ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Einen Monat vor der Fußballweltmeisterschaft in Russland hatte der bei Arsenal London verpflichtete deutsche Nationalspieler Mesut Özil eine Einladung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu einem Treffen während seines Staatsbesuches in England angenommen, das die Medien im Land von Özils Vorfahren weidlich für einen damals laufenden Wahlkampf ausschlachteten; Nach dem sensationell frühen Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft beim Weltturnier schwoll die von Beginn erstaunlich intensive Empörung über diesen eher marginalen Anlass zu einem öffentlichen Skandal an, innerhalb dessen man Özil auch von offizieller Seite als Hauptverantwortlichen für das sportliche Scheitern identifizierte und mit rassistischen Formulierungen beleidigte; Ende Juli nahm Özil dann zum ersten und einzigen Mal öffentlich Stellung, mit einer auf Englisch verfassten Reaktion, die an Offenheit (auch im Blick auf eigene Gefühle der Verletzung) nichts zu wünschen übrig ließ und mit einer Rücktrittserklärung aus der Nationalmannschaft endete. In Gelsenkirchen, wo er zur Welt kam und aufwuchs, war seine frühere Grundschule so weit gegangen, einen Termin mit Mesut Özil und der von ihm gegründeten Stiftung für unterprivilegierte Kinder abzusagen.
Wenn selbst Medienbenutzer der Nachbarländer sich vor Episoden und Bildern aus dieser Geschichte kaum retten konnten, hat sie in Deutschland eine Komplexität von Details und Deutungen entfaltet, die zu der Frage führen muss, ob denn noch irgendetwas zu sagen bleibt. Die Antwort ist überraschend. Denn in der anhaltenden Aufregung blieben drei nicht nur aus deutscher Perspektive besonders wichtige Fragen ausgespart: Wie ist Özils sportliche Leistung – vor allem bei der vergangenen Weltmeisterschaft – einzuschätzen? Könnte ein Krisensyndrom von vergleichbarem Ausmaß aus einem so banalen Anlass auch in anderen Ländern entstehen? Und was sollte heute – nicht nur im Fußball – der symbolische Status von Nationalmannschaften sein?
Mesut Özils internationale Karriere setzte bei der Fußballweltmeisterschaft 2010 in Südafrika ein, als er 21-jährig zur Symbolfigur eines Stilwandels im deutschen Fußball wurde, der die traditionellen „nationalen Tugenden“ von höchstem physischen Einsatz und unbeugsamem Siegeswillen mit der Leichtigkeit einer neuen Eleganz ersetzte. Als sein besonderer Beitrag lässt sich die Effizienz von unvorhersehbaren Körpertäuschungen und überraschenden Kurzpässen im entscheidenden Augenblick beschreiben. Diese ganz unerwartete Aura brachte Özil einen Vertrag bei Real Madrid ein, wo er schnell zum strategischen Partner von Cristiano Ronaldo und zentralen offensiven Mittelfeldspieler aufstieg. In einer ähnlichen Rolle hat er sich seit 2013 bei Arsenal London als hochbezahlter Star der international führenden englischen Liga etabliert.
Da zur Erfolgsformel für den deutschen Sieg bei der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien jedoch ein Kompromiss zwischen der Rückkehr zu sicherheitsbetontem Spiel und einer klarer funktionalen Einbindung der neuen Eleganz wurde, nahmen Özils Einfluss und Sichtbarkeit trotz des Titelgewinns ab. Hinzu kam die inzwischen deutlich gewordene Schwierigkeit, in ausschlaggebenden Situationen die Leistungen seiner Mannschaften anzuheben. Solange sie ohnehin in Spiellaune sind, macht Özil seine Kollegen noch besser – und darüber hinaus vermag er nicht selten einem Durchschnittsmatch den Glanz brillanter Intuitionen und Bewegungen zu geben. Doch er stand auf verlorenem Posten, als es den Mitspielern im Sommer nicht gelingen wollte, einen kollektiven Rhythmus zu finden – ohne diese rätselhafte Lähmung ausgelöst zu haben. Wenn der Präsident von Bayern München und Alt-Weltmeister Uli Hoeneß ihm wörtlich und öffentlich vorwarf, „seit Jahren einen Dreck gespielt“ zu haben, dann sprach daraus allein eine altbackene Fußballästhetik – und ein massives Vorurteil.
In der rückblickenden Entrüstung über Özils Treffen mit Erdogan hatten sich zwei Impulse getroffen, wie sie aus historischen Gründen allein in Deutschland vorkommen: Zum einen – und paradoxerweise – der anhaltende Drang, in verkrampfter Hinwendung auf „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ (schon dieser Euphemismus ist ja eine deutsche Spezialität) zu demonstrieren, dass es dort keinen Rassismus mehr gibt; zum anderen die in „ethischer“ Selbstgefälligkeit vorauseilende und geradezu kantische Strenge, mit der in radikaler Absetzung von der eigenen Geschichte jegliche Positionen an den Rändern des klassischen Demokratiemodells gnadenlos als illegitim ablehnt werden (Erdogan ebenso wie Putin oder Trump). Daraus ergibt sich die wirklich „vermurkste“ Konsequenz, dass ein guter Deutscher und zumal ein deutscher Nationalspieler nur sein darf, wer das politische Credo sozialdemokratischer Studienräte teilt. Als Fundament gehört zu solcher Gewissheit ein Festhalten an der Norm nationaler „Leitkultur“, das vor Jahren den Bundespräsidenten zu der absurden Feststellung stolpern ließ, der Islam sei Teil ihrer deutschen Version. In England oder Frankreich, den klassischen Nationen des Imperialismus und der bürgerlichen Revolution, mag sich die Spannung zwischen kulturellen Unterschieden bis heute ungleich schärfer artikulieren, doch zugleich steht dort außer Frage, dass Staatsangehörigkeit ausschließlich ein erworbenes Recht auf politische Teilnahme sein soll. Und diese Einstellung hat sich auch in der Schweiz gegenüber den Secondos durchgesetzt.
Am Horizont des deutschen Sonderfalls hängt als schicksalsschwangere Wolke die nie verloschene Erinnerung an jene Mannschaft von Kriegsteilnehmern, deren ganz unerwarteter (und wohl auch unverdienter) Sieg beim Weltmeisterschaftsendspiel von 1954 in Bern eine kollektive Selbstversöhnung unter dem Motto „Wir sind wieder wer“ einleitete. Sie erklärt die Hartnäckigkeit, mit der man am Status des Fußballs als Allegorie der Nationen festhält. Dabei haben sich Weltmeisterschaften längst zu Sommerturnieren unter Ausnahmevoraussetzungen weiterentwickelt. Während sich die Höchstleistungen dieses Sports heute in wenigen Ligen ereignen, deren Mannschaften die Stars aller Nationen bündeln und im Wettbewerb halten, werden dieselben Spieler alle zwei Jahre in kontinentaler oder globaler Öffnung für wenige Wochen und außerhalb der etablierten wirtschaftlichen Hierarchien nach dem Kriterium der Staatsangehörigkeit umverteilt, um innerhalb einer exzentrischen Wettbewerbsstruktur gegeneinander anzutreten. Der Reiz der Variante gegenüber der Kontinuität des leistungsstärkeren Normalfalls entsteht erstens aus der größeren Abweichung ihrer Ergebnisse gegenüber allen Prognosen und zweitens aus der den Zuschauern eröffneten Möglichkeit, sich einmal mit anderen Spielern zu identifizieren und unter anderen Aspekten ihres Selbstbilds zu vergnügen.
Gerade in Deutschland schrillen die Sirenen des Protestes, wenn Erfolge in diesem Zusammenhang national ausgedeutet und „politisch missbraucht“ werden – mit Ausnahme der Reaktionen auf die eigene und bestimmt bald wieder erfolgreichere „Mannschaft“. So geriet die sportliche Blamage zum Emblem einer angeblich an jenen deutschen Bürgern gescheiterten Integration, denen die Leitkultur egal ist. Zeitgemäßer wäre es, sich darüber zu freuen, dass ein Deutscher mit dem türkischen Namen Mesut Özil nach der nationalen Klammer der Weltmeisterschaft weiter ein Star in der internationalen Welt der englischen Liga bleiben wird.
Der Artikel ist am 16.08.2018 unter dem Titel „Özils Leichtigkeit einer neuen Eleganz“ in der Wochenzeitung „Die Weltwoche“ erschienen.
Titelbild:
| Granada / Eigenes Werk (CC BY-SA 4.0) | Link
Bilder im Text:
| President of Russia / en.kremlin.ru (Pressebilder) | Link
| Kremlin.ru (CC-BY 4.0) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm