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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Borussia Dortmund hatte vor einer Stunde das Bundesliga-Spiel gegen Frankfurt ohne Mühe und mit einigen schönen Spielzügen 4:0 gewonnen. An dieser Mannschaft als lebendige Tradition hängt mein Fußball-Herz seit 1956, als ich acht Jahre alt war und Borussia zum ersten Mal die deutsche Meisterschaft gewann. In der „Lounge“, die heute zur gepflegten Stadionerfahrung gehört, trinke ich dann, was nur in Dortmund vorkommt, ein Bier aus Freude (und noch eines). Ich verfolge die Interviews auf den allgegenwärtigen Bildschirmen und bin glücklich, am Ende einer Spannung auch, die über die ganze Woche angestiegen war, um während des Spiels so etwas wie Ekstase zu werden (was man sich natürlich nicht zu sagen traut), ich bin glücklich und melancholisch auch schon über das bevorstehende Ende des Tages. „Wenn Du noch mal auf eine Zigarette rausgehen willst“, sagt mein Freund Jochen, „dann geh die Treppe rauf und schau in das leere Stadion.“
Wo bis kurz nach siebzehn Uhr mehr als achtzigtausend Fans wie ein mystischer Körper das Spiel umgaben und sangen, dreißigtausend von ihnen auf dem langen Anstieg, der „Südkurve“ heißt, da sind eine Stunde später nur noch ein paar Angestellte, winzige Gestalten aus der Ferne von oben, die den Saum zwischen Spielfeld und Tribüne reinigen und dann in einem Gang verschwinden, wie abgesaugt. Für einige wenige Minuten bleibt das leere Stadion beleuchtet. Genau dieser Moment fasziniert mich – jetzt und nach jedem Spiel (wenn ich Zeit genug habe). Es ist ein sakraler Moment tatsächlich, weil ein Raum ausgegrenzt bleibt, obwohl diese Ausgrenzung keine praktische Funktion mehr hat, wenn das Spiel vorbei ist und die Fans gegangen sind. Es ist ein Raum, der nun wieder offen ist für etwas, das sich noch nicht ereignet hat.
Die Form aller Stadien inszeniert diese säkulare Sakralität, in der ein Kontrast zwischen dem Leben und dem Nichts auf dem Spiel steht. Stadien liegen an der Peripherie der Städte (und nun häufiger auch wieder in ihren Zentren), umgeben von der alltäglich-permanenten Bewegung, welche nur ihre Leere über die ganze Woche hervorhebt. Um diesen Kontrast zwischen Leere und Intensität geht es, der an dreizehn von vierzehn Tagen während der Spielzeit das Stadioninnere gegen die Welt außerhalb des Stadions setzt – und sich am Spieltag ins Stadion selbst verlegt. Dann ist das leere Spielfeld offen für die Mannschaften und ihre Trainer, schon wenn sie zum Aufwärmen kommen, zum Anstoß, zur zweiten Halbzeit, zu jedem neuen Spielzug – und am Ende schiebt unsere Mannschaft die Rückkehr der Leere hinaus, wie sie sich Hand-in-Hand von den Zuschauern der Südkurve verabschiedet.
All das weiß ich, wie ich von oben in das leere Stadion schaue, ich weiß es aber nicht in Begriffen oder Wissens-Einheiten, die durch mein Bewusstsein ziehen, sondern ich weiß es als eine Möglichkeit, als eine Choreographie, deren Teil ich werden kann, wenn ich mich auf sie einlasse. Dass ein Spiel auf dem sonst leeren Spielfeld je nach Bundesliga-Spielplan stattfinden wird, das ist die eine Vorgabe, welche bloß den Kontrast zwischen Leere und Bewegung unterstreicht; aber ob aus dem Spiel schöne Bewegungen und komplex-überraschende Spielzüge werden, ein Drama mit glücklichem oder tragischem Ende, das wissen wir nicht im voraus, das wird niemand garantiert, dafür können wir nur offen sein. „To be lost in focused intensity“, wie einmal ein berühmter Sportler auf die Frage geantwortet hat, was er sich als Belohnung für all die Stunden Training an der Grenze seiner physischen Möglichkeiten erhofft – und dies macht auch die Faszination der Zuschauer aus.
Eine Bühne, auf der sich das Leben verdichtet, ist das Stadion, Leben nicht als jene Existenz, die wir durch unser Handeln zu formen versuchen, sondern Leben, das auf uns zukommt und uns zustößt. Als Teil dieses Lebens nehmen wir uns selbst in der Choreographie des Stadions wahr, ohne ihre Formen verändern zu können. Teil des Lebens, das uns erfasst, werden wir im Stadion, nicht zuletzt in dem Sinn, dass dieses Leben nicht da ist während der langen Tage zwischen den Ereignissen – und dass es das Leben und die Welt auch überhaupt nicht geben könnte. Aber solche Begriffe und Gedanken, eher hilflose Gedanken, stellen sich erst ein, wenn ich über die letzte Sitzreihe, wenn ich über seinen Rand in das leere Stadion blicke, wo das Licht immer noch nicht verloschen ist. Während des Spiels kann ich eher eine Energie durch mich fahren und dann abebben spüren, denn das Stadion ist dann kein Symbol, und ich bin nicht das Bewusstsein, das ihm einen Sinn zuschreiben soll.
Wie ein Vakuum Wasser anzieht, so provoziert das leere Stadium Gedanken, Gedanken, die seine Intensität wie einen Grenzwert am Horizont vergegenwärtigen – aber auch immer schon auszuhöhlen drohen. Kein Ort der Reflexion ist das Stadion, sondern die geballte Möglichkeit einer Intensität, die zum Potential unserer Existenz gehört – ohne dass wir auf seine Einlösung pochen können. Bevor das Licht ganz verschwindet, gehe ich also allein und etwas unsicher zurück, über die Betonstufen, die mir jetzt sehr steil vorkommen. In der Lounge angekommen habe ich den Alltag und seine Bedeutungen wieder – und der Alltag hat mich. Kein Bier mehr heute.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen“ von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Christoph Kummer / flickr.com
Bilder im Text: Peter Fuchs / flickr.com, Borussia Dortmund / Pressebilder, Fanthomas (2) / flickr.com