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Omid Nouripour wurde in Teheran geboren, kam mit 13 nach Deutschland und wuchs in Frankfurt am Main auf. Seit 2002 hat er einen deutschen Pass und kam kurz darauf in den Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen. 2006 rückte er für Joschka Fischer in den Bundestag nach. Er hat und hatte vielfältige Funktionen, unter anderem als sicherheitspolitischer Sprecher der Partei. Außerdem spricht er fließend Hessisch und ist Fan von Eintracht Frankfurt.
Gleich zu Beginn kritisiert er hart: „Immer wieder sagen europäische Politiker, ihre Welt sei aus den Fugen. Wenn wir so etwas irgendwo in anderen Teilen der Welt erwähnen, lachen die uns aus.“ Diese Feststellung sei extrem eurozentrisch und ignoriere alle schlimmen außereuropäischen Geschehnisse. Dabei sei die Europäische Union ein Weltwunder und ein ungeheuer wichtiger Friedenspakt. Trotz allem gebe es fünf Gräben in der EU, wie Nouripour weiter erklärt. „Zuerst einmal der Nord-Südgraben in der Finanzfrage. Wir Deutschen sind da aber auch verdammt imperial“, betont er und geht im weiteren Verlauf auf Themen wie die Energiefrage, die Flüchtlingskrise, die Integration und die Auseinandersetzung mit Russland ein. Diese fünf Gräben seien die zentralen Aspekte, die die EU momentan spalten würden.
Beim Thema Ungleichheiten geht der Blick für eine kurze Zeit über den Teich und auf die Welt. So gebe es weltweite Ungleichheiten bereits seit Jahrhunderten. „Amerika zieht sich schon immer aus Multilateralismen zurück. Der einzige Unterschied ist, dass Donald Trump das nicht nur unilateral, sondern isolationistisch macht“, ist der Grünen-Politiker sich sicher. Seiner Meinung nach hätten wir es mit einem globalen Systemkrieg zu tun, den es so seit dem Kalten Krieg nicht mehr gab. „Man denke nur an das nihilistische Modell der Dschihadisten, das Effizienzmodell Chinas und naja, nennen wir es einfach das Testosteron-Modell Putin-Trump-Erdogan“, veranschaulicht das Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Um diesem Systemkrieg standzuhalten, müsse eine Demokratie wehrhaft bleiben. Schon Charles de Gaulle forderte, die Europäer müssten strategisch autonom werden und das gelte auch heute noch.
Leider gibt es einige Negativbeispiele, die zeigen, dass Autonomie nicht immer gelingt. So die Türkei, die ihre Autonomie durch den Kauf von 300 Luftabwehrsystemen der Russischen Föderation demonstrieren wollte. „Oder der Vorfall im Asowschen Meer – so geht Autonomie nicht!“, gibt Nouripour eine klare Meinung ab. Laut ihm gebe es mehrere große Hindernisse auf dem Weg zur gemeinsamen europäischen Autonomie: „Zum einen stellt sich die große Frage, warum wir überhaupt Autonomie brauchen. Zum anderen gibt es da noch das Zwei-Prozent-Ziel der NATO, eine Debatte, die gerade ganz viel Kreativität und Lösungsansätze killt. Und nicht zu vergessen die Verteidigungskommission des europäischen Parlaments: Die Tschechische Republik und Deutschland sind gerade Weltmarktführer zur Abwehr von ABC-Waffen.“ Mit gemeinsamer europäischer Verteidigung würden wir keine Industriepolitik, sondern Verteidigungspolitik machen. Und da sei es essentiell, dass nationale Egoismen zurückgesteckt werden.
Omid Nouripour ist ein großer Fan der Idee einer Europäischen Armee, obwohl die Tendenzen sich derzeit in eine andere Richtung bewegen. Auch dazu findet er starke Worte: „Ich wünsche mir eine Europäische Armee, weil es keinen größeren Dienst für den Frieden gibt als die Entnationalisierung von Streitkräften.“ Wir seien aber weit davon entfernt, eine gemeinsame europäische Politik zu bilden. Das wäre zumindest einmal ein erster Schritt, doch gerade dieser erste Schritt beinhalte viele Hindernisse. Das Mitglied des Deutschen Bundestages weist auf die Ungereimtheiten in Bezug auf den Syrien-Konflikt hin: „In Europa gibt es Länder, die liefern Waffen an die Rebellen. Und dann gibt es Länder, die liefern Waffen an Baschar al-Assad.“
Es wird deutlich, wie schwer eine einheitliche Strategie in unserem so verflochten geglaubtem Europa ist. Klar ist, dass eine gemeinsame europäische Linie noch in ferner Zukunft zu liegen scheint. Für Nouripour gibt es nur eine Lösung, um auch in Zukunft als Europäische Union Gehör zu finden: eine einheitliche europäische Außenpolitik – und das trotz des Rückgangs des Multilateralismus. Omid Nouripour versucht sich an einer Definition des Multilateralismus: „Ich muss da immer an die Worte des ehemaligen UN-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld denken: ‚Die Vereinten Nationen wurden nicht dafür geschaffen, um die Menschen in den Himmel zu führen, sondern um sie vor der Hölle zu retten.‘“ Die Zukunft des Multilateralismus sieht der Politiker nicht in G20-Formaten, es werde vielmehr eine große Reihe von regionalen Integrationsprozessen geben wie etwa die Economic Community of West African States – und in diesem Zuge auch viele Momente, in denen verschiedene Leute zusammenkommen und wieder auseinandergehen.
„Doch auf unserem Weg zu einer einheitlichen europäischen Außenpolitik dürfen wir eine Sache nicht vergessen: State Building“, möchte der ehemalige sicherheitspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion hervorheben. Bei einer gemeinsamen europäischen Politik müssen dahingehend viele Fragen gestellt und geklärt werden: Wie gehen wir beispielsweise mit Libyen um? Wie stabilisieren wir den Irak? Die Frage von State Building verschwimme in der aktuellen Debatte. Und wo State Building nicht funktioniert, werde dies von Extremisten ausgenutzt. „Wir dürfen nicht den Fehler begehen, anzunehmen, dass State Building durch militärische Interventionen möglich wird. Zwei Dinge, die wir dabei benötigen, sind Geduld und Diplomatie“, beschreibt Nouripour.
Bevor er seinen Impulsvortrag beendet, wird er noch einmal ganz persönlich: „Ich habe mir geschworen, ein Thema in jeder Rede, die länger als fünf Minuten dauert, einzubauen. Ich persönlich bin der Meinung, dass der Fall Khashoggi viel zu wenig dramatisiert wurde. Aber es gibt da noch eine andere Sache, die viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt: Die 14 Millionen Menschen im Jemen, die kurz vor dem Hungertod stehen.“ Seit einem Jahr herrscht im Jemen die schlimmste Katastrophe weltweit. Da die Bevölkerung jedoch nicht fliehen kann, erhält sie weltweit keine Aufmerksamkeit. Omid Nouripour versucht seit geschlagenen 45 Monaten, in den Jemen zu fliegen – bisher vergeblich. Doch er gibt nicht auf, denn er sieht einen Schimmer Hoffnung und bittet seine Zuhörer: „Tragt das Thema bitte weiter! Wo ihr könnt und wann ihr könnt. Aufmerksamkeit ist die letzte Chance für die Bevölkerung Jemens, um zu überleben.“
Mit diesem Appell schließt der Grünen-Politiker seinen Impulsvortrag. Die anschließende Diskussionsrunde dreht sich um die Personalfrage im Auswärtigen Amt, die Diskrepanz zwischen Sicherheits- und Industriepolitik, den Erfolg des Iran-Deals und die Rolle der Europäischen Union im Arabischen Frühling. Zum krönenden Abschluss fasst Nouripour zusammen: „Wir dürfen nicht mehr von Kerneuropa sprechen. Die Europäische Union hat nur eine Chance, wenn wir nicht mehr von Machtverhältnissen innerhalb der Union sprechen. Und nur dann können eine gemeinsame europäische Linie und eine einheitliche europäische Außenpolitik funktionieren. Vergessen wir die Unterscheidung von Mitgliedsstaaten aufgrund ihres wirtschaftlichen und politischen Einflusses.“
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm