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Dr. Dietmar Schirmer ist akademischer Mitarbeiter mit Lehraufgaben am Lehrstuhl für Vergleichende Politikwissenschaft - Schwerpunkt Europäische Institutionen an der Zeppelin Universität. In der Vergangenheit hat er an folgenden Universitäten gelehrt: Freie Universität Berlin, Cornell University, Universität Wien, University of British Columbia und University of Florida. Sein Fachgebiet ist die Vergleichende Politikwissenschaft mit regionaler Spezialisierung in Europa. Seine Forschungsinteressen umfassen die historische Soziologie der Staatsbildung, Nationalismus, Populismus, europäische Integration und die Ästhetik des Politischen.
Einiges von dem, was ich über amerikanische Politik weiß, weiß ich von Theodore Lowi, dem wahrscheinlich wichtigsten Interpreten von Public Policy und Public Philosophy in den USA. Um die Jahrtausendwende herum waren wir fünf Jahre lang Nachbarn in Ithaca (New York), ein paar hundert Meter außerhalb des Campus von Cornell, wo ich ein kleiner DAAD-Professor war und Ted Lowi der berühmteste Mensch auf dem Campus, eine „Larger-than-life“-Figur, flamboyant, mit unglaublicher rhetorischer Wucht in seinen Vorlesungen und mit unverhohlener Lust an der Polemik.
Ein paar Jahre, bevor ich ihn kennenlernte, hatte Lowi „The End of the Republican Era“ veröffentlicht – eine Vivisektion der von Ronald Reagan in den 1980er-Jahren geschmiedeten Republikanischen Koalition vor dem Hintergrund von gut 200 Jahren amerikanischer politischer Ideengeschichte und mit dem Leitgedanken, dass die Reagan-Koalition unausweichlich ihrem eigenen Untergang entgegenstrebte. Seit Donald Trump im Oval Office residiert, habe ich dieses Buch wieder öfter in die Hand genommen.
Die Arbeit an dem Buch hatte Lowi in der Spätphase der Präsidentschaft des älteren Bush begonnen; als es erschien, hatte Newt Gingrichs „Republican Revolution“ gerade vier Jahrzehnte demokratischer Dominanz im Repräsentantenhaus hinweggefegt und die Präsidentschaft Bill Clintons in den Schwitzkasten genommen. Oberflächlich betrachtet, mochte man darin die praktische Widerlegung der These des Buches sehen, aber weiter daneben hätte man nicht liegen können.
Ted Lowi sah sich durch den Triumph des Gingrich-Flügels nicht widerlegt, sondern bestätigt. Der elektorale Erfolg Reagans war darauf gegründet gewesen, zwei inkompatible philosophische Systeme zusammen zu zwingen – um den Preis, das politische System zu immobilisieren und – in der Folge – zu delegitimieren. Die beiden Philosophien waren „Old Liberalism“ – der moralisch agnostische individualistische Marktkapitalismus in seiner modernen, durch Ayn Rand und Milton Friedman radikalisierten Form – und ein genuiner Konservatismus („Burke plus the bible“), der in der amerikanischen Tradition zuvor keine große Rolle gespielt hatte. Damit konnte er Wahlen gewinnen, aber keine positive Politik machen, weil die beiden Pole gegensätzliche Erwartungen an die Regierung formulierten.
Gridlock – Stillstand – wurde zum universalen Deskriptor für den Zustand des politischen Systems. Aber während der öffentliche Diskurs damit die wechselseitige Blockade von demokratisch dominiertem Kongress und republikanischer Präsidentschaft meinte, ging es tatsächlich um den ideologischen Gegensatz von Liberalismus und Konservatismus. Das ist, was sich hinter Reagans berühmten Satz „Government is the problem, not the solution“ verbirgt: ein durch Reagans Koalition selbst zur Handlungsunfähigkeit verdammtes politisches System, das Probleme vertagen, aber nicht lösen konnte, und dem die Bürger das Vertrauen entzogen.
Das ist der Grund für Lowis Spiel mit der Ambiguität von Republican und republican, das sich durch das ganze Buch zieht. Liest man Republican era mit großem R, so geht es um das Ende der Ära der Partei; liest man republican era mit kleinem R, geht es um das Ende der amerikanischen Republik. Weil Reagan seine Republikanische Ära aber mit der Immobilisierung der Regierung erkauft hatte, hatte er gleichzeitig die Axt an das Grundvertrauen ins politische System gelegt, weshalb die beiden Enden – das der Republik und das der Partei – kausal miteinander verknüpft sind.
Opfer dieses Vertrauensverlustes in die Regierung war zunächst der Kongress, während gleichzeitig die Präsidentschaft aufgewertet wurde. Noch vor Ablauf seiner ersten Amtszeit begann Reagan die evangelikale Rechte zu umarmen, um sie fest in die republikanische Partei zu zementieren und sich eine ausreichend große Wählerbasis zu sichern. Damit mobilisierte er eine andere Form des Konservatismus mit anderer demographischer Grundlage: nicht elitär, patrizisch und städtisch, sondern ländlich und lower-class. Die Grand Old Party (GOP) begann ihren Weg zur populistischen Partei; die Gingrich-Revolution von 1994 zeigte, dass sie – vorerst – angekommen war.
Die Revolution von 1994 begann bald, ihre Väter zu fressen. Die alten Liberalen und die patrizischen Konservativen, die die Partei lange geprägt hatten, wurden nach und nach verdrängt; mit John McCain ist vergangenes Jahr einer der letzten ihrer Repräsentanten verstorben. Während der Präsidentschaft des jüngeren Bush gehörte die Partei nicht der evangelikal-populistischen Mehrheit, sondern den besser vernetzten, politisch effizienteren und ideologisch gefestigteren neokonservativen Falken – trotz des Slogans vom „mitfühlenden Konservatismus“, mit dem George W. in den Wahlkampf gezogen war. Es brauchte den schwarzen Präsidenten Barack Obama, um die lange schwelenden Verlustängste des weißen Amerika so zu verdichten, dass eine Welle des weißen Nationalismus in Gestalt der Tea Party-Bewegung die GOP vollständig zur Partei des evangelikalen, nationalistischen und weißen Populismus machen konnte.
Trump hatte mit all dem lange nichts zu tun. Erst 2011 sprang er auf den fahrenden Zug auf und machte sich mit dem für ihn charakteristischen zynischen Pragmatismus zum Sprachrohr des Birther-Movement am paranoiden Ende der Anti-Obama-Agitation. Wo das hinführen sollte, ist bekannt: auf die Rolltreppe im Foyer des Trump Tower an der 5th Avenue und ins Oval Office.
Nach seinem unwahrscheinlichen Wahlerfolg schien die Vermutung plausibel, er würde ein bloßer Präsidentendarsteller sein, entweder – im schlimmsten Fall – das Werkzeug der Alt-Right und Steve Bannons oder – im günstigeren Fall – kontrolliert und gemanagt durch die erfahrenen Berufspolitiker im Weißen Haus und den Departments, die dafür sorgen würden, dass der Apparat einigermaßen normal weiterarbeitet. Zugegeben: Reich an Trost war diese Aussicht nicht, angesichts dessen, wer im Einzelnen diese Erwachsenen sein sollten – aber immerhin. Zwei Jahre später ist zwar Steve Bannon weg, aber auch die Mattis‘, Kellys, Priebuses, Tillersons, Sessions, Comeys und wie sie alle heißen. Übrig geblieben ist eine Koterie aus Gläubigen und Stiefelleckern, die GOP reduziert auf die Huldigung und Verteidigung des charismatischen Führers.
Der Niedergang – oder besser: die Geiselnahme und Transformation – einer Partei in einem Zweiparteiensystem ist ein Vorgang von erheblicher Konsequenz, aber auch einer, den es in der Geschichte der USA schon einige Male gegeben hat, ohne dass dadurch die Republik ernsthaft gefährdet worden wäre. Auch Lowis Diagnose vom Ende der republikanischen Ära bezog sich nicht auf die formale Dispension der Verfassung und den Übergang zur Diktatur, sondern auf einen Zustand, in dem das politische System mit reduzierter Handlungsfähigkeit und ohne das Grundvertrauen seiner Bürger blutleer vor sich hin rumpelt – eine Art USA minus Tocqueville. Diese Vorstellung ist schlimm genug, aber weit harmloser als der Möglichkeitsraum, den die Präsidentschaft Trump mittlerweile eröffnet hat.
Lowi verstarb einen Monat nach Trumps Inauguration. Es ist ihm – dem seine Herkunft als Jude aus Alabama besondere Einblicke in die psychologische Gemengelage amerikanischer Rassenkonflikte geschenkt hatte – erspart geblieben, mit anhören zu müssen, wie der Präsident „good people“ unter den Neonazis und weißen Suprematisten des „Unite the Right“-Marsches in Charlottesville im August 2017 ausmachte. Ausgehend von seiner Analyse in „The End of the Republican Era“ und angesichts seiner Vorliebe für Buchtitel, die mit dem Ende großer Dinge flirten (das Buch, das ihn bekannt gemacht hatte, war „The End of Liberalism“), kann ich mir gut vorstellen, dass er zu diesem Zeitpunkt längst über ein Buch mit dem Titel „The End of the Amerian Republic“ nachgedacht hätte.
Und wenn nicht, dann spätestens in der vergangenen Wochen: Als der Präsident seinen Wiederwahlchancen zuliebe in einem präzedenzlosen Akt exekutiver Machtüberdehnung einen nationalen Notstand erfand – und auch noch öffentlich bekannte, dass es sich um einen erfundenen Notstand handelte: „I didn’t have to do it“ –, um die Budgethoheit des Kongresses zu unterlaufen; als Mitch McConnell, der mächtige und eifersüchtige Wächter über die Privilegien des Senats mit traurigem Schildkrötengesicht dasaß und absolut nichts dagegen unternahm; und als wenig später Michael Cohen, Trumps gefallener Aufräumer, vor dem Oversight Committee des Repräsentantenhauses das Bild eines Mafia-Clans und seines Paten malte. Im wohl dunkelsten Moment seiner Einvernahme sagte Cohen: „Nach meinen Erfahrungen in der Arbeit für Mr. Trump fürchte ich, dass es im Falle einer Wahlniederlage 2020 keinesfalls einen friedlichen Machtwechsel geben wird.“ Wie zur Bestätigung erklärte Trump wenige Tage später in einer bemerkenswerten Tirade vor der Conservative Political Action Conference die Mechanismen demokratischer Kontrolle für „Bullshit“.
In der politischen Symbolik der USA spielte von Anbeginn der transhistorische Bezug auf die Römische Republik eine herausgehobene Rolle. Dazu gehörte auch der mahnende Verweis auf den Niedergang der Republik und den Übergang zum Imperium durch die Schwächung und Unterwanderung der republikanischen Institutionen und die Konzentration der Macht in einer sich selbst überhöhenden Exekutive. Die USA haben in Trump einen Präsidenten, der der Bindung und Begrenzung seiner Macht durch die verfassungsmäßigen Institutionen mit unverhohlener Feindseligkeit gegenübersteht, und eine Partei, die sich selbst zum Handlanger der präsidialen Subversion der Republik degradiert hat.
Robert Muellers Ermittlungsergebnisse werden in Kürze erwartet. Über das, was in den Gerichten – vor allem in New York – an Ärger auf Trump wartet, wissen wir nur, dass es potenziell explosiv ist. Cohens Aussage wird Grundlage für zahllose weitere Vorladungen sein; Allan Weisselberg, Finanzchef und Consigliere der Trump-Organisation, steht ganz oben auf der Liste. In der Demokratischen Partei wird der Ruf nach der Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens immer lauter. Elizabeth Warren, eine der vielen Kandidaten der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 2020, hat dieser Tage in einem Interview Zweifel angemeldet, ob Trump dann überhaupt noch ein freier Mann sein werde.
Man versuche sich für einen kurzen Moment vorzustellen, was geschähe, würde Trump tatsächlich aus dem Amt entfernt oder gar inhaftiert: Kann sich irgendjemand vorstellen, dass die gut 30 Prozent Ever Trumpers – ein bestens bewaffnetes Segment der Population – sich dem einfach fügen würden? Fox News‘ Sean Hannity kündigte für diesen Fall „Kämpfe und Konfrontationen an, wie wir sie in diesem Land noch nicht gesehen haben, zwischen denen, die für die Wahrheit stehen und denen, die die Attacke eines tief korrupten Deep State auf einen rechtmäßig gewählten Präsidenten begrüßen.“ Der Trump-Vertraute Roger Stone sprach davon, dass Abgeordnete, die für eine Amtsenthebung Trumps stimmten, sich ihres Lebens nicht mehr würden sicher sein können. Selbst für den Fall einer ganz normalen Wahlniederlage 2020 kann man von einer normalen Machtübergabe keineswegs ausgehen – immerhin konnte Trump selbst 2016, als er das Electoral College und die Präsidentschaft gewonnen hatte, seine Niederlage in der Popular Vote nicht akzeptieren und erfand stattdessen „drei bis fünf Millionen illegale Stimmen“ für Hillary Clinton.
Die Verfassung der USA ist beinahe zweieinhalb Jahrhunderte alt. Sie hat grundlegende gesellschaftliche und politische Transformationen überlebt und sich als bemerkenswert adaptionsfähig und resilient erwiesen. Der Rest der Amtszeit Trumps wird zeigen müssen, ob ihre Selbstbewahrungsmechanismen noch greifen nach Jahren der Agitation gegen die Korruptheit des Systems. Das Ende der Amerikanischen Republik findet in den Köpfen statt: Dann, wenn ein ausreichend großer Teil der Amerikaner an sie nicht mehr glaubt.
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Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Dietmar Schirmer
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm