ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Prof. Dr. Wolfgang H. Schulz studierte Wirtschaftswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Nach seiner Habilitation zum Thema „Industrieökonomik und Transportsektor – Marktdynamik und Marktanpassungen im Güterverkehr" an der Universität zu Köln und seiner Tätigkeit als Studiendekan für Logistik und Handel an der Hochschule Fresenius, ist er seit März 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Mobilität, Handel und Logistik sowie Direktor des Center for Mobility Studies | CfM an der Zeppelin Universität.
Im Zentrum der Forschung und der Arbeit des Lehrstuhls für Mobilität, Handel und Logistik stehen neue Mobilitätskonzepte und -lösungen. Hierbei werden unter der Anwendung neuer theoretischer Ansätze lohnende Konzepte für die betriebswirtschaftliche Praxis abgeleitet, welche darüber hinaus vor allem einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen stiften.
Schulz ist unter anderem langjähriger wissenschaftlicher Experte im Verkehrsausschuss des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V. (BGA).
Das deutsche Wirtschaftsministerium beschreibt Gaia-X mit den Worten: „Ein Projekt von Europa für Europa und darüber hinaus“. Klingt schön, aber schwer greifbar. Helfen Sie uns, Herr Schulz: Was ist Gaia-X?
Prof. Dr. Wolfgang H. Schulz: Gaia-X ist die nächste Generation der Dateninfrastruktur in Europa. Europa liegt im Systemwettbewerb um Künstliche Intelligenz (KI) deutlich hinter den USA. Den Markt für KI dominieren die sogenannten Hyperscaler oder GAFAM Google, Amazon, Facebook, Apple und Microsoft, da sie über die entsprechenden Serverkapazitäten verfügen. Kein einziger Staat in Europa verfügt über derartige Serverkapazitäten. Diese Kapazitäten sind aber nicht das Entscheidende, sondern die Anwendungen.
Gaia-X greift mythologisch auf Gaia – „die Mutter Erde“ – zurück und damit auf etwas Kulturelles und Einigendes. Mit dem Gaia-X-Projekt soll signalisiert werden, dass das vereinte Europa jetzt eine Möglichkeit entwickelt, um im Systemwettbewerb aufzuholen. Das Ziel von Gaia-X ist die Realisierung der Potenziale und die Minimierung der Risiken des Datenteilens. Es kann als eine Art europäische DIN-Norm für den Umgang mit Daten verstanden werden.
Beim Thema Dateninfrastruktur sind die Deutschen Kummer gewohnt: langsamer Breitbandausbau, komplexe Bürokratie wie die Datenschutzgrundverordnung. Funktioniert denn Gaia-X, wie es soll?
Schulz: Gaia-X wird funktionieren, wenn die Projekte abgeschlossen sind, weil Gaia-X einen klaren Entwicklungsauftrag hat. Dieser besteht darin, in den nächsten drei Jahren digitale Lösungen in unterschiedlichen Bereichen der Mobilität zu entwickeln. Dazu gehören digitale Zwillinge, dazu gehört die digitale Souveränität von Fahrzeugen, dazu gehört eine ganze Reihe von Use Cases. Diese Use Cases stellen eine Anwendung dar, die am Ende der Gaia-X-Projekte realisiert wird.
Ex-Wirtschaftsminister Peter Altmaier träumte davon, mit Gaia-X gegen Datenriesen wie Google oder Microsoft antreten zu können. Kann ich mir diese „Europa-Cloud“ auch so vorstellen, dass ich dort künftig meine Urlaubsfotos speichern kann?
Schulz: Die Urlaubsfotos wird man weiterhin auf einer Cloud eines Anbieters speichern, der sich auf die Konsumenteninteressen fokussiert. Gaia-X ist ein viel, viel tieferliegendes Projekt, weil Gaia-X die Cloud für die produktiven Tätigkeiten in Europa bereitstellt. Ja, Gaia-X ist primär weder freizeit- noch konsumorientiert, sondern industrieorientiert, um den Industriestandort Europa in seiner Wettbewerbsfähigkeit zu sichern und zu stärken.
Sie selbst zeigen jetzt mit drei neuen Projekten, wie vielfältig die Anwendung von Gaia-X sein kann. Wer ist dabei?
Schulz: Dabei sind die Treiber der deutschen Automobilindustrie, die Hersteller, die Zulieferer, aber auch komplementäre Player wie Rüstungsunternehmen. Von kleinen Start-ups über Beratungsunternehmen und Forschungseinrichtungen bis hin zu großen Konzernen ist alles vertreten.
Ein Ziel Ihrer Projekte ist es, ein Ökosystem aufzubauen, das automatisierte Fahrzeugflotten verwaltet und steuert. Heißt das, wir müssen bald nie wieder selbst das Steuer festhalten?
Schulz: Nie wieder das Steuer festhalten, ist eine Aussage, die für den kulturellen Raum Europas nicht passend ist. Denn Europa unterscheidet sich zu anderen kulturellen Räumen auch dadurch, dass es Wahlfreiheiten gibt und diese Wahlfreiheiten bedeuten, dass ich wählen kann, ob ich automatisiert oder ob ich eigenständig fahren möchte. Darin liegt aber auch eine große Chance, da in Europa automatisierte Systeme entwickelt werden müssen, die im Mischbetrieb funktionieren. In anderen Staaten ist es aufgrund ihrer zentralistischen Struktur so, dass eine Instanz das automatisierte Fahren verordnet. Die Kunst ist es aber, ein automatisiertes Fahrzeug über die Autobahn zu führen, auch wenn andere Fahrzeuge ihre Geschwindigkeit frei wählen und überraschend von der rechten auf die linke Fahrspur ausscheren.
Insofern ist die europäische Dimension des automatisierten Fahrens viel komplexer und tiefgreifender als das, was wir immer als automatisiertes Fahren vorgehalten bekommen, wenn man auf die USA oder auf China verweist. Die geografischen sowie kulturellen und rechtlichen Eigenheiten der verschiedenen europäischen Länder erfordern im Unterschied zu diesen Nationen eine ausgereiftere Technologie, die allen Anforderungen gerecht wird. Wir werden zu einer Technologieentwicklung gezwungen, die eine robustere, nachhaltigere und wettbewerbsfähigere Technologie ermöglicht.
Sie wollen zeigen, wie Gaia-X zur Transformation des Mobilitätssystems beitragen kann. Welche möglichen Beiträge gibt es denn?
Schulz: Das wesentliche Element der Transformation ist, dass Mobilität anders gedacht und gesehen wird. Mobilität muss gesehen werden als ein Service, eben als Mobility as a Service (MaaS). Das heißt die Mobilität, die ich brauche, kaufe ich spezifisch zu dem Zeitpunkt, wenn ich sie benötige. Dadurch spare ich Anschaffungskosten, kann skalieren und bleibe kosteneffizient flexibel. Und ich habe die Wahl zwischen den Verkehrsmittelträgern, die mich in der Situation am besten voranbringen. Wesentlich dabei ist, dass MaaS ohne Gaia-X schwierig umzusetzen ist und dass das Projekt Europa wieder in die Lage versetzt, an dem Systemwettbewerb mit anderen Staaten erfolgreich teilzunehmen.
Um ihre Fragen zu beantworten, wollen Sie auch auf KI-gestützte Forschungsmethoden setzen. Das klingt ganz anders als Fragebögen, SPSS-Dateien und Co. Wie kann man sich Ihr Forschungsdesign genauer vorstellen?
Schulz: Das Problem bei den bisherigen statistischen Methoden ist, dass sie auf historischen Zeitreihen beruhen und dann eine Extrapolation betreiben. Hier muss man sich vorstellen, dass die Daten in Echtzeit in die Cloud geladen werden und durch einen Algorithmus in einer solchen Schnelligkeit ausgewertet und berechnet werden, dass Sie während des Fahrens gar nicht merken, dass die Veränderung des Fahrverhaltens gerade erst frisch kalkuliert wurde. Das heißt wir haben eine Geschwindigkeit und einen Algorithmus, der so schnell ist, dass er in der jeweiligen spezifischen Situation direkt eine Lösung bieten kann. Weil er eben eine hohe Flexibilität hat und letztendlich nicht auf historischen Mustern basiert, sondern das bestehende Muster, das gerade hereinkommt, interpretieren kann. Wenn eine Banane vom Himmel fällt, kann die KI erkennen, dass jetzt zwar eine surreale Situation eintritt, das Fahrzeug wird aber trotzdem bremsen und sich nicht die Frage stellen, warum jetzt eine Banane vom Himmel fällt. Das ist der Vorteil der KI, das kann keine statistische Regression.
Schlussendlich sollen daraus zwei Anwendungsfälle entstehen – zum Güterverkehr und zum Personenverkehr. Können Sie kurz skizzieren, wie diese Szenarien „in echt“ aussehen könnten?
Schulz: Die Szenarien werden derart aussehen, dass der produktive Güterverkehr größtenteils automatisiert abgewickelt werden kann. Wir werden also ein realistisches Szenario wie das folgende haben: Container werden über die niederländischen Häfen angeliefert und dann über automatisiert fahrende Lkw in die Zielgebiete transportiert. Der große Vorteil ist, dass diese Automatisierung nachhaltig ist, weil sie nämlich auch die Elektrifizierung des Lkw ermöglicht. Das heißt also durch die Automatisierung habe ich die Möglichkeit, die Autobahn so umzurüsten, dass beispielsweise Lkw induktiv geladen über die Autobahn über lange Distanzen geführt werden können und die Bewegungen der Lkw planbar sind, sodass ich auch im Grunde das Strommanagement und das Energiemanagement optimal betreiben kann.
Im Personenverkehr wird es so sein, dass ich durch die andere Form der Mobilitätsnachfrage, also der MaaS, ganz neue Möglichkeiten bekomme, um bestimmte Ziele zu erreichen. Das entscheidende Szenario ist, dass die unterschiedlichen Verkehrsmittel miteinander versöhnt werden. Bis jetzt haben wir immer eine Art Konkurrenzdenken zwischen öffentlichen Personennahverkehrsunternehmen und Individualverkehr und durch die Automatisierung werden die besonderen Stärken entwickelt, sodass eine Durchmischung, eine Harmonie zwischen der Nutzung dieser Verkehrsträger möglich wird und damit die multimodale Wahlfreiheit des privaten Verkehrsnutzers steigt.
Und zum Schluss eine „Verbraucherfrage“: Wann könnten wir denn die von Ihnen erforschte „Smart Managed Public Transport Fleet“ auf der Straße erleben und selbst nutzen?
Schulz: Nicht vor 2030.
Titelbild:
| Nasa / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bild im Text:
| Alina Grubnyak / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm