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Der gebürtige Würzburger Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt.
Nicht immer bewährt sich die verklärende Kraft unseres Rückblicks auf die Kultur der Vergangenheit, und wo sie versagt, da ist die Wirkung meist schlimmer als nur ernüchternd. Jüngst habe ich den Monumental-Film (sagte man damals) „Die zehn Gebote“ von 1956 wieder gesehen, in einem sehr schön rekonstruierten historischen Kino mit stets angestrengten Sonder-Programmen (es soll das „hobbie-horse“ der Packard-Familie von „H&P“ sein), achtundfünfzig Jahre nachdem mein Firm-Pate inmitten der Erstkommunion-Vorbereitungen die erbauliche Idee hatte, uns beiden die fast vier Stunden der Hollywood-Geschichte von Moses zuzumuten. Vier Stunden Kino (mit Pause) vergehen wohl heute wohl eher noch langsamer als damals; wieder einmal wurde ich außerdem daran erinnert, dass Special effects nicht notwendig besser werden, wenn sich die Geschichtlichkeit ihrer Technologie in den Vordergrund drängt; und peinlich berührte es schließlich den Amerikaner in mir, dass die Protagonisten und ihre Schauspieler, vor allem der vollbärtige Charlton Heston als Moses und der glatzköpfige Yul Brynner als Ramses II., wie südkalifornische Pastoren im Kalten Krieg sprachen und predigten, während das gefangene Israel mit farbiger Aufdringlichkeit für westliche Freiheit und ägyptische Tyrannei für die Sowjetunion standen, was zu erkennen mir im Erstkommunionjahr natürlich erspart geblieben war.
Schlimmer als ernüchternd tatsächlich wurde dieses Film-Erlebnis, weil bald auch die Erinnerung durchbrach, wieviel kindliche Anstrengung es schon 1956 verlangt hatte, vor meinem wohlmeinenden Paten (und mir selbst) zu verbergen, dass ich einfach nur gelangweilt war. Diesmal aber, wo ich es mir leisten konnte, durch lange Passagen im Leben des Moses einfach zu schlafen und den Schluss-Applaus des kundigen Cineasten-Publikums („eine der erfolgreichsten Hollywood-Produktionen aller Zeiten“) nervend zu finden, riss mich eine ganz andere Faszination aus der einsetzend schlechten Laune. Gerade vor mir nahm ein groß gewachsener Mann unter der bei amerikanischen Film-Liebhabern so beliebten Baseball-Mütze Platz – und begann unversehends, mit seinem Handy Videos von dem Hammond-Orgel Spieler auf seiner versenkbaren Bank zu schießen, dessen glamouröse Melodien den Film umrahmten, von langen Sequenzen des Films auch (was ich viel erstaunlicher fand) — und vor allem von sich selbst auf seinem Programmkino-Sitz. Ich selbst bin elektronisch inkompetent genug, um nicht einmal zu wissen, ob die unter den gegebenen Bedingungen entstandenen Videos und Bilder je als visuelle Erinnerungen abrufbar sein werden. Aber darauf kommt es kaum an.
Ein philosophisches Interesse an vielerlei Formen von elektronischer Erinnerungsproduktion setzt ein bei einem Phänomen der Quantität und Proportion. Seit der Erfindung klassisch photographischer Bilder und Filme war es zwar möglich geworden, (vergleichsweise) Subjektivitäts-freie Erinnerungen zu speichern, doch die je spezifischen quantitativen Grenzen dieser Möglichkeit waren allzu deutlich: die von Amateuren benutzte Film-Patrone für Kameras kam nach maximal sechsunddreißig Aufnahmen an ihr Ende, und der acht-Millimeter-Schmalfilm bot (eben zur Zeit meiner Ernstkommunion) gerade vier Minuten Erinnerung für damals erhebliche zwanzig D-Mark. Heute hingegen wirken (zumal vor diesen historischen Hintergrund) die Speicherkapazitäten „unendlich“ – und werden doch erstaunlicherweise genutzt, oft sogar erschöpft. Ich bin mir sicher, dass der Mann mit der Baseball-Mütze mindestens während der Hälfte der so langen Kino-„Gebote“ sein Video mitlaufen ließ; und auch Museums-Besucher, die – aus der Hüfte sozusagen und ganz habituell – jedes Bild riesiger Ausstellungen photographieren (wollen und dürfen), sind längst keine Seltenheit mehr.
Zugleich ist es aber angesichts der neuen Proportionen zwischen gespeicherter und aktuell verlaufender Zeit ganz undenkbar, dass auch nur ein Bruchteil der gespeicherten Zeit je aktiviert und wieder erlebt wird – so wie es mit dem Photo-Album vom Sommerurlaub und dem Schmalfilm vom ersten Schultag früher durchaus und gerne der Fall war. Welches vorbewusste Bedürfnis, welcher halbbewusste Traum, das ist meine erste Frage, könnte also hinter der zum Basso continuo des Alltags gewordenen laufenden elektronischen Erinnerungsproduktion stehen? Möglicherweise verschiebt sich mit ihr zunächst der Akzent primärer Wirklichkeit. „Wirklich“ im primären Sinn sind für die mit elektronischer Technologie aufgewachsenen Generationen ja vielleicht gar nicht mehr jene Gegenstände der visuellen und auditiven Wahrnehmung, die in der denkbar unmittelbarsten Weise auf unsere Augen und Ohren wirken, sondern vor allem jene, welche durch eine zwischen diese Organe und den Gegenstand ihrer Wahrnehmung geschobene elektronische Apparatur „festgehalten“ wurden.
Wenn die gespeicherte Wahrnehmung aber tatsächlich auf dem Weg sein sollte, zur primären Wirklichkeit zu werden, dann erfüllt sich in der laufenden Erinnerungsproduktion – je vollständiger desto überzeugender und ganz unabhängig von den Momenten aktiver Reaktualisierung – der archaische und noch nie verblasste Wunsch, das existentielle Gesetz von der Unumkehrbarkeit der Zeit aufzuheben. Denn aus der Vergangenheit als jener Dimension unserer Existenz, an der wir letztlich nicht festhalten können und die wir also hinter uns lassen müssen, ist der Teil einer (neuen) Gegenwart geworden, welche sich durch die Anhäufung solcher gespeicherten Einschlüsse immer mehr verbreitert, ohne dass eine Grenze der Expansion in Sicht kommt. Anders gesagt: wir ersparen uns den bisher in unserer Existenz unvermeidlich mitlaufenden Schmerz des Verlustes von Erlebtem an die Vergangenheit — und handeln uns dafür eine Komplexität der potentiell vorhandenen Wirklichkeit ein, vor der wir wohl schon immer überfordert sind.
Neben dieser unterschwelligen Transformation des Verhältnisses zur Vergangenheit, deren Folgen wir noch nicht abschätzen können, markieren die Selfies speziell eine technologisch erneuerte – und sozusagen „verschärfte“ — Version jener Momente, wo Weltwahrnehmung auf die Perspektive und Modalität von Selbstreflexivität umschaltet, das heißt: auf „Beobachtung zweiter Ordnung“ (wie Niklas Luhmann gesagt hätte), eben auf Selbstwahrnehmung im Akt der Weltwahrnehmung. Grundsätzlich ist Selbstreflexivität als Möglichkeit in der Struktur des menschlichen Bewusstseins angelegt, dem es schon immer gelang, simultan zur (primären) Umwelt-Wahrnehmung parallel (oder sekundär) Selbstwahrnehmung laufen zu lassen – die mitlaufende Selbstwahrnehmung kann Teil der primären Umwelt-Wahrnehmung oder von ihr (gleichsam „auf einer sekundären Ebene“) abgesetzt sein. Während aber die auditive Variante der Selbstwahrnehmung schon immer, sozusagen „empirisch“ möglich war, blieb die Modalität visueller Selbstwahrnehmung bis zur Schwelle der elektronischen Technologie auf die Vorstellungskraft angewiesen (wir konnten uns nicht in Gleichzeitigkeit mit eigenen Augen sehen). Dass visuelle Selbstbeobachtung in Simultanität nun durch neue Technologien empirisch geworden ist, hat natürlich die Entwicklungsperspektiven bestimmter Verhaltensformen (zum Beispiel beim Sport oder auf dem Laufsteg) grundlegend verschoben.
Aber noch einmal: worin liegt die besondere Anziehungskraft der innerhalb dieses technologischen Rahmens beständig geschossenen Selfies? Die sofort sich anbietende These eines in ekstatischer Wiederholung aufladbaren und so enorm zu steigernden Narzissmus ist einerseits bis zur Banalität zutreffend, wird aber andererseits wohl nicht grundsätzlich durch einen bisher nie dagewesenen Grad der Verliebtheit in solche Selbstbilder bestätigt (er unterscheidet sich heute wohl kaum vom Grad der Selbstverliebtheit, wie er für klassische Photographien typisch war). Eher, vermute ich, liegt die besondere Funktion der elektronischen Selfies und ihrer Zeitlichkeit darin, ein neues Funktionsäquivalent jener Bewusstseinsbewegungen geworden zu sein, durch die wir bestimmten Momenten im Erleben eine besondere „Bedeutung“ zuweisen, um so dem Erleben — und unserem Leben — eine Struktur zu geben.
Die Differenz zwischen dem Selfie und vor-elektronischer Reflexivität ergibt sich daraus, dass früher solche Markierungen des Erlebens – entweder in unserer Vorstellung oder im zeitlichen Abstand einer Photographie — durch die Erzeugung einer zusätzlichen Bedeutungsdimension erreicht wurden (durch „Momente der Tiefe,“ durch „Komplexität der Erfahrung“ gegenüber dem eher „oberflächlich“ laufenden Erleben), während jetzt der schnelle Gestus des einhaltenden Moments vor dem Handy – eben ohne zusätzliche Bedeutungsdimension – ausreicht (so erklärt sich wohl die geradezu explosive Selfie-Produktion der Nationalspieler während der Minuten nach dem Sieg im Weltmeisterschafts-Endspiel: ihre Zahl ersetzte die „Tiefe“ der selbstreflexiven Bedeutungsproduktion, wie sie Nationalspielern glücklicherweise nicht liegt, aber von Fritz Walter und seinen Kameraden 1954 durchaus noch verlangt wurde). Und während es früher zum Zweck der traditionellen Bedeutungs-Strukturierung von Erleben hilfreich war, seine Selbstbeobachtung in ein — bedeutungsproduzierendes — Gespräch zu überführen, ist nun schon längst das Angebot (und oft: Über-Angebot) wildfremder Zeitgenossen, ein Photo für uns zu schießen, zu einer neuen sozialen Institution geworden.
Diese erlebnisstrukturierende Funktion der Selfies lebt also eher von der Geste ihrer Produktion als von den visuellen Inhalten, was natürlich nicht heißt, dass die visuellen Inhalte funktionslos bleiben. Sie finden eine sekundäre – und insgesamt dominante – Verwertung auf vielfältigen Websites, auf dem Facebook und in allen denkbaren Varianten der „sozialen Medien“, mit deren Entwicklung eine Dimension von gesellschaftlicher Selbst- und Rollen-Präsentation deutlich an Kontur und Komplexität gewonnen hat, welche schon immer, seit den archaischen Formen menschlichen Zusammenlebens, existiert hat. Dabei scheinen die eingetretenen Veränderungen eher graduell als qualitativ einschneidend zu sein. Während früher die Gelingens-Chance einer sozialen Selbstpräsentation vom individuellen Geschick, aber auch vom Status der jeweiligen Person abhängig war, fügen sich die elektronischen Medien als Instrumente der Selbstpräsentation heute – wirklich weitestgehend — jeder individuellen Intention. Auf dieser Grundlage aber hat sich nicht allein die allgemeine Gelingens-Möglichkeit der Selbstpräsentation verbessert – mit ihr ist auch eine neue Intensität an Peinlichkeit entstanden und also auch eine neue Gefahr der Selbst-Diskreditierung.
Die Tonlage dieser Beobachtung konvergiert mit den anderen Antworten auf die Frage nach einer Philosophie der Selfies. Sie haben als eine von der elektronischen Technologie eröffnete Sonder-Möglichkeit der Selbstbeobachtung unser Verhältnis zu uns selbst und zur Welt als unserer Umgebung in vielfach komplexer Weise verändert, ohne dass sich daraus bisher eine grundlegende Diskontinuität ergeben hätte. Unser Verhältnis zur Vergangenheit hat sich in diesem Zusammenhang gewiss — und wohl für immer – gewandelt und ebenso der Akzent, welcher Gegenstände unserer Wahrnehmung und unseres Erlebens als „wirklich“ ausweist. Am erstaunlichsten ist aber wohl eine Rahmenbedingung, von der wir nur selten explizit reden, nämlich die problemfreie Selbstverständlichkeit, ja sozusagen die „Schmerzlosigkeit“, mit der sich überkommene Formen des menschlichen Bewusstseins mit neuen technologischen Möglichkeiten verfugen – und so eher einen Drift, eine kraftvolle Richtung existentieller Struktur-Verschiebungen hervorbringen als eine Revolution in unserer Selbstreferenz. Statt Stürme von donnernden Thesen heraufzubeschwören, braucht eine Philosophie der Selfies die Geduld zu mitlaufend detaillierten Beobachtungen und nuancierten Unterscheidungen. Den Schauspielern der „Zehn Gebote“ von 1956, dachte ich, hätte die von den Selfies verschobene Peinlichkeitsschwelle wohl gut getan.
Der Artikel ist im FAZ-Blog „Digital/Pausen" von Hans Ulrich Gumbrecht erschienen.
Titelbild: Paško Tomić / flickr.com (CC BY-2.0)
Bilder im Text: Framepile / flickr.com (CC BY 2.0),
Susanne Nilsson / flickr.com (CC BY-SA 2.0),
„Bill Nye, Barack Obama and Neil deGrasse
Tyson selfie 2014“ vonThe White House
Lizenziert unter Gemeinfrei über
Adam Rifkin / flickr.com (CC BY 2.0),
John Ragai / flickr.com (CC BY 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann