Die gegenwärtige Weltmeisterschaft wird für ihre schönen Spiele gefeiert. Von hässlichen Spielen hingegen ist prinzipiell nur selten die Rede. Stecken in dieser Asymmetrie Anhaltspunkte für die Ästhetik des Sports?
Vor zwei guten Wochen hat die Fußball-Weltmeisterschaft in Brasilien begonnen, und weltweit wohl setzt sich der eher überraschte Eindruck durch, dass dies, was die sportliche Qualität angeht, ein außergewöhnlich gutes Turnier ist (in Brasilien, wo man Lob und auch Kritik ebenso gerne wie permanent auf die Spitze treibt, wurde schon von „der besten Weltmeisterschaft aller Zeiten“ gesprochen). Dagegen hatten eher tägliche Katastrophenmeldungen und etwas herablassende Kommentare über logistische wie architektonische Mängel das Medienvorfeld des späten Frühlings beherrscht, während die eigentlichen Fußball-Erwartungen im Hintergrund standen – vor allem wohl deshalb, weil keine sich plötzlich steigernden Spieler oder Mannschaften die erwartende Phantasie der Fans inspirierten. Umso erstaunlicher ist es also, dass die nun täglich wachsende Begeisterung nicht etwa auf ein „brasilianisches Wintermärchen“ reagiert, nicht primär auf die Stimmung bei dieser WM oder auf überraschende Erfolge der einen oder anderen Mannschaft (Costa Rica, Chile, Kolumbien, Uruguay, Frankreich) — sondern tatsächlich auf immer neue große Einzelleistungen (vor wenigen Minuten habe ich das begeisternde Sieg-Tor von Luis Suárez im Spiel zwischen Uruguay und England gesehen), auf die Faszination der meisten Spiele und auf die einsetzende Dynamik des gesamten Wettbewerbs.
Fußball ist nicht immer einfach schön; oft geht es auch hart und teilweise sogar hässlich her. Und so bewegt sich beispielsweise dieser Kopfball auf dem schmalen Grad zwischen eingedrücktem Schädel und filigraner Feld-Aktion.
Wann immer es allerdings darum geht, diesen überaus positiven Eindruck im konzentrierten Blick auf den Fußball zu beschreiben und zu begründen, stößt man als Medien-Konsument auf eher oberflächlich getarnte Ratlosigkeit. Die meisten Kommentare versuchen, mit Verweisen auf statistische Werte, vor allem auf die bisher recht ansehnliche Torquote, die einsetzende WM-Euphorie zu objektivieren. Aber garantieren viele Tore wirklich schönen Fußball? War nicht zum Beispiel das 0:0 zwischen Brasilien und Mexiko ein besonders mitreißendes Spiel? Der Ursprung unserer Begeisterung reicht gewiss tiefer und ist komplexer, als es dürre Zahlen erfassen können. Wer von einem schönen Spiel spricht, der hat, ob er das will oder nicht, schon immer ein ästhetisches Urteil vollzogen — und seit Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“ gilt als ausgemacht, dass ästhetische Urteile weder auf quantitativen noch auf konsensuell qualitativen Kriterien beruhen können (obwohl der Urteilende stets unterstellt, dass jeder andere Urteilende ihm zustimmen würde).
Aber was ist überhaupt das Grundelement des Fußballs, auf das wir uns beziehen, wenn wir ein Spiel „schön“ nennen? Ich glaube, es ist der gelungene Spielzug, den wir als eine Form beschreiben können, die stets von mehreren Spielern (beider Mannschaften) verkörpert wird; als eine Form, welche Ereignis ist, weil sich nie mit Gewissheit vorhersehen lässt, ob sie gegen den Widerstand der anderen Mannschaft überhaupt zur Verwirklichung kommt (niemand würde sich über ein ohne Gegenspieler erzieltes Tor freuen, weshalb beide Mannschaften zur Choreographie des schönen Spielzugs gehören); und schließlich als Form mit einer besonderen Zeitlichkeit, weil sie von dem Moment an irreversibel zu verschwinden beginnt, in dem sie sich zuerst zeigt (wegen dieser Zeitlichkeit und wegen seines Ereignis-Charakters kann ein schöner Spielzug in medialer Wiederholung nie dieselbe Intensität der Freude auslösen wie seine ursprüngliche Emergenz). Ein Tor gibt dem schönen Spielzug zwar besondere Geschlossenheit, muss ihn aber nicht notwendig beenden — so wie auf der anderen Seite beileibe nicht jedes Tor das Ergebnis eines schönen Spielzugs ist.
"Ein Tor gibt dem schönen Spielzug zwar besondere Geschlossenheit, muss ihn aber nicht notwendig beenden — so wie auf der anderen Seite beileibe nicht jedes Tor das Ergebnis eines schönen Spielzugs ist."
Freilich gibt uns das Tor als Spiel-entscheidende Dimension die Möglichkeit, Spielzüge auf einen Zweck zu beziehen, und weil dieser Zweck außerhalb der geschlossenen Situation des Spiels nicht existiert, können wir sagen, dass der schöne Spielzug Funktion im Hinblick auf eine Zweckhaftigkeit ohne (Alltags-wirklichen) Zweck ist – was genau Kants Beschreibung des Schönen als einer von zwei Modalitäten der ästhetischen Erfahrung entspricht. Die andere Modalität ist das „Erhabene“, und sie bezieht sich auf Erfahrungsgegenstände, deren Komplexität die Fähigkeit menschlicher Aneignung und Verarbeitung tendenziell überfordert. Doch das Erhabene steht, meine ich, im Vergleich zum Schönen eher an der Peripherie des Sport-Erlebens. Denn zentral bei Mannschaftssportarten ist ja die funktionale Zuordnung des Spielzugs auf den Zweck des Tors, des Korbs oder des Hume-Runs. Eine schöne Fußball-Weltmeisterschaft ist also zuerst und vor allem eine Weltmeisterschaft der vielen, vorerst ja nicht endenden gelungenen Spielzüge.
Doch diese Spielzüge als Formen fügen sich in jedem Spiel zu einem singulären Sequenz zusammen, retrospektiv gesagt: zu seiner potentiellen Geschichte und Erzählung, welche über die Identifikation mit der einen oder anderen Mannschaft die Leidenschaft der Zuschauer entfachen kann. In dieser anderen Dimension der ästhetischen Erfahrung lässt sich nun tatsächlich ein quantitatives Kriterium der Schönheit benennen, denn das Spiel nimmt die Fans ja umso intensiver in Anspruch, desto länger sein Ausgang offen bleibt. Mit dem Ende des Spiels aber tritt eine Dimension des Schicksals in den Vordergrund, die aufgrund seines Ereignis-Charakters schon in jedem Spielzug steckt. Beide Mannschaften kämpfen aktiv um den Sieg, aber Sieg und Niederlage stoßen ihnen auch zu, weit über die Reichweite ihres eigenen Handelns und über dessen Verdienste hinaus, ganz irreversibel. Die englische Mannschaft ist nach zwei sehr guten Spielen ausgeschieden; Costa Rica hat zwei ehemalige Weltmeister geschlagen; der mexikanische Torwart war für die brasilianischen Stürmer auch bei den allerklarsten Torchancen unüberwindlich; und mit der zweiten Niederlage Spaniens ist eine ganze Epoche der Fußballgeschichte zu Ende gegangen.
Das "hässliche Foul" gehört fest zum Standard-Repertoire eines jeden Fußball-Kommentators. Was aber macht ein Foul oder gleich ein ganzes Spiel "hässlich", wenn es vielleicht für die gegnerische Mannschaft "schön" ausgeht?
Was sich so abspielt, ist in einem spezifischen Sinn „reines Schicksal“, denn es kann zumindest innerhalb der Welt des Fußballs und dieses Turniers durch nichts ausgeglichen oder korrigiert werden (Spieler nach einer Niederlage daran zu erinnern, wie oft sie vorher schon gewonnen haben oder dass es ihnen finanziell weiter gut geht, hilft ihnen und den Fans auf ihrer Seite überhaupt nicht). Das Spiel ist reines Schicksal in einer spezifischen Welt, nämlich der eindimensionalen Welt des Fußballs, die ausschließlich auf sich selbst konzentriert ist und deshalb keinerlei Relativierungen zulässt. Zugleich entsteht durch dieses Konzentriert-Sein auf sich selbst aber auch eine Autonomie, die eben jede Rück-Wirkung auf das Alltagsleben ausschließt. In all diesen Dimensionen ist die laufende Weltmeisterschaft bisher besonders ereignisreich, intensiv und schön gewesen – und so werden sich eines Tages wohl auch die Anhänger jener Mannschaften erinnern, die nach guten und dramatischen Spielen früh ausgeschieden sind.
Aber kann man hässliche von den schönen Spielen unterscheiden? Wie lässt sich die Spezifik einer Weltmeisterschaft beschreiben, wenn sie die Erwartungen und Hoffnungen von Milliarden Zuschauern nicht erfüllt? Im Blick auf Mannschaftssportarten ist es eigentlich nur üblich, von „hässlichen Fouls“ zu sprechen, aber von einem „hässlichen Spiel“ oder einem „hässlichen Turnier“ ist erstaunlich selten die Rede. Wie lässt sich diese Asymmetrie erklären? Sie scheint zu suggerieren, dass ein enttäuschendes Spiel vor allem ein langweiliges Spiel ist, in dem sich keine schönen Spielzüge und auf ihnen als Basis keine Dramen abzeichnen. Der Gegenseite zu Schönheit ist hier also „privativ“, wie man in der Philosophie sagt, sie bezieht sich auf nichts als ihre Absenz (was übrigens auch in der Ästhetik der klassischen Antike der Fall war) – und eben deshalb zögert man wohl auch im Sport, für diese Absenz ein Wort des Kontrasts (wie „hässlich“) zu verwenden. Enttäuscht sind wir von einem Spiel, wenn aus der Konfrontation der Mannschaften kaum Formen und Choreographien hervorgehen, wenn die Körper der Spieler amorphe Masse bleiben, und wenn sich aus der Sequenz der Spielzüge nicht die Konturen eines Leidenschaft stiftenden Dramas ergeben.
"Nichts 'drückt sich' in den Spielzügen einer Mannschaft 'aus' oder im Drama der Konfrontation von zwei Mannschaften", erklärt Gumbrecht. Für Fans und Zuschauer wird ein Fußball-Spiel trotzdem oft zum Drama. Im Stadion oder vor dem Fernseher wird dann gelitten, geschrien, gefeiert und gelebt.
In der westlichen Geschichte der ästhetischen Erfahrung wurde das Hässliche eigentlich erst seit der Romantik zu einer eigenständigen Kategorie, nicht allerdings als symmetrischer Gegen-Begriff zum Schönen, sondern im Bezug auf ein Ausbleiben des Schönen, durch das sich (wie Hegel sagte) die „Prosa der Welt“ zeigen konnte, das heißt eine Spur der wirklichen, im Normalfall nicht immer schönen Welt. Victor Hugo vor allem betonte, dass das Hässliche „interessant“ sein könne, als ein privilegierter Ausblick auf eine anders kaum zugängliche – abstoßende — Wirklichkeit. Dieser spezifische Realismus im Blick auf die Welt, für den seit der Romantik das Wort „hässlich“ steht, gehört aber nicht zu den Möglichkeiten des Sports. Denn im Gegensatz zur bildenden Kunst, wo bis ins frühe zwanzigste Jahrhundert fast ausschließlich die Mimesis, das heißt: ein Prinzip Welt-Darstellung dominierte, hat der Sport ja keinerlei mimetische Beziehung zur Welt. Nichts „drückt sich“ in den Spielzügen einer Mannschaft „aus“ oder im Drama der Konfrontation von zwei Mannschaften.
Aber warum spricht macht trotzdem so häufig von einem „hässlichen“ Foul? Ich vermute, dass auch in einem Foul kein Ansatz für eine mimetische Beziehung zwischen Spiel und Welt liegt – aber doch immerhin die Möglichkeit, sich ein ersten Bild vom individuellen Charakter des „foulenden“ Spielers zu machen, wie sie in den positiven, in den schönen Momenten des Spiels nicht gegeben ist. Als „hässlich“ sehen wir ein Foul an, wenn es uns zum Beispiel den Eindruck gibt, dass sich der aggressive Spieler um die Gesundheit eines Gegenspielers nicht schert. Könnte es innerhalb dieser Logik auch ein „schönes Foul“ geben? Franz Beckenbauer war – wenigstens auf dem Höhepunkt seiner aktiven Karriere – dafür bekannt, Gegner ab und an mit nicht erlaubten, aber das Spiel nur minimal unterbrechenden Bewegungen vom Ball zu trennen. Das nannte man damals nicht selten „elegant“.
Ob Profi-Fußball oder Amateur-Sport: Zweimal fünfundvierzig Minuten sind anstrengend, schweißtreibend und enden mit dem ein oder anderen Krampf auch "hässlich". Die schönen und schlechten Seiten eines Spiels liegen so oft ganz eng beieinander.
Tatsächlich berühmt und für viele Zuschauer monumental geworden ist aber das eine Foul, mit dem der große Zinedine Zidane im Weltmeisterschafts-Finale von 2006 abtrat. Nachdem er über das ganze Spiel von seinem italienischen Gegenspieler Marco Materacci gefoult und offenbar auch in seiner Familien-Ehre beleidigt worden war, stieß Zidane mit einem Kopfstoß gegen die Brust Materacci zur Erde – und zog sich dann vom laufenden Weltmeisterschafts-Endspiel und von der Bühne des internationalen Fußballs zurück, ohne auch nur die rote Karte des Schiedsrichters abzuwarten. Dieser Moment wirkte auf mich wie die – schöne — Allegorie von komplexen Werten und Verpflichtungen aus einer Welt, die im Westen zumindest, längst für immer vergangen ist. Aber diese Allegorie hatte nichts mit dem Spiel zwischen Italien und Frankreich zu tun – das, wie so oft, durch eine am Ende erfolgreiche italienische Abwehr-Strategie beherrscht wurde. Das Spiel selbst kann in diesem Sinn ohnehin nie allegorisch sein; zum Beispiel steht das großartige zweite Tor von Luis Suárez gegen England nur für sich selbst, es drückt nichts aus. Und die bisher so schöne Weltmeisterschaft des Jahres 2014 sagt uns bestimmt nichts über den gegenwärtigen Welt-Zustand.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Sarah Genner / flickr.com
Bilder im Text: Groundhopping Merseburg, Mark Haertel,
Hennig Welslau, Justin, Giorgio Rafaelli / flickr.com
Verantwortlich: Florian Gehm / Redaktion