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Ästhetik der grünen Bewegung?
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Funktionalismus

Ästhetik der grünen Bewegung?

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
19.03.2014
Das Argument, dass die Schönheit der Dinge aus deren Anpassung an ihre Funktion erwächst, hat mich eigentlich nie überzeugt.

Prof Dr Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessor für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Prof Dr Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der STANFORD UNIVERSITY. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.

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    Factbox
    Was ist Funktionalismus?

     In Architektur und Design versteht man unter Funktionalismus das Zurücktreten rein ästhetischer Gestaltungsprinzipien hinter den die Form bestimmenden Verwendungszweck des Gebäudes oder des Geräts. Daher stammt der berühmte Ausspruch „Form follows function“ („die Funktion bestimmt die Form“) von Louis Sullivan, der der populären Auffassung entsprang, eine zeitgemäße Schönheit in Architektur und Design ergebe sich bereits aus deren Funktionalität.

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Seit drei, vier Jahren schon regnet es nicht genug in Nordkalifornien. Die Niederschlagsmenge liegt Monat für Monat unter dem für eine langfristig gesicherte Wasserversorgung errechneten Minimum. Solche Situationen sind in unserer Region um Stanford deshalb besonders prekär, weil der dichter bevölkerte und trockenere südliche Teil des Bundesstaats selbst bei idealen Voraussetzungen von der Schneeschmelze im Norden abhängig ist. Unter dem meist strahlenden, aber weiter regenlosen Wetter der vergangenen Herbst- und Wintermonate hat sich die Situation nun dramatisch verschärft. Für den kommenden Sommer ist mit dem intensivsten Wassermangel seit den siebziger Jahren zu rechnen (einige Statistiken sind sogar zu dem Ergebnis gelangt, dass die Zahlen noch nie zuvor so bedrohlich ausgesehen haben). Vor einigen Wochen hat die Regierung in Sacramento offiziell einen „Wassernotstand“ erklärt. Das heißt, dass demnächst Verbrauchsgrenzen für Haushalte und Institutionen festgelegt werden, an deren Überschreitung erhebliche Geldstrafen gebunden sind — sollte sich die Lage nicht plötzlich ganz entscheidend verbessern. Doch dafür geben die langfristigen Wetterprognosen bisher keinerlei Anlass.

Am Tag der staatlichen Notstandserklärung erreichte die besorgte E-Mail-Botschaft einer Nachbarin alle Haushalte auf dem Campus, wo ich arbeite und wohne: „Sollten wir nicht, da der Notstand jetzt offiziell erklärt ist, die Bewässerung der gemeinsamen Rasenflächen reduzieren oder ganz einstellen? Es bereitet mir ein schlechtes Gewissen, den grünen Rasen zu sehen, während wir in solch extremer Trockenheit leben, und ich möchte wissen, ob es anderen auch so geht.“ Dass diese Reaktion plausibel und möglicherweise sogar einfach richtig ist, steht gewiss nicht in Frage. Trotzdem will ich zugeben, dass mich jene Formulierung gestört hat, die den „grünen Rasen“ direkt mit einem „schlechtem Gewissen“ verbindet. Denn sie wirkte wie ein Durchstreichen des besonderen existentiellen Werts, der in einer schönen Umwelt liegt — so als ob grüner Rasen oder blühende Bäume nicht mehr wären als eine letztlich überflüssige Dekoration. Deshalb schickte ich meiner Nachbarin eine Antwort-Mail, in der allerlei Formeln des Einverständnisses und der Entschuldigung den Satz einrahmten, dass „grüner Rasen auch ein existentieller Wert“ sei – und bekam nicht einmal eine empörte Reaktion.

Sind bei Rassenbewässerung während einer Wasserknappheit die Grenzen der Ästhetik erreicht?
Sind bei Rassenbewässerung während einer Wasserknappheit die Grenzen der Ästhetik erreicht?
Was ist Funktionalismus?


Denn die trockene Schärfe der ökologischen Moral, so mein Eindruck, untersagt schon das bloße Bedauern über verdorrende Pflanzen. Ähnliche Reaktionen löste vor Jahren in Deutschland die eher beiläufige gemachte Bemerkung aus, dass in einem so dicht besiedelten Land die allenthalben – natürlich aus guten Gründen – aufgestellten Windräder (in Amerika redet man von „windfarms“) schöne Landstriche immer seltener machen. Die echauffierten Antworten machten nicht bei der ökologischen Überlebens-Rationalität halt. Dass Windräder eher die Schönheit der deutschen Mittelgebirge und Ebenen hervorheben, wollte man mir entgegenhalten. Unterstellt war ein Argument aus dem Repertoire des im frühen zwanzigsten Jahrhundert so programmatischen und populären Funktionalismus, nach dem Schönheit notwendig aus der weitestgehenden Anpassung von Gegenständen an die ihnen zugewiesenen Funktionen erwachsen müsse.

Eigentlich hat mich diese oft sehr philosophisch daherkommende Meinung noch nie überzeugt. Doch erreicht die Logik eine Grenze, selbst wenn sie für Artefakte, für von Menschen gestaltete Gegenstände also, ausnahmslos gelten sollte, sobald sie mit Naturschönheit in Berührung kommen. So funktionalistisch perfekt Windräder auch aussehen mögen, sie nehmen Landschaften den Zauber ihrer Unberührtheit. Auf eine strukturell ähnliche Grenze stößt die ökologische Wert-Prämisse, nach der es unsere Pflicht ist, den Planeten – und seine Schönheit – für zukünftige Generationen zu bewahren. Von ihr haben Radikal-Ökologen in den Vereinigten Staaten die Forderung abgeleitet, alle Nationalparks über die kommenden Jahrzehnte (wenn nicht gar unbegrenzt) für Besucher zu schließen. Gibt es keinen Anspruch der Gegenwart auf Schönheit als existentiellen Wert?

Offenbar haben sich Perspektiven und Kriterien genuin ästhetischer Wertschätzung in der grünen Bewegung noch kaum etabliert. Denn die Freude an Farben, Formen und anderen Bezugspunkten sinnlicher Wahrnehmung ist dort ganz absorbiert und neutralisiert von Gesten, in denen stolz und etwas rechthaberisch das Wissen um ökologische Probleme zur Sprache kommt. Es gibt eine grüne Ästhetik des Recycling, die auf der Freude über die Bewahrung begrenzt vorhandener Materialien beruht; es gibt eine Ästhetik der Birkenstock-Sandalen als Ausdruck gesteigerten Gesundheitsbewusstseins; oder auch eine Ästhetik der vegetarischen Gastronomie, welche sich für die Nachahmung der Geschmackseffekte von ausgeschlossenen Nahrungsmitteln begeistert („diese Pizza schmeckt wirklich wie Rehbraten!“). Der Genuss der Gegenstände, Wahrnehmungen und Erfahrungen selbst aber, um deren Erhalt – für die Zukunft und für die Gegenwart – es doch eigentlich gehen soll, wird fast verdrängt im Alltag der ökologisch beseelten Zeitgenossen.

Dabei existiert eine nach ihren Werten ökologische Ästhetik schon seit einem guten Jahrhundert. Aber vielleicht hat ihre eigene Aura – mit anderen Worten: der Eindruck einer sie umgebenden „ästhetischen Autonomie“ — diese Tradition von der Welt der politisch praktischen Impulse isoliert, denen die grüne Bewegung ihre Energie verdankt. Vor allem in der Praxis der Architektur und den sie begleitenden Reflexionen hat sie sich ausdifferenziert. Zwei ihrer emblematischen Protagonisten sind der Amerikaner Frank Lloyd Wright (dessen Werk zur ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert gehört) und (in unserer Gegenwart) der Schweizer Peter Zumthor, und ihre Leistungen konvergieren mit Überlegungen Martin Heideggers (vor allem aus den fünfziger Jahren) über „Wohnen“ und „Bauen“ als Dimensionen der menschlichen Existenz – ohne dass sich ein wirklicher Einfluss der Philosophie auf Planen und Bauen ausmachen ließe.

Falling Water entworfen von Frank Lloyd Wright
Falling Water entworfen von Frank Lloyd Wright

Im Vordergrund der Ästhetik von Frank Lloyd Wright, Zumthor, Heidegger (und anderen) steht die zunächst paradoxal wirkende Umkehrung einer gewohnten Denkbewegung. Das Wohnen soll dem Bauen vorausgehen. Mit „Wohnen“ ist dabei die uns immer aufgegebene Möglichkeit gemeint, ein Verhältnis zwischen der physisch-räumlichen Umgebung und den praktischen wie affektiven Bedürfnissen unseres Lebens zu finden. Erst unter dieser Voraussetzung und aus dieser Perspektive kann eine spezifische Umwelt zur „Landschaft“ werden, zu einer Siedlung oder auch zu einem Kulturraum. Die Rationalität praktischer Funktionen darf dabei nie selbstverständlich oder gar allein im Vordergrund stehen – selbst dann nicht, wenn diese Rationalität ökologischen Werten unterstellt sind. Deshalb gehört zum Stil von Frank Lloyd Wright und von Peter Zumthor eine Zurückhaltung in der Planung und Realisierung ihrer Gebäude. Diese Gebäude bringen Landschaft hervor, weil sie gleichsam hinter die angetroffenen Strukturen der Natur zurücktreten und versuchen, ein Teil von ihnen zu werden – ein Teil, der zwischen Menschen und ihrer Umwelt vermittelt. Solche Architektur finden wir nicht deshalb schön, weil sie der einen oder anderen formalen Mode entspricht, sondern weil sie eine Erfüllung in Aussicht stellen – genauer: weil sie die Hoffnung wachhalten, dass es so etwas geben könnte wie ein „richtiges“, ein kosmologisch passendes Verhältnis zu unserer physischen Umwelt.

Wenn aber ökologische Politik allzu konsequent und rational ihre Ziele verfolgt (die fast immer von einer Sorge um das Überleben der Menschheit abgeleitet sind), dann läuft sie Gefahr, genau jenes Verhältnis des „Wohnens“ in der Natur zu zerstören und bleibend vernarben zu lassen, welches eine Grundlage lebenswerter Existenz sein kann. Dass man selbst eine verbrannte Rasenfläche schön finden kann oder eine Windfarm auf der anderen Seite einer Anhöhe, will ich ja nicht bestreiten. Nur wird sich eine schöne Landschaft dort nie herausbilden, wo Bauen das Symptom einer rationalen Beherrschung von Natur ist – selbst wenn das Herrschen dem Erhalten der Natur dienen soll (und wirklich dient).

Moralisch vergiftete Gewissensbisse werde ich mir jedenfalls nicht zumuten, wenn mich in den kommenden Wochen und Monaten das Verdorren unserer Rasenfläche traurig macht. Doch jetzt ist plötzlich, fast unbemerkt, der erste Regen seit Monaten gefallen, während ich diesen Text fertigschrieb.

Titelbild: Thaddäus Zoltkowski: flickr.com

Bilder im Text: Robert S. Donovan: flickr.com, Phil Romans: flickr.com

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