstandsfamilie, dem Rückgrat der Bundesrepublik, dem Hort der Tabus. In der Vätergeneration glimmt noch die Operetten-Idylle, bei den Jugendlichen geht es um laute Rockmusik, lange Haare, sexuelles Erwachen und viele linke Thesen. Georg Mertens ist 16, als er sich intensiv mit der Kriegsvergangenheit seines Vaters auseinanderzusetzen beginnt. Doch sein Vater gehört zur sprachlosen Generation. Während Walter Mertens versucht zu verdrängen, kann sein Sohn nicht länger ruhen und sucht nach Antworten. Was geschah 1944 im toskanischen Dorf Sant Anna di Stazzema? Erst als Georg viele Jahre später zum wiederholten Male die Wahrheit einfordert und sein Vater nichts mehr zu verlieren glaubt, bricht er sein Schweigen. »Vor der Wand« erzählt eine Vater-Sohn-Geschichte. Ein Roman um Schuld und Sühne über Generationen hinweg.
Ihr Roman “Vor der Wand” handelt von der Auseinandersetzung zwischen Walter, einem ehemaligen Mitarbeiter der Reichsbahn und Wehrmachtsoldaten, und seinem Sohn Georg, zugehörig der kritischen 68er-Generation. Ihre Beziehung schwankt ein Leben lang zwischen Anklage und Sprachlosigkeit. Welche Intention verfolgen Sie, wenn Sie das Tabuthema einer kompletten Generation beschreiben? Welche Position beziehen Sie?
Prof. Dr. Michael Göring: Es geschah sehr häufig, dass Väter mit ihren Söhnen oder Töchtern nicht über ihre Kriegserlebnisse gesprochen haben. Das Buch soll noch einmal dazu ermuntern, Sprachlosigkeit zwischen den Generationen zu überwinden. Es ist natürlich heute für die betroffene Generation – Walter Mertens ist Jahrgang 1920 – nicht mehr so relevant, da diese zum Großteil verstorben ist. Aber es gibt immer wieder Mütter und Väter, die Traumata erlitten haben, über die sie auch hätten sprechen müssen. Wenn solche Erfahrungen nicht ausgesprochen werden, leben sie unbewusst weiter und äußern sich in der Familie oft auf höchst seltsame Weise. Das ist mein großes Thema. Ein Leitmotiv im Roman ist die Zeile aus dem Elias, dass die Missetaten der Eltern bis ins dritte oder vierte Glied wirken.. Diese religiöse Vorstellung mag man heute vielleicht ablehnen, aber es ist es etwas Wahres daran. Ein Fehlverhalten wie das von Walter, der Mittäter an einem Massaker in Italien wird und dies dann sein Leben lang mit sich trägt und verschweigt, kann nicht von ihm alleine abgetan werden. Die nächste Generation – im Roman vertreten durch den Sohn Georg (Jahrgang 1955) – trägt die Schuld im Gepäck. Wie geht man damit um, wenn man als junger Mann von diesen Missetaten erfährt?
Der Vorteil der Literatur ist, dass man als Autor dem Leser keine konkrete Position oder Antwort anbieten muss. Offene Deutungen und Interpretationen sind möglich und nötig. Ich muss nicht bewerten, ob es besser ist, Nachforschungen anzustellen und sich mit der Tat aktiv auseinanderzusetzen – wie Marie dies tut – oder alles zu verdrängen wie Georg im Roman. Ich stelle die Frage, wie man mit einer gewaltsamen und schuldbeladenen Vergangenheit umgeht, und lasse die Antwort offen. Der Leser mag antworten!
“Alle Väter waren Täter”, sagt Georg im Roman. Die Identifikation mit den Verfolgten und Opfern gilt als große aufklärerische Leistung der Täterkinder. Der Sozialpsychologe Harald Welzer schreibt in “Opa war kein Nazi” über die Enkelgeneration, die die Schuld der eigenen Familie abwehrt und nach erlösenden Narrativen sucht. Warum ist es heute wichtig, noch einmal auf die Beziehung der Täter-Generation mit ihren Kindern aufmerksam zu machen?
Göring: Zunächst ist zu sagen, dass die Achtundsechziger wichtig für die Hygiene der Bundesrepublik waren, da sie durch die Erhebung dieses plakativen Vorwurfs, der undifferenziert und für viele verletzend war, zu einer umfassenden Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich geführt haben. Viele Väter, die sich zuvor abgeschottet hatten, begannen zu reflektieren: „Mensch, was habe ich da eigentlich getan“!
Es gibt innerhalb der deutschen Geschichte und Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich gewisse Erinnerungsmoden. Die Erinnerungskultur ist nicht einfach da, sondern sie wandelt sich von Generation zu Generation. Es gibt sicherlich Menschen aus der Generation vor mir, die darauf bestanden haben, dass die deutsche Wehrmacht „sauber“ blieb. „Nur die SS war Schuld und die Wehrmacht war immer ordentlich“, war der Tenor. Diese Prämisse hat sich vor circa 15 bis 20 Jahren geändert. Die Gesellschaft begann die Figur des „normalen“ Soldaten zu hinterfragen. Vor allem die Wehrmachtsausstellung in Hamburg fungierte als Impulsgeber für die folgende deutschlandweite Diskussion. In Italien gab es hingegen über Jahrzehnte eine große Begeisterung für die “Resistenza”. Erst seit einigen Jahren weiß man, dass diese Resistenza teilweise ein Mythos war. Auch zum Ende des Krieges gab es in Italien noch viele Mussolini-Anhänger. Dies wurde in der kollektiven Erinnerung verdrängt. All diese verdrängten individuellen Taten und Schicksale müssen offengelegt und besprochen werden. Es gibt nicht die eine Geschichte, die wahr ist, sondern es muss immer eine neue Beschäftigung und neue Interpretationen dessen geben, was damals passiert ist. Legt man die verschiedenen Interpretationen nebeneinander, so kommt man der tatsächlichen Geschichte wohl am nächsten.
Ich erwähnte bereits, dass eine meiner Lieblingsstellen im „Elias“, dem Oratorium von Felix Mendelssohn Batholdylautet: „Ich bin dein Herr, dein Gott, ich bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied derer, die mich hassen“ – das ist natürlich alt-testamentarisch und obwohl dieser rächende Gott im Neuen Testament überwunden wurde, nimmt mich diese Stelle doch immer wieder mit. Von besonderer Relevanz - auch heute noch - ist das Bewusstsein für Verantwortung. Wir können keine Verantwortung für Taten übernehmen, die wir nicht selbst begangen haben, aber wir haben die Verantwortung dafür, dass diese Taten nicht vergessen werden. Auf diese muss geantwortet, Stellung bezogen werden. Das ist nicht einfach!
Die Narrationen und das Gedächtnis über den Zweiten Weltkrieg sind komplex und häufig ambivalent. Auch in der Familie des Protagonisten Georg liegen Täter- und Opfergedächtnis eng beieinander: Walter, der während des Kriegs bei der Reichsbahn arbeitete und am Massaker von Sant’Anna de Stazzema beteiligt war, verlor durch den Krieg auch seine Heimat Breslau, sowie seine große Liebe. Während der Bombardierung Dresdens starben seine Eltern. Inwiefern ist die Rolle des Vaters hier ambivalent?
Göring: Lange habe ich mich gefragt, ob ich Walter zu einer Figur mache, die sowohl Täter als auch Opfer ist, oder ob ich ihn als einen überzeugten Nazi gestalten soll,, der verroht ist und der ohne mit der Wimper zu zuckenein Massaker verübt. Viele der Männer damals wollten keine Mörder sein, sondern verloren die Kontrolle über sich und die Situation. Damit sind sie nicht entschuldigt, nur ihr Verhalten wird zumindest teilweise erklärbar. Das Ausführen von Befehlen – auch solche, von denen man schon damals wusste, dass sie falsch sind – machte für die meisten den Umgang mit der damals so unsicheren Lage einfacher. So kommt die Figur des Walter Mertens vielleicht näher an die Wirklichkeit heran. Menschen sind selten nur weiß oder nur schwarz, meistens sind sie grau. Ich wollte, dass der Leser mit Walter mitfühlt, ihn in Ansätzen bemitleidet. Der Leser soll sich fragen: „Wie hätte ich reagiert?“
Die historische Gewalt des Nationalsozialismus und des Holocaust beruhen auf einer kategorialen Unterscheidung zwischen “Wir” und “Ihr”. Heute ist Deutschland eine Migrationsgesellschaft und Europa ist durch die Europäische Union vereint. Wie kann das Massaker von Sant’Anna di Stazzema in eine transnationale Erinnerung von ganz Europa eingebettet werden? Was für eine Art von Geschichtsverständnis braucht die deutsche Gesellschaft heute?
Göring: Die Geschehnisse von Sant’Anna dürfen nicht in Vergessenheit geraten, sondern müssen auch von der wissenschaftlichen Forschung aufgeklärt und in den Rahmen einer europäischen Erinnerungskultur aktiv eingebettet werden. Einige der Täter von damals leben heute noch und sind noch nicht dement. Sie sollte man vor Gericht stellen und verurteilen, um sich im Namen des deutschen Volkes für die Taten zu entschuldigen. Im März 2013 reiste Bundespräsident Joachim Gauck nach Sant’Anna, um gemeinsam mit dem italienischen Präsidenten Giorgio Napolitano dort einen Kranz niederzulegen. Eine Geste nur, aber eine sehr wichtige!
Das Buch “Vor der Wand” ist eine erzählerische Bearbeitung dessen, was mich immer wieder beschäftigt hat: „Wie konnte es so weit kommen?“Vergangenheit spielt für die Gegenwart eine oft unterschätzte Rolle. Es geht darum, die Zukunft mit dem Wissen der Vergangenheit zu gestalten.
Dabei hat Literatur die Aufgabe, zu erinnern, aufzuklären und die Menschen sensibel zu machen. Es geht mir um die Sensibilität des Einzelnen, die durch Literatur, durch Kunst immens geschärft werden kann. Aber ich weiß auch, dass Nazis kunstempfänglich waren, dass sie bei Wagners Musik geweint haben. Auch Mörder sind sensibel.
Ein wichtiger Baustein meines Romans ist die Musik. Der Gedanke des Erbarmens, wie man um Sühne für solch ein Verbrechen buhlen kann, spielt eine große Rolle. Das christliche Modell, mit dem Georg noch aufwächst, hat heute ziemlich ausgedient.
Nietzsche hat mehrfach beschrieben, wie man jenseits des christlichen Schuldgefühls und der Idee des Fegefeuers mit dem Thema “Schuld” umgehen kann. Er fordert offene, zukunftsgewandte Menschen, die sich ihrer Schuld bewusst sind, aber trotzdem weiterleben und weiter gestalten können. Diese Idee fasziniert mich, dass man auch mit so einer Vergangenheit, wie wir sie haben, umgehen kann. Der Politiker und Theologe Richard Schröder, den ich sehr schätze, hat einmal gesagt: “Deutschland ist nichts Besonderes, aber es ist etwas Bestimmtes”. Dieses Bestimmte gilt es zu erinnern.
Titelbild: „Italian soldiers taken prisoner during Operation Compass“
von Keating G (Capt) No 1 Army Film & Photographic Unit - This is
photograph E 1579 from the collections of the Imperial War Museums
(collection no. 4700-32). Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.
Bilder im Text: Monja / flickr.com (CC BY-NC 2.0)
„Bundesarchiv Bild 102-09844, Mussolini in Mailand“ von Unbekannt - Dieses Bild wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und Wikimedia Deutschland aus dem Bundesarchiv für Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt. Das Bundesarchiv gewährleistet eine authentische Bildüberlieferung nur durch die Originale (Negative und/oder Positive), bzw. die Digitalisate der Originale im Rahmen des Digitalen Bildarchivs. Lizenziert unter CC-BY-SA-3.0-de über Wikimedia Commons,
„Defendants in the dock at the Nuremberg Trials“ von Work of the United States Government - Creator: Office of the U.S. Chief of Counsel for the Prosecution of Axis Criminality/Still Picture Records LICON, Special Media Archives Services Division (NWCS-S). Lizenziert unter Public domain über Wikimedia Commons.
Interview: Caroline Brendel
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm und Alina Zimmermann