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Dr. Markus M. Müller hat seit 2009 die Honorarprofessur für Politik- und Verwaltungswissenschaften inne. Seine Forschungsschwerpunkten liegen auf den Regierungssystemen Deutschlands, der USA und Großbritanniens. Außerdem befasst sich Müller mit internationaler Politik, insbesondere international vergleichender Wirtschaftspolitik.
Die vergangene Woche hat in Washington eine Verschnaufpause gebracht, mehr aber auch nicht. Die Verschuldungsobergrenze (debt ceiling) wurde vorläufig angehoben, andernfalls hätten wir einen politisch herbeigeführten Staatsbankrott der Weltmacht USA erlebt.
Der europäische Beobachter, und vermutlich nicht nur dieser, wundert sich über das Phänomen „government shutdown“. Der Vorgang ist in der Tat eher etwas Neues, in dieser Tragweite noch nicht häufig vorgekommen und dennoch mehr denn je bedrohlich. Seine Ursachen liegen nicht primär in der politischen Auseinandersetzung von Republikanern und Demokraten. Das Problem hat vielmehr eine systemische und eine strukturelle Komponente.
Die Systemische liegt im Gewaltenverhältnis der amerikanischen Verfassungsorgane, das, kombiniert mit den überaus komplizierten und verschachtelten Regeln zur Haushaltsaufstellung, eine Vielzahl von potenziellen Veto-Spielern hervorbringt. Bibliotheken sind gefüllt mit Literatur zur amerikanischen Haushaltspolitik. Ganze Policy-Theorien und Denkschulen gehen letztlich auf die Beschäftigung mit diesem Politikfeld zurück. Der systemische Anteil des Problems besteht mindestens seit dem Budget and Accounting Act von 1921. Spätestens mit der Reform der Verfahren 1974 und den nachfolgenden Überarbeitungen hat die Komplexität des Entscheidungsprozesses einen Grad erreicht, den kaum ein anderes Land dieser Welt erreichen dürfte.
Den Haushalt in Geiselhaft für – andere – politische Absichten zu nehmen, das ist in den USA keine Kunst. Angesichts einer republikanischen Mehrheit im Repräsentantenhaus und einer demokratischen Senatsmehrheit, sowie eines demokratischen Präsidenten im Weißen Haus, ist die Wahrscheinlichkeit für taktische Manöver also per se schon ziemlich hoch.
Hinzu kommt eine strukturelle Entwicklung im Bereich des Parteienwettbewerbs. Eine an der American University beheimatete Forschung stellt fest, dass die Veränderungen der Wahlkreiszuschnitte in den vergangenen Jahren tendenziell zu einer Verfestigung von Parteidominanzen und damit Siegesaussichten für je eine Partei führten. Mit anderen Worten, es gibt immer mehr sichere Bänke für die Parteien. Aus Kandidatenperspektive heißt das: Hat man die parteiinterne Kandidatur gewonnen, ist die eigentliche Wahl vergleichsweise risikolos. Das habe die Radikalisierung innerhalb der Parteien, namentlich die Stärkung der so genannten Tea-Party-Bewegung innerhalb der Republikaner, befördert, so die These weiter.
Kommen nun zunehmend radikale Vertreter einer Partei ins Parlament, ist das politische System angesichts der beschriebenen Blockade-Neigung zum Stillstand verdammt. Das ist, wenn man so will, die amerikanische Fassung des „Strukturbruchs“, den Lehmbruch vor beinahe 40 Jahren an anderer Stelle im deutschen Verfassungsgefüge diagnostizierte.
Insofern geben weniger die bisherigen Erfahrungen mit dem government shutdown Grund zur Sorge, als vielmehr die strukturellen Veränderungen bei den politischen Akteuren, die ein System fahren sollen, das von den Verfassungsvätern mit wenig Motoren und vielen Notbremsen ausgestattet wurde.
Rückenwind haben die USA schon länger nicht mehr, die wirtschaftliche Dynamik verdankt sich nicht zuletzt einem ungebremsten Staatsschuldenwachstum. Im Moment scheinen alle Beobachter auf eine Art „Spontanheilung“ zu setzen, eine Besinnung aller Verantwortlichen auf ihre Gemeinwohlverpflichtung. Das stimmt nicht gerade hoffnungsvoll. Und dennoch: die USA waren schon immer für eine Überraschung, eine Kehrtwende und radikale Neuausrichtung gut. Auf George W. Bush folgte Barack Obama - warum sollte da nicht auch im Frühjahr 2014 ein Wunder geschehen?
Titelfoto: Victoria Pickering (CC BY-NC-ND 2.0)
Text: Shawn Semmler (CC BY 2.0)