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Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Sein Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem bei Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.
Die Bürger- oder Volksversicherung ist eine hauptsächlich von SPD, Grünen und Linken favorisierte Idee für eine Umgestaltung der Krankenversicherung in Deutschland. Der wesentliche Aspekt dieser Idee ist, das duale System zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung abzuschaffen und alle Bürger zur gesetzlichen Krankenversicherung zu verpflichten. So sollen auch die Einnahmen gesetzlicher Krankenversicherung vergrößert werden.
Zur Zeit existieren mehrere mögliche Modelle für die Umsetzung besagter Idee. Einige wollen das genannte Prinzip auch auf die gesetzliche Rentenversicherung anwenden. Ein weiterer Bestandtteil wäre, die berufsständischen Versorgungswerke abzuschaffen.
Die Kopfpauschale, oder auch Gesundheitsprämie ist ein Konzept, um die Finanzierung der gesetzliche Krankenversicherung auf gehaltsunabhängige Beiträge umzustellen. Es beinhaltet den Arbeitgeberanteil an der Finanzierung zu senken, also im Umkehrschluss den Anteil des Versicherten an der Finanzierung zu erhöhen. CDU und CSU entwickelten besagtes Konzept 2004. Inzwischen ist die CSU von dem Konzept abgerückt, die FDP dagegen vertritt nun ein ähnliches Programm.
2009 kam mit dem Koalitionsvertrag der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP der Beschluss, langfristig auf eine Pauschale umzustellen. Als erste Schritte wurden einkommensunabhängige Zusatzbeiträge ohne Arbeitgeberanteil eingeführt und die Steigerung des Krankenkassenbeitrages wurde vermehrt auf den Arbeitnehmerbeitrag umgelegt.
Eben haben die Mitglieder der Grünen beschlossen, dass die Volksversicherung, besser bekannt als Bürgerversicherung, einer der wichtigsten Programmpunkte ihrer Politik sein soll, wenn sie die Wahlen gewinnen. Im Falle einer rot-grünen Koalition würde dem wohl auch kaum etwas entgegenstehen, denn die Bürgerversicherung ist auch eines der Lieblingsprojekte von Karl Lauterbach, dem designierten Gesundheitsminister in Steinbrücks Kompetenzteam.
Vehement abgelehnt wird die Bürgerversicherung hingegen von der FDP. Gegenwind gegen die Bürgerversicherung kam kürzlich ebenfalls sowohl vom Marburger Bund als auch von der Bundesärztekammer, die auf dem Ärztetag klar gemacht haben, dass sie die Einführung einer Bürgerversicherung ablehnen. Die Bürgerversicherung sei „ein Turbolader für die Zwei-Klassen-Medizin“ und man sei gut beraten, das duale System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung aufrechtzuerhalten.
Das Argument gegen die Bürgerversicherung lautet, dass eine Pflichtversicherung für alle vermutlich zu einer Absenkung der Grundversorgung führen würde, die dann von den Wohlhabenderen, und eben nur von diesen, mit privaten Zusatzversicherungen ergänzt würde. Verwundert stellt sich der Betrachter allerdings die Frage, warum dieses Problem ausgerechnet bei der Bürgerversicherung auftreten sollte.
Die Bürgerversicherung ist nichts anderes als die Ausweitung der gesetzlichen Versicherung auf alle Bürger, wobei die Beiträge entsprechend dem Einkommen zu leisten sind, d.h. höhere Einkommen zahlen mehr, niedrigere Einkommen weniger. Eine einkommensabhängige Pflichtversicherung erfüllt demnach zwei Aufgaben: Sie gibt einerseits im Sinne einer klassischen Versicherung die Sicherheit, dass man im Krankheitsfall die entsprechende medizinische Betreuung erhält, und sie verteilt im Sinne einer Solidargemeinschaft gleichzeitig um, da die „starken Schultern“ höhere Beiträge zahlen als die schwachen.
Eine der Schwachstellen des jetzigen Systems besteht darin, dass sich ausgerechnet die stärksten Schultern aus der Solidarleistung verabschieden können, da sie über der sogenannten Beitragsbemessungsgrenze liegen und sich daher privat versichern können. Erhöhungen der Bemessungsgrenze, wie sie immer wieder vorgenommen wurden, verschärfen dabei das Problem nur noch, da diejenigen, die sich weiterhin aus dem gesundheitspolitischen Solidarpakt ausklinken können, nun sogar noch mehr verdienen. Gerade die stärksten Schultern werden also aus ihrer sozialen Verantwortung entlassen.
Eine sinnvolle Lösung dieses Problems besteht offensichtlich darin, alle Bürger in die Pflichtversicherung hineinzunehmen, wie es mit der Bürgerversicherung getan werden soll. Der Handlungsdruck allerdings wäre zugegeben geringer, wenn man die Versicherung von ihrer Umverteilungsfunktion entlasten und auf den Kerngedanken der Versicherung gegen gesundheitliche Risiken reduzieren würde, so dass jeder Pflichtversicherte eine sogenannte Kopfpauschale zahlen würde, wie es seinerseits auch die Herzog-Kommission vorgeschlagen hat.
Allerdings müsste dann der Aspekt der „Solidarversicherung“ des jetzigen gesetzlichen Systems über Steuern geregelt werden. Soll es bei dem bisherigen Umverteilungseffekt bleiben, heißt das, dass diejenigen, die sich durch eine Kopfpauschale besser stellen würden, also diejenigen mit den höheren Einkommen, entsprechend höhere Steuern zahlen müssten und diejenigen mit niedrigeren Einkommen müssten steuerlich entlastet oder ihr Beitrag durch Steuermittel aufgestockt werden.
Wer sich also für eine Kopfpauschale ausspricht, muss daher konsequenterweise gleichzeitig für einen Anhebung des Spitzensteuersatzes sein, wenn das Gesamtbeitragsvolumen ungefähr konstant bleiben soll. Angesichts der Schwierigkeit der politischen Umsetzung von Steuererhöhungen ist aber eher damit zu rechnen, dass diese Steuererhöhungen entweder gar nicht oder in zu geringem Umfang stattfinden würden. D.h. es kommt bei Einführung einer Kopfpauschale entweder zu einer Umverteilung von unten nach oben, wenn das Gesamtbeitragsvolumen gleich bleibt, oder das Volumen sinkt. Letzteres würde aber eine Absenkung des Niveaus der Grundversicherung nach sich ziehen.
Freiwillige Zusatzversicherungen, um das alte Niveau an Leistungen halten zu können, wären privat zu leisten und würden nur von Besserverdienenden abgeschlossen. D.h. die Kopfpauschale und eben gerade nicht die Bürgerversicherung würde vermutlich zu einer Zwei-Klassen-Medizin führen.
Selbst wenn man der Ansicht ist, dass die Umverteilungsfunktion der Krankenversicherung wesensfremd ist und in dieser daher nichts zu suchen hat, muss man aber anerkennen, dass die Einkommensabhängigkeit der Beiträge im Sinne eines Solidarbeitrags allgemein akzeptiert wird und es wäre daher töricht, ein funktionierendes System abzuschaffen, wenn man denselben Effekt ansonsten nur mit einem Mechanismus erzielen kann, der auf deutlich weniger Akzeptanz stoßen würde.
Wer gegen die Bürgerversicherung ist, ist daher wahrscheinlich nicht für die Verlagerung des Umverteilungseffekts in das Steuersystem, sondern er ist einfach nur für weniger Umverteilung als bisher durch die Solidarversicherung geleistet wird. Dies ist eine bestimmte Art von Haltung und sie ist nicht unzulässig. Diese Haltung aber damit zu begründen, dass man einer Zwei-Klassen-Medizin vorbeugen wolle, ist entweder intellektuell grob fahrlässig oder zynisch.
Neben Alter und Arbeitslosigkeit zählt Krankheit zu den drei klassischen Lebensrisiken, gegen die der Sozialstaat eine Versicherung darstellt. Da diese Risiken bekanntermaßen weiterhin bestehen, ist der Sozialstaat alles andere als überholt, sosehr uns das die smarten Apologeten des Neoliberalismus auch gerne weismachen wollen. Die Bürgerversicherung ist das wohl effektivste Mittel, eine bezahlbare und sozialverträgliche Krankenversicherung für alle zu gewährleisten. Man sollte das Konzept daher nicht leichtfertig aus Eigennutz oder Kurzsichtigkeit verwerfen.
Fotos: TK Presse (Titel)