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Jona Stinner ist Student des Masterstudiengangs „Corporate Management & Economics“ an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen. Bereits während seines Bachelorstudiums in Allgemeiner Betriebswirtschaftslehre an der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft forschte er zur Verbreitung digitaler Plattformen. Im Herbst 2018 verbrachte er im Rahmen eines internationalen Auslandssemesters sechs Monate an der Peking University Guanghua School of Management. Die eigenen Erfahrungen mit den dort weitverbreiteten Anbietern von Sharing Economy-Diensten inspirierten ihn zu der Forschungsarbeit.
Beflügelt durch innovative Technologien sowie den Trend hin zu einem gemeinsamen Konsum, erzielen digitale Sharing Economy-Plattformen seit ihrer Entstehung vor rund einem Jahrzehnt bemerkenswerte Wachstumsraten. Nutzer wie Anbieter schätzen die Vorteile von Plattformen hinsichtlich Flexibilität und Vielseitigkeit sowie die geringen Transaktionskosten in den – von Algorithmen gesteuerten – Märkten. Für zunehmende Teile der Gesellschaft ist das temporäre Überlassen oder in Anspruch nehmen von Gütern eine gewohnte Form der Organisation wirtschaftlicher Aktivitäten geworden: Private Wohnungen werden über Airbnb gemietet, Fahrdienstleistungen im eigenen Pkw über Uber angeboten oder Kulinarisches auf EatWith mit Unbekannten geteilt. Infolgedessen greifen Sharing Economy-Unternehmen – mit einem erwarteten weltweiten Umsatzvolumen von 335 Milliarden US-Dollar im Jahr 2025 – substanziell in konkurrierende Sektoren und Arbeitsmärkte ein. Politische Interventionen und Kundgebungen zeigen jedoch, dass die dabei entstehenden sozio-ökonomischen Effekte aus gesellschaftlicher Perspektive nicht ausschließlich wünschenswert sind.
Zwei Narrative stehen sich hier gegenüber: Befürworter argumentieren mit der Schaffung flexibler Einkommen für sogenannte Mikroentrepreneure, die weitgehend unabhängig von Alter und Bildungsniveau über die Plattform zugänglich seien. Der direkte Austausch zwischen Nutzern und Anbietern stärke die soziale Konnektivität. Grundsätzlich ermögliche das Teilen von Überkapazitäten eine effiziente Ressourcenverteilung und somit eine verbesserte Umweltbilanz. Kritiker hingegen betonen die steigende Unsicherheit von schein-selbständigen Anbietern, die auf ultra-liberalen Märkten um die Zuweisung von Arbeit konkurrieren. In Arbeitgeberleistungen enthaltene Absicherungen, wie zum Beispiel bezahlter Urlaub, seien dabei von den Einzelpersonen selbst zu tragen. Die Plattformen trügen darüber hinaus zur Verschärfung der Ungleichheit bei, denn Eigentümer seien durch die effektivere Auslastung ihrer Vermögenswerte unverhältnismäßig privilegiert.
Mit dem Ziel, eine evidenzbasierte Grundlage für politische Entscheider bereitzustellen, hat diese Dichotomie eine Reihe empirischer Studien ausgelöst, in welche sich meine Masterthesis einordnet. In einer breit angelegten Analyse wurden Auswirkungen von digitalen Fahrdienstvermittlern auf Mobilitätspreise, Beschäftigung und Einkommensungleichheit in China untersucht. Der gewählte Fokus schließt nicht nur eine Lücke in der englischsprachigen Literatur, sondern ergibt sich aus vielversprechenden Qualitäten der gewählten Märkte. Digitale Fahrdienstvermittler bilden den mit Abstand bedeutendsten Teilsektor der Sharing Economy, während das Nutzer- und Umsatzvolumen im weltgrößten Markt China die Summe aller übrigen Länder übertrifft.
Die Ursachen dieser außergewöhnlichen Popularität in China sind vielschichtig: Zum einen ermittelt eine Studie des Informationsdienstleisters Nielsen eine Bereitschaft von 94 Prozent der Chinesen, geteiltes Eigentum zu nutzen – globaler Höchstwert! Zum anderen führt die Steigerung des Lebensstandards in Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs zu einem Boom der Individualmobilität. Der Besitz privater Pkw stieg zwischen 2008 und 2017 um durchschnittlich 605 Prozent, während öffentliche Verkehrsmittel ein Wachstum von lediglich 20 Prozent verzeichneten. Lizenzbeschränkungen seitens der Behörden, überfüllte Straßen und eine sukzessive Abnahme des Statussymbols Auto beinträchtigen zwischenzeitlich die Attraktivität des privaten Fahrzeugerwerbs.
Die Ansprüche an Mobilität sind jedoch nachhaltig hoch und forcieren somit das Geschäftsmodell digitaler Fahrdienstvermittler. Angesichts der enormen Nachfrage ist der chinesische Markt überraschend konsolidiert: 96,6 Prozent der 19,3 Millionen täglichen Fahrten im Jahr 2018 wurden vom Monopolisten Didi Chuxing abgewickelt. Das 2012 gegründete Unternehmen vermittelt über seine Plattform nach eigenen Angaben 550 Millionen Kunden an 31 Millionen Fahrer in über 1.000 Städten, deren jährliche kumulierte Reisedistanz in etwa der zehnfachen Entfernung der Erde zum Neptun entspricht. Der hohe Marktanteil sowie die räumliche Verbreitung machen das Unternehmen zu einem adäquaten Beobachtungsgegenstand der Untersuchung.
Zur Evaluation sozio-ökonomischer Effekte in Folge der Aktivität von Didi Chuxing in China wurden in einer Reihe von ökonometrischen Verfahren drei verschiedene Datenquellen kombiniert. Preisentwicklungen und Beschäftigungsindikatoren im chinesischen Mobilitätssektor wurden mittels aggregierter Daten des „National Bureau of Statistics China“ zwischen 2008 und 2017 ermittelt. Die Entwicklung der Einkommensungleichheit wurde anhand der landesweit repräsentativen Haushaltsbefragung „China Family Panel Studies“ mit 35.000 Individuen in den Jahren 2010 bis 2016 ausgewertet. Die Quantifizierung der Marktpräsenz von Sharing Economy-Plattformen stellt eine erhebliche Schwierigkeit dar, denn die privaten Plattformbetreiber veröffentlichen zumeist keine Daten über Anbieter- und Nutzerentwicklungen. In einer neuen Herangehensweise habe ich in meiner Thesis die Marktdurchdringung über das Nutzerverhalten in Online-Suchmaschinen approximiert. Hierzu wurde auf provinzieller Ebene ausgewertet, wie häufig relevante Suchbegriffe mit Bezug zu Didi Chuxing im chinesischen Google-Pendant „Baidu“ aufgerufen werden.
Die Ergebnisse der Analyse weisen im jeweiligen Beobachtungszeitraum auf eine Abnahme von Mobilitätspreisen um 4,5 Prozent und einer Zunahme selbständiger Beschäftigung im Mobilitätssektor um 19 Prozent hin. In Provinzen mit überproportional hoher Marktdurchdringung zeigt sich überdies eine um 12 Prozent verminderte Einkommensungleichheit gegenüber Regionen mit einer moderaten bis geringen Aktivität des Fahrdienstvermittlers. Bezogen auf den chinesischen Markt illustriert die Studie überwiegend positive sozio-ökonomische Effekte und untermauert das erste der oben geschilderten Narrative.
Profitieren also alle Interessensgruppen von der Entwicklung der Sharing Economy? Eingeordnet in den Kontext der Literatur lässt die Arbeit Rückschlüsse zu, die darauf hinweisen, dass Nutzen und Risiken sehr unterschiedlich verteilt sind. Kunden der Services sind klare Profiteure, denn sie erhalten nicht nur eine vielseitige Erweiterung des Angebots, sondern profitieren zusätzlich von sinkenden Preisen. Gleiches gilt für Teilzeit-Anbieter – im chinesischen Markt mehr als die Hälfte aller Fahrer –, welche durch die flexible Bereitstellung von vorhandenen Kapazitäten eine wertvolle Einkommensergänzung bei geringem Risiko erzielen.
Anbieter, die ihren primären Erwerb über die Plattformen beziehen, tragen hingegen die Risiken einer selbständigen Beschäftigung und stehen aufgrund der Abhängigkeit von der Plattform in einer schlechten Verhandlungsposition. Diese Interessensgruppe erscheint aus regulatorischer Perspektive schützenswert, wenn die Arbeitsstandards zwischen den beiden Beschäftigungsformen – wie zum Beispiel in Deutschland – stark voneinander abweichen. Angesichts der rudimentären Arbeitgeberleistungen in China entfallen eklatante Unterschiede, sodass auch diese Gruppe – unter Berücksichtigung der entstandenen Einkommensquelle – zu den Profiteuren zählt.
Nachteilige Folgen manifestieren sich für konkurrierende Unternehmen in sinkenden Umsätzen, während übergreifend ein schärferer Wettbewerb um Arbeitskräfte im Niedriglohnsektor durch die alternative Erwerbsgelegenheit über Sharing Economy-Plattformen bemerkbar ist. Schließlich kann aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive die Schaffung eines weitgehend unbeschränkten Erwerbsangebots zur Minderung von Einkommensungleichheit führen. Die Mobilisierung ungenutzter Kapazitäten trägt überdies zur nachhaltigen Entwicklung im urbanen Raum bei. Dies setzt allerdings voraus, dass die technologiebedingten Effizienzgewinne nicht durch überproportional steigenden Konsum aufgehoben werden.
Insgesamt zeigt die Studie die zunehmende Relevanz der Sharing Economy in der Organisation wirtschaftlicher Aktivitäten und veranschaulicht deren sozio-ökonomische Auswirkungen in einem bislang vernachlässigten Markt. Die Analyse weist insbesondere auf die Bedeutung indirekter Auswirkungen – wie etwa auf die Einkommensverteilung – in der Beurteilung des Phänomens hin und fördert somit die Erstellung eines holistischen Bildes. Letzteres ist notwendig, um die gegenwärtige Diskussion politischer Entscheider in der Formulierung geeigneter regulatorischer Rahmenbedingungen zu unterstützen. Die konkrete Ausgestaltung dieses Rahmens wird entscheidend beeinflussen, ob sich in der zukünftigen Entwicklung des Sektors innovative Aspekte bei einer wirksamen Eindämmung negativer Effekte erhalten lassen.
Titelbild:
| Beijing Xiaoju Technology Co, Ltd. / News Media (Pressebild)
Bilder im Text:
| Beijing Xiaoju Technology Co, Ltd. / News Media (Pressebild)
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Beitrag (redaktionell unverändert): Jona Stinner
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm