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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Angesichts der Vielzahl von aktuellen und potenziellen Kriegsschauplätzen im sogenannten „Mittleren Osten“ ist es zu einer nicht immer banalen Herausforderung für politisch gebildete Bürger geworden, die Fülle des täglich über sie hereinbrechenden Informationsmaterials geographisch zu differenzieren und dann an eine jeweils adäquate Vorgeschichte anzuschließen. Hinzu kommt – auf einer höheren Komplexitätsebene – die politisch korrekte Verpflichtung, alle einschlägigen Konflikte „differenziert“ zu sehen, was auf das Verbot hinausläuft, je für die eine oder andere Seite eines spezifischen Konflikts Partei zu ergreifen. Diese biedere Mündigkeit, glaube und hoffe ich, ist nun durch Berichte über Greueltaten der unter dem Namen „Islamischer Staat“ die Bevölkerung des Irak und Syriens terrorisierenden Organisation durchbrochen worden. Nicht einmal die Angriffe der amerikanischen Luftwaffe gegen den „Islamischen Staat“ haben – wie sonst eigentlich immer — weltweite Proteste ausgelöst. Stattdessen erreichten Ekel, Schrecken und Empörung einen neuen – vielleicht gar nicht mehr überbietbaren – Höhepunkt in Reaktion auf die während der vergangenen drei Wochen per Internet sichtbar gemachten (und in den meisten westlichen Ländern schnell blockierten) Enthauptungen der Journalisten James Foley und Steve Sotloff, die laut „Islamischem Staat“ zur Serie werden sollen.
Aber was genau unterscheidet die als Videobotschaft zugänglich gemachten Enthauptungen von anderen „Verbrechen gegen die Menschheit“? Warum wirkte ihre offizielle Einordnung in diese Kategorie durch die UNO wie eine im kafkaesken Sinn lächerliche Untertreibung? Und wieso ist die Zahl der Stimmen so viel geringer als sonst bei ähnlichen Anlässen, die eine Gleichung aufzumachen versuchen zwischen den Taten jener Terrorgruppe und den militärischen Aktionen etablierter Staaten (in diesem Fall eben den Bomben-Angriffen der amerikanischen Luftwaffe)? Vielleicht hilft es bei diesem Versuch, Begriffe für Greuel und Schrecken zu finden, wenn man zunächst einmal möglichst genau jene Video-Botschaften beschreibt, die in Europa und Nordamerika – aus guten, aber doch nicht unwidersprochenen Gründen – nur schwer zugänglich sind (ich habe die Sequenz der Tötung von James Foley in Brasilien gesehen).
Die Bilder seiner Enthauptung sind inszeniert als „Botschaft an Amerika“, aber gehen – anders als vor Jahren von Al-Quaida produzierte Bilder derselben Gattung – über die bloße Dokumentation des Vollzugs einer Exekution hinaus. In der Mitte und im Vordergrund steht offenbar mit Handschellen unbeweglich gemacht das Opfer, dessen Körper mit einem orangefarbenen Überhang bedeckt ist, wie er auch für Patienten bei chirurgischen Eingriffen verwendet wird. Neben Foley sieht man, beweglich und gestikulierend, den Henker in schwarzer Milizkleidung, sein zugewiesenes Opfer mindestens um eine Kopflänge überragend. James Foley spricht, wie es zu solchen Szenen gehört, als Konvertierter und klagt die Politik der amerikanischen Regierung an. Der Henker ergänzt – auf Englisch und in einem mittlerweile wissenschaftlich identifizierten „multikulturellen Londoner Akzent“ — dass die anstehende Exekution um den Preis eines Lösegelds von hundert Millionen Euro hätte vermieden werden können. Beide Reden zusammen dauern etwas mehr als eine Minute und werden am unteren Bildrand in arabische Schriftzeichen übersetzt.
Während dieser langen Minute zeigt der Henker einen mit dem spezifischen Ernst seiner Gestalt und Rolle in Spannung stehenden Drang, die Schneide eines kurzen Messers zu zeigen, vor die Kamera zu halten und so – wie vor Jahren der damals fast mythologisch gewordene „Terrorist Carlos“ — etwas zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Entgegen der elektronischen Ankündigung wird aber der Moment der Enthauptung nicht sichtbar. Zwar beugt sich der Henker wie ein sorgfältiger Metzger von hinten über James Foley, umgibt seinen Kopf mit an den Ellenbogen zu einer Raute abgewinkelten Armen in Schwarz und berührt Foleys Gurgel mit seinem Messer. Doch darauf folgt eine Still-Photographie von Foleys Leiche, die bäuchlings im Wüstensand liegt und ab der Höhe der Schultern von einer roten Blende unsichtbar gemacht wird. „Humanitäre Erwägungen“ können es eigentlich kaum gewesen sein, die zu dieser Aussparung führten. War es ein Grauen der Henker angesichts ihrer eigenen Greueltat? Oder die mangelnde chirurgische Kompetenz, um aus dem Schnitt in die Gurgel wirklich eine Enthauptung werden zu lassen?
Aber noch einmal und vor allem: wie unterscheidet sich diese Szene etwa von Bombenangriffen, welche das Risiko in Kauf nehmen, Zivilisten zu töten, wie unterscheidet sie sich von der Praxis der Hamas, Waffen mit den Körpern von Kindern zu schützen – und auch von der Industrialisierung des Tötens in den Konzentrationslagern der deutschen Nationalsozialisten? Der programmatische Wille, Enthauptungen zur Schau zu stellen, ignoriert aggressiv eine Tabuschwelle, die sich in den westlichen Kulturen seit dem Ende der Aufklärung immer deutlicher abgezeichnet hat. Diese Tabuschwelle unterscheidet zwischen körperlichen Leiden von Opfern, die innerhalb einer militärischen Rationalität angeblich nicht zu vermeiden sind, und einem auch militärisch dysfunktionalen Exzess solcher Leiden.
Eigenartigerweise gibt es in der deutschen Sprache kein gängiges Wort, um solchen Exzess zu markieren (man kann von „Greueln“ reden, aber der Begriff ist weniger gängig und wohl auch weniger genau als etwa das englische Wort „atrocity“). Historisch gesehen ist die Entstehung einer damals neuen Sensibilität, welche Greuel ausschließen und unmöglich machen wollte, durch Francisco de Goyas „Desastres de la Guerra“ markiert, eine Serie von Stichen aus den spanischen Befreiungskriegen gegen Napoleon, welche Greuel – bemerkenswerterweise: auf beiden Seiten des Konflikts – festhält, um mit dem Bild einer nackten jungen Frau zu enden, die für „das Leben“ steht, für „das nackte Leben“ eben (von dem während des vergangenen Jahrzehnts in der Welt der Intellektuellen vor allem die Philosophie von Giorgio Agamben gehandelt hat).
Vor dieser historischen Schwelle waren auch in den westlichen Kulturen öffentliche Rituale der körperlichen Bestrafung und Exekution gang und gäbe. Man kann also sagen, dass der „Islamische Staat“ – im globalen Kontext sehr wahrscheinlich bewusst und programmatisch (der Henker der Videos ist aller Wahrscheinlichkeit nach in England zur Schule gegangen) – die Schwelle in Richtung auf die Vergangenheit zurück-überschreitet. Dies impliziert eine eindimensionale Sicht der Opfer: ihr unveräußerliches – und seit der Aufklärung zugleich als tendenziell „sakrosankt“ angesehenes – „nacktes Leben“ ist gegenüber ihrer Rolle als angebliche „Verbrecher“ ausgeklammert. So gesehen existiert eine Konvergenz zwischen den Enthauptungs-Videos des „Islamischen Staats“ und der Industrialisierung des Tötens im deutschen Nationalsozialismus, der die Namen seiner Opfer durch in ihre Unterarme tätowierte Nummern ersetzte – und so in der entgegengesetzten Weise ihr menschliches Recht auf das nackte Leben ausklammerte. Doch der deutsche Perfektionismus des Dritten Reiches ging eine Koalition mit den modernen Werten der Hygiene und der Effizienz ein (insofern waren die Gaskammern Nachfolge-Dispositive der Guillotine als Enthauptungs-Maschine) und glaubte so, eine Schwelle hin auf die Zukunft zu überschreiten, während der „Islamische Staat“ seine grauenvolle Sehnsucht nach einem archaisch-elementaren Moment in der eigenen Tradition kultiviert.
Die vor zweihundert Jahren in einigen europäischen und amerikanischen Gesellschaften dominierende „Geschichtsphilosophie“ hatte mit solchen zugleich konvergierenden und divergierenden Entwicklungen nicht gerechnet. Sie setzte, ob hegelianisch oder später marxistisch fundiert, auf die vermeintliche Gewissheit, dass sich bessere – „humanere“ – Formen des Lebens zukünftig „mit Notwendigkeit“ durchsetzen würden. Im späteren neunzehnten und im gesamten zwanzigsten Jahrhundert sind allerdings viele westliche Intellektuelle skeptisch gegen die eigene Unterstellung geworden, dass sich solch positive Entwicklungen „mit Notwendigkeit“ einstellen sollten, und haben zunehmend die Welt als ein Feld der Kontingenz, als eine existentielle Dimension der Unwägbarkeiten und Ambivalenzen beschrieben. Aufgeklärt und „humanitär“ erschien nun, wer in dieser Welt, die sich als ein Feld der Kontingenz zeigte, auf ihre Ränder als Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen setzte. Manche Menschenrechte zumindest sollten weiter als „unveräußerlich“ (also „notwendig“) gelten — und einige Verbrechen als „Verbrechen gegen die Menschheit“ (also „unmöglich“). In dieser Hinsicht hat sich unser Alltag des einundzwanzigsten Jahrhundert nun offenbar so verschoben, dass aus der Welt als Feld der Kontingenz zwischen den Zonen des Notwendigen und des Unmöglichen – nicht zuletzt in Folge der Akkumulation und wechselseitigen Abgleichung von allzu vielen verschiedenen „Kulturen“ in globaler Zeit – ein Universum der Kontingenz geworden ist, wo sowohl das seit der Aufklärung als „notwendig“ wie das seit der Aufklärung als „unmöglich“ Geltende wieder möglich geworden ist – und werden soll. Anders gesagt: wo alles möglich und nichts mehr notwendig oder unmöglich scheint.
Was zweihundert Jahre lang gegenüber den möglichen Formen menschlichen („humanitären“) Verhaltens als unmöglich ausgeschlossen war, kommt zurück unter der neuen Konstellation universeller Kontingenz, die absolut nichts mehr ausschließt – ohne dass wir es noch wagen, auf grundsätzlich Besseres zu hoffen. Es ist wieder möglich geworden – und eben nicht unmöglich geblieben – einst gezogene Grenzen und Schwellen zurück-zu-überschreiten, die „wir Menschen“ für immer hinter uns gelassen zu haben glaubten. Was uns bleibt, sind eher hilflose Reaktionen des Grauens – und symmetrische Reaktionen der Eskalation.
Der Artikel ist im FAZ-Blog "Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild | Bilder im Text: Grafische Darstellung der Redaktion
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Alina Zimmermann und Florian Gehm