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Ein Leerstück
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Wirecard-Skandal

Ein Leerstück

von Prof. Dr. Marcel Tyrell | Zeppelin Universität
08.07.2020
Letzten Endes waren es Marktmechanismen, also Whistleblower und Leerverkäufe, die Wirecard zu Fall brachten, und nicht die Aufsichtsorgane und Kontrollinstitutionen. Das sollte der Politik zu denken geben.

Prof. Dr. Marcel Tyrell
Gastprofessur für Economics of Financial Institutions
 
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    Zur Person
    Prof. Dr. Marcel Tyrell

    Seit 2009 leitete Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften an der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er zu Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro- und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften. 2017 übernahm er den Lehrstuhl Banking and Finance an der Universität Witten/Herdecke und blieb der Zeppelin Universität als Gastprofessor für Economics of Financial Institutions erhalten.  

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Die Kollateralschäden sind beträchtlich. Nicht nur Investoren und Banken haben viel Geld verloren, auch der gesamte Finanzplatz Deutschland – inklusive seinem regulatorischen Umfeld – hat Schaden genommen. Vertrauen in die Anlageform Aktie wurde durch den rasanten Fall des DAX-30-Unternehmens Wirecard zerstört. Und das geschieht in Zeiten, in denen viele Finanzanlagen teilweise Negativzinsen aufweisen und somit die (breitgestreute) Aktienanlage eine der wenigen Möglichkeiten ist, die mittel- und langfristig positiv erwartete Renditen vorzuweisen hat.


Warum aber hat der Bilanzskandal Wirecard solch starke Auswirkungen? Dies hat viel mit dem Hype um die Firma Wirecard zu tun, der sich in den vergangenen Jahren vor dem tiefen Fall entwickelt hatte. Endlich, so war die weit verbreitete Meinung, hätte sich in Deutschland ein Technologieunternehmen im Finanzsektor herausgebildet, welches das Zeug hat, den großen, meist angelsächsischen Platzhirschen in dieser Branche Konkurrenz zu machen. Das zeigte sich auch am Aktienkurs. Wirecard war ein Vorzeigeunternehmen an der Deutschen Börse mit einer fulminanten Kursentwicklung bis hin zu einem Kurswert von knapp unter 200 Euro Ende August 2018. Damit wurde Wirecard höher bewertet als beispielsweise die Deutsche Bank, und die Firma wurde in den DAX 30 der bedeutendsten börsennotierten Unternehmen in Deutschland aufgenommen.


Auch die Zusammensetzung des DAX-30-Börsenindex ist eine der Gründe für die Attraktivität von Wirecard gewesen. Dieser Börsenindex ist von seiner Zusammensetzung her immer noch dominiert von Industrieunternehmen. Er spiegelt damit jedoch kaum wider, dass auch Deutschland als hochentwickelte Volkswirtschaft einen immer größeren Teil ihrer Wertschöpfung im Dienstleistungssektor und hier insbesondere der Informations- und Kommunikationstechnologie generiert. Deshalb sind Unternehmen wie Wirecard sehr gefragt, denn sie bringen diesen wichtigen Diversifikationseffekt in einen Börsenindex, der als Anlagevehikel im Rahmen von Exchange Traded Funds (ETFs) in den vergangenen Jahren immer mehr an Gewicht gewonnen hat. Auch dies mag den Aktienkurs von Wirecard nach oben getrieben haben. Wirecard war in einer gewissen Hinsicht ein Solitär in der deutschen Aktienlandschaft.

Seit dem 30. Juni dieses Jahres ist der „Rockstar“ der deutschen Tech-Industrie arbeitslos – der ehemalige Wirecard-Manager Markus Braun. Der Aufsichtsrat von Wirecard hat den Anstellungsvertrag des früheren Vorstandschefs außerordentlich gekündigt, ließ der in einen Bilanzskandal verwickelte Zahlungsabwicklungskonzern Ende des Monats wissen. Zuvor war Braun wegen des Skandals am 19. Juni zurückgetreten. Wenige Tage später wurde er festgenommen, kam dann aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß. Im Mittelpunkt des Skandals stehen 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten, die vermutlich nicht existieren. Am 25. Juni stellte Wirecard einen Insolvenzantrag.
Seit dem 30. Juni dieses Jahres ist der „Rockstar“ der deutschen Tech-Industrie arbeitslos – der ehemalige Wirecard-Manager Markus Braun. Der Aufsichtsrat von Wirecard hat den Anstellungsvertrag des früheren Vorstandschefs außerordentlich gekündigt, ließ der in einen Bilanzskandal verwickelte Zahlungsabwicklungskonzern Ende des Monats wissen. Zuvor war Braun wegen des Skandals am 19. Juni zurückgetreten. Wenige Tage später wurde er festgenommen, kam dann aber gegen Kaution wieder auf freien Fuß. Im Mittelpunkt des Skandals stehen 1,9 Milliarden Euro auf Treuhandkonten, die vermutlich nicht existieren. Am 25. Juni stellte Wirecard einen Insolvenzantrag.

Aber es gab auch schon frühzeitig Gerüchte, dass mit Wirecard etwas nicht stimmt. Die Financial Times hat schon im Jahre 2015 auf Ungereimtheiten hingewiesen, weclhe die Bilanz und das Geschäftsmodell von Wirecard betrafen. Umsätze in Asien und auch Liquiditätszuflüsse wurden schon damals seitens der Wirtschaftszeitung hinterfragt.


Im Nachhinein sieht es so aus, als wären diese beiden Kennzahlen, Umsatz und Liquidität, über Jahre systematisch manipuliert worden, um eine Wachstumsgeschichte zu erzählen, die es Wirecard dann in der Folge ermöglicht hat, namhafte Unternehmen wie Aldi in Deutschland als Kunden zu gewinnen. Wirecard konnte sich dadurch zudem von dem Schmuddelimage der ersten Jahre der Firmengeschichte befreien, als das Unternehmen in der Hauptsache die Zahlungsvorgänge für zweifelhafte Internetseiten (Glückspiele, Pornografie) abwickelte.


Zentral für den Aufbau von solider Reputation war für Wirecard die Erzeugung eines stabilen kontinuierlichen Wachstums von Umsätzen und Liquidität im Gleichschritt. Hierzu mussten Bilanzen gefälscht werden. Nicht vorhandene Umsätze und Liquiditätszuflüsse wurden durch Scheingeschäfte generiert. Um dies zu verschleiern, braucht es eine komplexe, schlecht durchschaubare Transaktionsstruktur. In Asien, wo Wirecard ohne eigene Banklizenzen die Zahlungsdienstleistungen mit Drittpartnern abwickeln musste, war eine solche Konstellation gegeben. Undurchsichtige Treuhänder, dubiose Drittpartner und wenig bekannte Banken für die Kontenverwaltung boten ein ideales institutionelles Umfeld, um genau die Bilanzmanipulationen zu bewerkstelligen, die Scheinumsätze und (Schein-)Liquiditätszuflüsse erzeugten. Die Hoffnung bestand wohl darin, dass das übrige Geschäft in Europa und Amerika irgendwann so viel abwerfen würde, dass man die erfundenen 1,9 Milliarden Euro gut erklären könnte.


Das Wachstum von Wirecard war atemberaubend. Gerüchte über Scheingeschäfte begleiteten diesen Aufstieg jedoch ebenso kontinuierlich. Nicht nur die Financial Times, sondern auch diverse Financial-Research-Häuser und Hedgefonds wiesen schon seit Jahren auf Ungereimtheiten in der Bilanz und im Geschäftsumfeld von Wirecard hin. Trotzdem haben weder die Aufsichtsbehörden noch die Wirtschaftsprüfer über die Jahre die Bilanzen und Geschäftsaktivitäten moniert. Hier kann also eindeutig Regulierungs- und Prüfungsversagen konstatiert werden. Aber wie konnte es dazu kommen?

Zum einen sieht es so aus, als wären das Bundesaufsichtsamt für das Finanzwesen (BaFin) und die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) – die sogenannte „Bilanzpolizei“ – schlichtweg überfordert gewesen. Sicherlich hatte Wirecard ein komplexes, global schlecht durchschaubares Geschäftsmodell. Trotzdem zeigen sich hier Qualitätsdefizite in der Aufsicht, auf die Fachleute schon seit Langem hinweisen. Es herrscht keine Waffengleichheit zwischen Aufsicht und den zu beaufsichtigten Finanzinstitutionen. Es fehlt vielfach an der nötigen Fachexpertise und Durchschlagskraft auf Seiten der Aufsicht, damit sie ihren Auftrag erfüllen kann. Das ist jedoch nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass eine in Relation kleine Anzahl von meist mittelmäßig bezahlten Aufsichtsmitarbeitern einer weit größeren Menge an gut dotierten Mitarbeitern in den beaufsichtigten Finanzinstitutionen gegenübersteht, die sich ausschließlich mit Regulierungstatbeständen und ihren Umgehungsmöglichkeiten beschäftigen.


Mindestens ebenso schwer wiegt jedoch das Versagen des Wirtschaftsprüfers Ernst & Young (EY). Immerhin testiert EY die Geschäftsberichte von Wirecard schon seit 2010. Es ist kaum vorstellbar, dass EY in diesem gesamten Zeitraum keinerlei Verdacht auf Bilanzfälschung geschöpft hat. Es sieht eher so aus, als wäre ein klassischer Interessenkonflikt zum Tragen gekommen. Der Prüfer wird vom geprüften Unternehmen bezahlt, was in Verbindung mit einer auf Dauer angelegten Geschäftsbeziehung dazu führen kann, dass im Zweifel doch ein Testat gegeben wird. Deshalb könnte eine Verschärfung der Zwangsrotation von Abschlussprüfern hier Abhilfe schaffen.


Auf zwei Aspekte sollte aber noch hingewiesen werden, die im Wirecard-Skandal ihre Effektivität bewiesen haben. Die Financial Times war nur deswegen in der Lage, so dauerhaft den Finger in die Wunde Wirecard so legen, weil sie von Whistleblowern informiert wurde. Ohne diese Unternehmensinsider hätte sie den Skandal nicht aufdecken können. Ein effektiv strukturiertes Whistleblower-System, das sich schützend vor die Informationsgeber stellt und sie auch entsprechend monetär belohnt, könnte gerade im Finanzsektor unabdinglich sein. Die Komplexität heutiger Finanztransaktionen schafft gegenüber Außenstehenden – also Investoren, Aufsicht und auch Prüfern – einen strukturellen Informationsvorsprung für die initiierende Finanzinstitution. Dieser Informationsvorteil kann nur dann abgebaut werden, wenn Fehlverhalten durch Unternehmensinsider gemeldet wird. Gerade deshalb sollte Whistleblowing im Finanzsektor systematisch implementiert werden. Der Informationsmarkt funktioniert ansonsten nicht.


Damit zusammenhängend zeigte sich im Wirecard-Skandal die „gute“ Seite von Short-Selling-Aktivitäten. Das Eingehen von großen Leerverkaufspositionen in Bezug auf die Wirecard-Aktie – insbesondere auch als Reaktion auf die Presseberichte der Financial Times – hatte dem Kapitalmarkt frühzeitig signalisiert, dass es eine Reihe von Investoren gibt, die massive Zweifel an der Bewertung der Aktie haben. Wirecard selber versuchte, diese Zweifel zu zerstreuen, um den unter Druck geratenen Aktienkurs zu stützen. Die BaFin sprang ihr sogar zur Seite, indem sie Ermittlungen gegen Leerverkäufer aufnahm. Trotzdem setzten die Leerverkäufe eine Dynamik von Aktivitäten inklusive einer Sonderprüfung der Bilanzen durch KPMG in Gange, die schließlich zur Aufdeckung des Bilanz- und Finanzskandals führte. Letzten Endes waren es also Marktmechanismen, also Whistleblower und Leerverkäufe, die Wirecard zu Fall brachten, und nicht die Aufsichtsorgane und Kontrollinstitutionen. Das sollte der Politik zu denken geben.

Titelbild:

| Jason Briscoe / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bild im Text: 

| Hubert Burda Media / Flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0) | Link

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