ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Der gebürtige Würzburger Professor Dr. Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund.
Es lohnt sich im Ernst, während dieser immer noch überraschenden Tage von luxuriösem Zeitüberfluss die ersten Seiten aus Giovanni Boccaccios 1353 abgeschlossenem Meistertext „Decamerone“ zu lesen. Jeder Bildungsbürger weiß, dass sie den Alltag in der schwarzen Pest des Jahres 1348 heraufbeschwören, wie ihn der Autor selbst in Florenz erlebte – als historischen Kontrasthintergrund und als strukturellen Rahmen für die genau hundert gut gelaunten Kurzgeschichten im Zentrum des Werkes. Doch was eine zunächst neutral klingende Erzählerstimme berichtet, konvergiert bald bis ins unheimliche Detail mit unseren Albträumen von der anstehenden Zukunft. „Zwischen März und Juli“ seien „mehr als hunderttausend Menschen in den Mauern der Stadt wie Tiere“ umgekommen, heißt es; alle Versorgungsinstitutionen brächen unter der Zahl der Infizierten zusammen und nun ließen selbst ihre Angehörigen die Sterbenden aus Angst vor Ansteckung alleine.
Dann kommt der Text auf „sieben junge Frauen“ zu sprechen, „keine älter als achtundzwanzig und keine jünger als achtzehn Jahre, aus edlen Familien, klug und elegant gekleidet“, die sich „an einem Dienstagmorgen“ in der sonst leeren „ehrbaren Kirche von Santa Maria Novella trafen“, und schlägt in eine Tonart um, die uns auch, aber ganz anders aus den entschleunigten Tagen der vergangenen Wochen vertraut scheinen will. Niemand könne ihnen den Gebrauch der Vernunft verbieten, sagt Pampinea, und legt ihren Freundinnen nahe, für eine Weile die Stadt zu verlassen, wo ihnen ja nichts zu tun bleibe, als festzustellen, „wer schon gestorben sei oder bald sterben werde.“
Der vernünftige Vorschlag löst helle Freude aus, wie auch der Rat der „sehr klugen“ Filomena Beistimmung findet, „einige Männer“ einzuschließen, weil ohne ihr Urteil und ihre Autorität „die Truppe sich bald auflösen werde.“ Noch bevor jedoch die Frage eine Antwort findet, wen man denn einladen könne, stellen sich drei „recht gut aussehende“ Männer in der Kirche ein, „keiner jünger als fünfundzwanzig Jahre“, die „zufällig ihre Geliebten unter den besagten sieben Freundinnen hatten.“ Und plötzlich finden alle so schnell und problemlos zusammen, dass sie am Mittwochmorgen die „kaum zwei Meilen“ zu einer verlassenen Villa auf dem „kleinen Hügel über der Stadt“ wandern, wo sie sich in zehn Nächten während der kommenden zwei Wochen unter dem jeweiligen Vorsitz einer oder eines von ihnen als „Königin“ oder „König“ hundert Geschichten über alle möglichen Stimmungen der Liebe erzählen werden.
Der lebendige Rahmen des „Decamerone“ bündelt drei Aspekte, die in großen Texten der folgenden Jahrhunderte noch oft wiederkehren sollten und so die Szene der Epidemie zu einem Motiv der europäischen Literatur machten. Von Beginn zeigt sich Boccaccios Bemühen, mit individualisierender Prägnanz eine Situation zu beschreiben, wie sie während der Pest von 1348 tatsächlich denkbar war. Vor allem aber wird deutlich, dass die Epidemie Potenziale einer Intensität im Erleben und Verhalten freisetzte, die in Tagen der Sicherheit und Ruhe nicht hätten auftreten können. Besonders war Boccaccio dabei am Mut der jungen Frauen gelegen. Eben deshalb bezog sich „Prencipe Galeotto“, ein heute kaum mehr erwähnter alternativer Titel des „Decamerone“, auf Lancelots Freund Galehaud, der in den Artuslegenden des Mittelalters zur Symbolgestalt einer wirksamen Vermittlerfreundschaft (statt höfischer Liebe) gegenüber den Frauen geworden war.
Und so brauchen die sieben Freundinnen ihre Vernunft nicht allein, um aus der Pestdepression Heiterkeit und manchmal sogar ekstatische Freude werden zu lassen; sie weisen auch den drei Männern ihre Rollen zu, ohne je zurückzustecken, und brillieren mit Talenten des Erzählens, die ohne Epidemie nie zum Vorschein gekommen wären. Schließlich kehren die Freundinnen und Freunde am Morgen nach dem „Zehnten Tag“ in eine Stadt zurück, wo von der Pest nicht mehr die Rede ist. Zusammen erreichen sie wieder Santa Maria Novella und „verfolgten nun andere Vergnügungen“ (die Männer) oder gingen (die Frauen), „wenn die Zeit richtig war, nachhause zu ihren Familien.“
Kein Text der europäischen Literatur stellte entschlossener dieses Motiv der Epidemie als Situation einer Freisetzung in sein Zentrum als Albert Camus‘ 1947 erschienener Roman „La Peste“. Hier wird es zum Testfall für eine Frage, von der die Denker des Existentialismus vor allem in Frankreich nach den Zerstörungen eines Zweiten Weltkrieges und der Aussetzung aller moralischen Verbindlichkeit in Hitlers und Stalins totalitären Systemen besessen waren, der Frage um den „Humanismus“, das heißt um die Dominanz „des Guten“ oder „des Bösen“ in der menschlichen Natur.
So wirkt es erstaunlich, dass Camus – wie unter ganz anderen Voraussetzungen Boccaccio – auf die konkrete Glaubhaftigkeit einer Geschichte bedacht war, deren Funktion doch darin aufging, als Allegorie das Ausspekulieren eines philosophischen Problems zu ermöglichen. Schon während des 16. und 17. Jahrhunderts hatten Seuchen die Bevölkerung der Stadt Oran, dem Ort der Handlung in der damals französischen Kolonie Algerien, beinahe ausgelöscht, und noch 1921, 1931 und 1944 war es dort bei Epidemien zu Hunderten von Todesfällen gekommen. Offenbar lag Camus daran, dem geschilderten Leiden und vor allem seiner Antwort auf die philosophische Frage nach der menschlichen Natur einen Eindruck greifbarer Wirklichkeit zu geben.
Und gerade weil die meisten Bewohner von Oran und ihre Stadtverwaltung die Bedrohung der Pest zunächst als unter ihrer Würde (als „Medienhysterie“, würden wir heute sagen) ansahen, fällt diese Antwort im Blick auf die Protagonisten des Romans vor allem positiv aus. Bernhard Rieux, ein Arzt ohne laut propagierte religiöse Werte oder politische Prinzipien, setzt täglich das Leben im oft aussichtslos wirkenden Kampf gegen die Epidemie aufs Spiel – und erfährt am Ende, dass seine Frau gestorben ist. Jean Tarrou – ein Zufallsgast in Oran, als die Seuche ausbricht – engagiert sich (wie viele Intellektuelle aus Camus’ Generation) gegen die Todesstrafe, möchte – ohne jeden Gottesglauben – in der Erfüllung seiner ethischen Pflichten zu einem „Heiligen“ werden und fällt spät der Pest zum Opfer.
Als machtvoller Prediger deutet schließlich der Jesuit Paneloux den Gläubigen die Pest als göttliche Bestrafung für ihre Laxheit im Glauben, um wenige Tage vor seinem Tod „ohne klare Ursache“ (nach Rieux‘ Protokoll) solch theologische Strenge aufzugeben, nachdem sein Gebet um das Leben eines Jungen nicht erhört worden ist. Am Ende hat der Erzähler allen Grund einen Schluss zu ziehen, auf den nun wieder viele unserer Zeitgenossen setzen: Es gebe – unabhängig von allen Prinzipien und Ideologien – „an den Menschen mehr zu bewundern als zu verachten.“
Ähnlich wie Jean Tarrou stirbt Gustav von Aschenbach, der Held von Thomas Manns 35 Jahre vor „La Peste“ veröffentlichter Novelle „Tod in Venedig“, an einer lange vor den Gästen der Stadt verharmlosten Cholera-Epidemie. Doch entgegen den meisten Interpretationen und vor allem entgegen der – vielleicht ganz anders verharmlosenden – Selbstauslegung des Autors, ist es möglich, das Ende der Erzählung als Moment einer Ahnung von erotischer Erfüllung zu lesen.
Was das feuchtheiße Wetter, die Stimmung und die Extremsituation der Epidemie von Venedig in Aschenbach, dem zur Askese neigenden, gerade in den Adelsstand erhobenen Schriftsteller freisetzen, ist seine Leidenschaft für die Anmut Tadzios, eines – nach dem Text der Novelle – vierzehnjährigen Knaben aus Polen, auf den sein Auge beim Abendessen im Grand Hotel des Bains fällt.
Auch diese Geschichte hatte einen Wirklichkeitsbonus, wie wir aus den 1974 erschienenen „Ungeschriebenen Memoiren“ von Thomas Manns Witwe Katia wissen. Zur Empörung ihres Onkels, des Geheimrats und Rechtsprofessors Friedberg, hatte den späteren Nobelpreisträger im Jahr 1911 ein „ausnehmend attraktiver Junge“ aus dem polnischen Adel während eines Besuchs in Venedig „fasziniert“.
Doch während Thomas Mann Zeit seines Lebens versicherte, eher auf die Faszination des alternden Goethe für die achtzehnjährige Baronesse Ulrike von Levetzow Bezug genommen zu haben, erlaubte er seinem Protagonisten Aschenbach, die Beherrschung solcher Gefühle Schritt für Schritt aufzugeben und alle lebensbewahrende Vorsicht in der Epidemie so sehr wie die Form allen ehrenvollen Verhaltens in der Sehnsucht nach einem Kontakt mit Tadzio zu verlieren. Aschenbach stirbt, als er sich cholerakrank aus seinem Liegestuhl erheben will, weil er glaubt, dass der Blick des Jungen ihm endlich ein Zeichen des Interesses oder gar der Zuneigung gegeben hat.
Gabriel García Márquez‘ Roman „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von 1985 können wir als ein ebenso romantisches wie ironisches Nachwort aus Südamerika auf das literarische Motiv der Epidemie und seine Ambivalenzen lesen, ein Nachwort übrigens, dessen Beschreibungen keinen Zweifel lassen, dass Cartagena de Indias in Kolumbien, wo der Autor damals lebte, Ort der Handlung sein soll. Fermina Daza hat über fünf Jahrzehnte eine eher glückliche, aber gewiss nicht leidenschaftliche Ehe mit Dr. Juvenal Urbino geführt, einem „Helden der Ordnung und des Fortschritts“, der sich um die Auslöschung der Cholera verdient gemacht hat.
Nach seinem Tod erfüllt sich für die gealterte Fermina eine Jugendliebe der Leidenschaft zu Florentino Ariza, der endlos auf sie gewartet und ihr in zahllosen erotischen Abenteuern immer die Treue als Liebe seines Lebens bewahrt hatte. „Cólera“ wird im kolumbianischen Spanisch nicht nur als Name der ansteckenden Krankheit verwendet, sondern auch als Metapher für die „Krankheit“ leidenschaftlicher Liebe (ähnlich wie man italienische Fußballfans „tifosi“ – „Typhuskranke“ – nennt). Und die Moral der doppelten Liebes- und Cholera-Geschichte? Ich bin überzeugt, dass García Márquez die „ordentliche“ und die „kranke“ Version der Liebe eben nicht gegeneinander ausspielen wollte.
Heinrich von Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“, welche mit verblüffender Genauigkeit die dem Autor natürlich unbekannte Hauptstadt von Chile beschreibt und auf eine Naturkatastrophe des Jahres 1647 anspielt, hatte einen viel weniger versöhnlichen Blick auf die Freisetzung der Leidenschaft und ihrer Ambivalenzen in Extremsituationen eröffnet, an die zu erinnern bald Anlass bestehen könnte. Dort verhindert das Erdbeben den Selbstmord des inhaftierten Hauslehrers Jerónimo Rugera und die Hinrichtung der Adligen Josephe Asterón, um den Liebenden eine Nacht mit ihrem „unehelich“ geborenen Sohn Philipp in einem bukolischen Tal am Rand von Santiago zu schenken. Doch die Predigt eines Dominikaners, der die Zerstörung der Stadt als göttliche Bestrafung für Jerónimos und Josephes „Sünde“ geißelt, setzt das Rasen einer Lynchjustiz frei, in der Jerónimo und Josephe den Tod finden.
Göttliche Bestrafung hatte, wie wir sahen, schon nach 1945 ihre Überzeugungskraft als Erklärung für Naturkatastrophen verloren und ist folgerichtig in den Wochen der ausbrechenden Corona-Epidemie nicht zur Sprache gekommen. Doch die Leidenschaft in der breiten Befürwortung immer strikterer, von den neuen Notstandsstaaten verhängter Gebote zu „sozialer Distanz“ und auch jene gnadenlose Entrüstung über Jugendliche, die eine ihnen auferlegte „Solidarität“ brechen und über dem Abgrund der Epidemie das Leben feiern, mag ganz andere Gewalten freisetzen als die Leidenschaft erotischer Liebe oder das existentielle Engagement für die Opfer von Epidemien.
Dieser Artikel ist am 1. April unter dem Titel „Die Liebe in den Zeiten der Seuche“ in der WELT AM SONNTAG erschienen.
Titelbild:
| Adli Wahid / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Bilder im Text:
| Federico Beccari / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
| Kuma Kum / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link
Beitrag (redaktionell unverändert): Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm