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Franz Schultheis ist Seniorprofessor für Soziologie des Kunstfeldes und der Kreativwirtschaft an der Zeppelin Universität. Zuvor hielt er seit 2007 die Professur für Soziologie an der Universität St. Gallen und war zugleich Leiter des Seminars für Soziologie an der Schweizer Hochschule. Schultheis forschte und lehrte unter anderem an den Universitäten in Montreal, Paris und Genf. Er studierte Soziologie in Nancy und Freiburg, promovierte in Konstanz und habilitierte schließlich 1993 bei Pierre Bourdieu an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris.
Das Phänomen Bourdieu in neuem Licht. In seiner langjährigen und engen Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu hat Franz Schultheis Einblicke in dessen Leben und Arbeiten gewinnen können, die eine weitgehend unbekannte Perspektive eröffnen. Anders als in den geläufigen Porträts von Bourdieu als herausragendem Sozialwissenschaftler tritt hier der »Patron« einer soziologischen Forschungswerkstatt auf den Plan. Die Beschreibung unterschiedlicher Aspekte der Alltagspraxis seines Centre de Sociologie Européenne nimmt dabei den Charakter einer Ethnographie des Arbeitens mit Bourdieu an. Im Zentrum, jedoch seiner eigenen Berühmtheit diametral gegenüber, steht die für ihn so wichtige Utopie des kollektiven Intellektuellen – und der Versuch ihrer Verwirklichung in Forschung und politischem Engagement.
In Ihrem Buch lernen wir einen bescheidenen, respektvollen, hilfsbereiten und zugänglichen Pierre Bourdieu kennen: Doch weshalb hallt in der Öffentlichkeit eher das Bild eines unnahbaren und deshalb auch arroganten Intellektuellen nach?
Prof. Dr. Franz Schulheis: Bourdieus vermeintliche Unnahbarkeit beruhte, falls man sie denn tatsächlich erfahren haben sollte, auf notwendigen Selbstschutzvorkehrungen: Er wurde durch Anfragen für Interviews, Einladungen zu Kolloquien oder Treffen mit ausländischen Fachkollegen dermaßen überhäuft, dass er seine Sekretärin bat, ihn so gut wie möglich vor massiver Überlastung zu schützen. Dennoch kann ich aus eigener Erfahrung nur entgegenhalten, dass Bourdieu gerade im Umgang mit jungen Nachwuchswissenschaftlern oder Journalisten kleinerer Printmedien extrem großzügig mit seiner Zeit und Aufmerksamkeit umging. Kannte man ihn aus der Nähe, so lernte man ihn als einen sehr bescheidenen, oft unsicheren Menschen kennen, was nicht zuletzt seiner außergewöhnlichen Biografie geschuldet sein dürfte, die ihn aus bildungsferner provinzieller Herkunft in die höchsten Ränge des intellektuellen Leben Frankreichs führte. Diese bescheidene Herkunft hat er nie verleugnet, aber auch nie ganz hinter sich gelassen.
Woran liegt es, dass in der einschlägigen Rezeption das sozialwissenschaftliche Kollektiv rund um Bourdieu weitgehend ungeachtet bleibt?
Schultheis: Wie in der Kunstwelt, wo bekannten Künstlern häufig eine Vielzahl an unbekannten Gehilfen zur Hand gehen und an seinem Erfolg Anteil haben, ist auch die Rezeption von Werken der akademischen Welt stark durch eine Konzentration auf große Namen, auf Autoren im Singular, deren Signatur wie ein Brand Alleinautorenschaft und Alleinstellungsmerkmal signalisiert. Darüber hinaus ist es einfach so, dass dieses Kollektiv zwar in Frankreich durchaus mit individuellen Namen und Gesichtern verknüpft ist, weil diese Mitarbeiter Bourdieus durch ihre Publikationen und öffentlichen Auftritte keineswegs unbekannt sind, nur sind diese Werke in den seltensten Fällen in fremde Sprachen übersetzt worden. Hierzulande ebenfalls völlig unbekannt ist Bourdieus Hausrevue „Actes“, wo dieses Kollektiv tatsächlich eine eigene Corporate Identity an den Tag legt.
Was genau war das Centre de Sociologie Européenne (CSE) und wer waren deren Mitglieder?
Schultheis: Das CSE wurde 1960 von Raymond Aron, einem wichtigen französischen Soziologen, gegründet. Er rekrutierte Bourdieu 1962 und machte ihn zunächst zum Assistenten, später zum Leiter dieser Forschungseinrichtung. Unter Bourdieus Regie wurden hier ab den frühen 1960er-Jahren vielfältige sozialwissenschaftliche Forschungen kollektiv durchgeführt, an denen so bekannte Forscher wie Luc Boltanski, Robert Castel, Jean-Claude Passeron und viele andere partizipierten. Es handelte sich sicherlich um den produktivsten soziologischen Think Tank Frankreichs, aus dem breit rezipierte Publikationen zu vielfältigen Themen wie „Illusion der Chancengleichheit“, „Fotografie als illegitime Kunst“ oder „Die Europäer und ihre Museen“ hervorgingen.
Wie haben Sie Bourdieu in der Rolle als „Patron“ eines Kleinunternehmens beziehungsweise „Coach“ einer Forschungswerkstatt wahrgenommen?
Schultheis: Ich wurde im Jahre 1986 als chercheur associé an seinem Centre tätig und blieb es trotz wechselnder beruflicher Stationen an den Universitäten Paris V., Neuchâtel und Genf bis zu seinem Tode. In so vielen Jahren verändern sich Rollen und Beziehungen und deren Wahrnehmung. Zu Beginn war ich von Bourdieus Person – seinem Habitus – wie auch seiner starken intellektuellen Präsenz sehr beeindruckt, ja fast eingeschüchtert. Er war tatsächlich der Patron eines wissenschaftlichen und intellektuellen Unternehmens, nicht autoritär, aber von allgemein anerkannter Autorität. Dank unserer mehr und mehr engen kollegialen und freundschaftlichen Beziehung wurde die Beziehung über die Jahre sehr persönlich und direkt, was jedoch meiner Anerkennung seines herausgehobenen Status keinen Abbruch tat.
Welche besondere Rolle haben Sie dort angenommen? Sie sprechen in Ihrem Buch von einem „gespaltenen Habitus“.
Schultheis: Einen gespaltenen Habitus habe ich aufgrund meiner eigenen Biografie als Kind einer bildungsfernen Familie, das durch irgendwelche Zufälle den Weg an eine Uni und durch sie hindurch schaffte, schon im Gepäck. Angesichts der Fremdheit im intellektuellen Milieu von Paris verstärkten sich zunächst die Gefühle, nicht dorthin und erst recht nicht „dazu“ zu gehören. Dank der wachsenden Freundschaft mit verschiedenen Mitgliedern des Centre, allen voran mit Bourdieu, legte sich das, und ich konnte sogar aus meinem Fremdsein gewisse Freiheitsräume gegenüber einem im französischen Universitätssystem stark ausgeprägten Konkurrenzdruck gewinnen.
Was ist unter der Konzeption des „kollektiven Intellektuellen“ zu verstehen?
Schultheis: Die Idee, von einem „kollektiven Intellektuellen“ zu sprechen und in ihm eine Art Realutopie zu sehen, entstand nicht zuletzt aus der expliziten Ablehnung der Sozialfigur des „totalen Intellektuellen“, wie sie von Jean-Paul Sartre verkörpert worden war. Dahinter steckt die Einsicht, dass kein noch so gebildeter singulärer Intellektueller über die Kompetenz verfügt, zu allen denkbaren Fragen und Themen kompetent Stellung zu beziehen. Vielmehr zeigt sich hier eine elitäre Prätention des modernen Intellektuellen, oft gestützt auf mediale Inszenierungen. Demgegenüber beruht die Rolle des kollektiven Intellektuellen auf dem Prinzip der Vernetzung von Wissenschaftlern, Autoren, Künstlern etc. mit kollektiv geteilten intellektuellen Dispositionen und Sichtweisen, wobei jede und jeder seine besondere, begrenzte Expertise dann einbringt, wenn sie betreffend einer spezifischen gesellschaftlichen Frage nutzbringend eingesetzt werden kann. Die von Bourdieu herausgegebene Schriftenreihe „Raisons d´agir“, bei der sich Dutzende von Autoren ohne Honorar engagierten, zeugt von diesem kollektiven Stil ebenso wie die Zeitschrift „Actes“ oder die von Bourdieu herausgegebene Europäische Buchrevue „LIBER“.
Wie würden Sie in diesem Sinne Bourdieus Forschungs- und Alltagspraxis beschreiben?
Schultheis: Tatsächlich kam die Alltagspraxis des Forschens, Publizierens und öffentlichen Auftretens mit und um Bourdieu dieser Realutopie sehr nahe. Ich selbst konnte in den Redaktionskomitees von „Actes“ und „LIBER“ aus der Nähe und aktiv erfahren, wie ernst es ihm mit dieser Idee war. Sie scheiterte oft genug an den jeweiligen Umständen, an zentrifugalen sozialen Kräften und dem sich immer wieder zeigenden geringen Vermögen des Homo Academicus, die eigene Person und ihr Ego dem Kollektiv hintan zu stellen. Dennoch könnte man auch in der heutigen Scientific Community hier einiges lernen, um mit dieser Bezeichnung wirklich ernst zu machen.
Was nahm Bourdieu als Vorbild für sein Verständnis kollektiven Forschens?
Schultheis: In Gesprächen wies er mehrfach darauf hin, dass die Encyclopédistes, ein Kollektiv vorwiegend französischer Philosophen und Forscher, ab der Mitte des 18. Jahrhunderts diesen Weg schon sehr erfolgreich beschritten hatten: Auch ihre herausragenden Persönlichkeiten wie Diderot oder D´Alembert wären nie in der Lage gewesen, ein solches Werk auch nur annähernd als Einzelkämpfer zu produzieren. Kollektives Forschen prägte aber auch die für Bourdieu sehr wichtige Schule seines Vorläufers Emile Durkheim, der mit seiner Zeitschrift „Année Sociologique“ ganz ähnlich verfuhr wie er später mit seinen „Actes“.
In welchen Momenten stieß die Idee des „kollektiven Intellektuellen“ an ihre Grenzen?
Schultheis: Ihre Grenzen wurden – trotz dem von Bourdieu persönlich eingestandenen häufigen Scheiterns – nie erreicht, und diese Idee ließe sich auch heute noch wiederbeleben. Der im akademischen und intellektuellen Milieu nicht gering ausgebildete Narzissmus und der starke Konkurrenzdruck bei der biografischen Bastelarbeit einer wissenschaftlichen Karriere sind immer aufs Neue Stolpersteine und Fußfallen auf dem Wege zu einer solchen Praxis, aber das haben solche (real-)utopischen Entwürfe nun mal so an sich.
Welche bleibenden Prägungen hat die von Bourdieu praktizierte Idee des kollektiven Forschens bei Ihnen hinterlassen?
Schultheis: Ich habe seit vielen Jahren immer aufs Neue probiert, diese Art des Forschens mit den mir gegebenen bescheidenen Mitteln und Möglichkeiten so gut es geht zu praktizieren. Alle meine Forschungen der vergangenen 30 Jahre waren kollektiver Art, zuletzt zur Frage der Langzeitarbeitslosigkeit im Stile der Citizen Science mit einer Gruppe von Langzeitarbeitslosen. Die daraus resultierenden Publikationen waren ebenfalls kollektiv verantwortet. Ich bin vom besonderen Wert dieser sozialen Organisation von Forschung voll überzeugt und werde sie weiterhin praktizieren, solange ich das Glück habe, forschen zu können und zu dürfen.
Was bleibt darüber hinaus?
Schultheis: Es bleibt das große sozial-kulturwissenschaftliche Werk Bourdieus, dessen komplexe theoretische und empirische Grundlagen und Konstruktionen immer noch neue Einsichten vermitteln, selbst wenn dieses Werk heute das meistzitierte, bereits zum Klassiker avancierte Werk der vergangenen sieben Jahrzehnte darstellt. Ich denke zum Beispiel an sein Archiv soziologischer Fotografien, das er mir 2001 anvertraute und jetzt erstmals vollumgänglich an der Zeppelin Universität öffentlich zugänglich gemacht wird, oder an die „Gesammelten Schriften“ Bourdieus, die ich gemeinsam mit Stefan Egger bei Suhrkamp in 15 Bänden herausgebe und die dem deutschsprachigen Leser viele bisher nicht in seiner Sprache zugängliche Studien eröffnen. Die internationale Rezeption dieses Werks, das immer aufs Neue weiterführende Forschungen und Theoriebildungen inspiriert, verweist darauf, dass Bourdieus Werk nicht einfach kanonisiert in Bibliotheken verstaubt, sondern immer noch quicklebendig ist. Nur darf sich seine Rezeption nicht damit begnügen, seine bereits zu Gemeinplätzen verfestigten Konzepte eifrig zu zitieren und wohlfeilen-bildungsbürgerlichen Gebrauch von ihnen zu machen. Er selbst pflegte diesbezüglich zu sagen: „Hört auf mich zu zitieren – forscht selber!“
Titelbild:
| Thierry Ehrmann / Flickr.com (CC BY 2.0) | Link
Bilder im Text:
| Sylvie Nikitine und Jacques Rutman / Réalisation: Jacques Rutman (Sup-numerique.gouv.fr / CC0 Public Domain) | Link
| Augustin de Montesquiou / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm