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Warten auf den Götterfunken
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Blick von außen auf Europa

Warten auf den Götterfunken

von Hans Ulrich Gumbrecht | Zeppelin Universität
14.05.2021
Vielleicht steht den Europäern meines fortgeschrittenen Alters ja ein kühler oder vielleicht sogar kalter Stil ihrer Enkel ins Haus, der weder für noch gegen ihre abgelebte Lieblingsidee Position bezieht, weder „links“ noch „rechts“ sein will, sondern sich auf Kosten solch beflissener Gutmenschenkontraste einfach lustig macht. Dann könnte endlich wieder Mal ein – kalter – Funke auf die Literatur des alten Kontinents überspringen.

Hans Ulrich Gumbrecht
Gastprofessur für Literaturwissenschaften
 
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    Zur Person
    Hans Ulrich Gumbrecht

    Der gebürtige Würzburger Hans Ulrich Gumbrecht ist ständiger Gastprofessor für Literaturwissenschaften an die Zeppelin Universität. Er studierte Romanistik, Germanistik, Philosophie und Soziologie in München, Regensburg, Salamanca, Pavia und Konstanz. Seit 1989 bekleidete er verschiedene Professuren für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaften der Stanford University. Einem breiteren Publikum ist er bereits seit Ende der 1980er-Jahre durch zahlreiche Beiträge im Feuilleton vor allem der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Neuen Zürcher Zeitung sowie durch seine Essays bekannt. Darin befasst er sich immer wieder auch mit der Rolle des Sports. Gumbrecht ist bekennender Fußballfan und Anhänger von Borussia Dortmund. 

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Europa im vollen Sinn dieser beiden Worte „von außen“ zu sehen und einzuschätzen ist schwer vorstellbar, wenn nicht längst unmöglich geworden. Denn alle entsprechenden Fragen und die sprachlichen Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen, gehören zu einer intellektuellen Tradition, die in ihrer Entstehung spezifisch „westlich“ (und mithin „europäisch“) war, was – vorsichtig formuliert –bedeutet, dass wir nicht wissen, ob sie je in einer anderen als der westlichen Kultur auftauchen können. Da aber heute, vor allem aufgrund der kolonialen Expansion seit dem 19. Jahrhundert, eine überwältigende Mehrheit der Weltbewohner ganz unabhängig von den Orten ihres Lebens „westlich“ erzogen sind, verbleiben nur wenige Regionen auf dem Planeten (das brasilianische Amazonien etwa oder manche Regionen von Madagaskar und Australien), denen überhaupt eine solche Außenperspektive offensteht.

Ähnliches gilt auch für die „Cancel Culture“-Bewegungen unserer Gegenwart, obwohl sie die ursprünglich europäische als „weiße“ und „männliche“ Kultur gerade mit der Absicht ins Visier nehmen, sie zu eliminieren (was immer dies genau bedeuten möchte). Doch ihr Gestus einer nicht aussetzenden Selbstkritik, die zur permanenten Selbstverbesserung führen soll, gehörte bekanntlich zu den zentralen Komponenten der Aufklärungstradition – und was könnte europäischer sein? Unter dem Vorzeichen von Globalität scheint Europa also seine Alternativen und Antagonisten immer schon zu vereinnahmen.

Wegen dieses Mangels an wirklichen Außenperspektiven haben sich Intellektuelle und auch Politiker des alten Kontinents daran gewöhnt, Komplimente aus der allein übrig gebliebenen, meist freundlichen Halbdistanz allzu ernst zu nehmen. Besucher des gebildeten Mittelstands von anderen Erdteilen zum Beispiel erleben Städte wie Paris (kein anderes Reiseziel weltweit verzeichnet mehr Übernachtungen pro Jahr), Rom und warum nicht auch Berlin als zugleich auratisch und vertraut, weil sie dort der Vorgeschichte ihrer eigenen – globalen – Kultur in der Unmittelbarkeit von Freilichtmuseen begegnen.

Einen etwas engeren Fokus hat die Begeisterung vieler Intellektueller aus den Vereinigten Staaten, die den Wohlfahrts- und Sicherheitsstaat im Stil der Europäischen Union als Erfüllung eines langfristigen historischen Versprechens auffassen. Eben den Aspekt sozialer Versorgung und Gerechtigkeit vermissen sie in ihrer eigenen Gesellschaft – als hätten sie sich alle die Aufrufe von Jürgen Habermas zur Vollendung des „Projekts der Moderne“ zu Herzen genommen.

Götterdämmerung für Europa – wie hier beim Sonnenuntergang in Warschau? Zumindest die Herausforderungen für den Staatenbund sind riesig: Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist aus Sicht deutscher Unternehmen derzeit die größte Herausforderung für die EU, direkt gefolgt von der Sorge vor fehlendem Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten und den Herausforderungen in der Wirtschafts- und Währungsunion. Im Vergleich zur Vorjahresbefragung hat die Migrationspolitik etwas an Relevanz verloren: Der Anteil der Unternehmen, die Zuwanderung und Migration als besonders drängendes politisches Problem bezeichnen, ist von 35 auf 23 Prozent gesunken. Auch der Brexit bereitet weniger Unternehmen Sorgen als im Vorjahr: Gerade einmal acht Prozent der Unternehmen bezeichnen den Brexit als eine der Top-3-Herausforderungen für die EU. Vor einem Jahr lag der Anteil noch bei 37 Prozent. Das sind Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von EY, DGAP und dem Wuppertal Institut, die das Meinungsforschungsinstitut forsa bis September 2020 unter Führungskräften 400 deutscher Unternehmen durchgeführt hat. Befragt wurden Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Angesichts der enormen ökonomischen Schäden, die die Pandemie bereits verursacht hat und vermutlich noch verursachen wird, ist die überragende Bedeutung der Krisenbewältigung wenig überraschend – zumal Europa bei der Bekämpfung der Krise eine einheitliche Linie häufig vermissen lässt“, sagt Professor Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Geschäftsführer des Wuppertal Instituts. „Wirklich bemerkenswert ist aber der deutliche Bedeutungszuwachs, den die Klimapolitik in den vergangenen Monaten erfahren hat. Der Klimawandel und die Möglichkeiten, diesen zu begrenzen, ist nun zu einem zentralen Handlungsfeld der Unternehmen geworden.“
Götterdämmerung für Europa – wie hier beim Sonnenuntergang in Warschau? Zumindest die Herausforderungen für den Staatenbund sind riesig: Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist aus Sicht deutscher Unternehmen derzeit die größte Herausforderung für die EU, direkt gefolgt von der Sorge vor fehlendem Zusammenhalt der EU-Mitgliedstaaten und den Herausforderungen in der Wirtschafts- und Währungsunion. Im Vergleich zur Vorjahresbefragung hat die Migrationspolitik etwas an Relevanz verloren: Der Anteil der Unternehmen, die Zuwanderung und Migration als besonders drängendes politisches Problem bezeichnen, ist von 35 auf 23 Prozent gesunken. Auch der Brexit bereitet weniger Unternehmen Sorgen als im Vorjahr: Gerade einmal acht Prozent der Unternehmen bezeichnen den Brexit als eine der Top-3-Herausforderungen für die EU. Vor einem Jahr lag der Anteil noch bei 37 Prozent. Das sind Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage im Auftrag von EY, DGAP und dem Wuppertal Institut, die das Meinungsforschungsinstitut forsa bis September 2020 unter Führungskräften 400 deutscher Unternehmen durchgeführt hat. Befragt wurden Unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. „Angesichts der enormen ökonomischen Schäden, die die Pandemie bereits verursacht hat und vermutlich noch verursachen wird, ist die überragende Bedeutung der Krisenbewältigung wenig überraschend – zumal Europa bei der Bekämpfung der Krise eine einheitliche Linie häufig vermissen lässt“, sagt Professor Dr.-Ing. Manfred Fischedick, Geschäftsführer des Wuppertal Instituts. „Wirklich bemerkenswert ist aber der deutliche Bedeutungszuwachs, den die Klimapolitik in den vergangenen Monaten erfahren hat. Der Klimawandel und die Möglichkeiten, diesen zu begrenzen, ist nun zu einem zentralen Handlungsfeld der Unternehmen geworden.“

Jene Reaktionen vernehmen Europäer gern als Ermutigung, ihre gepflegte Lebensweise mit Stolz zu betrachten. Hinzu ist in den drei Jahrzehnten seit Ende des Kalten Krieges der Ehrgeiz gekommen, Prozesse und Entscheidungen der internen Politik mit dem Anspruch einer Begründung durch ethische Argumente zu überhöhen. Diesem in Zufriedenheit gerahmten Selbstbild entspricht die Stimmung der ebenso allgegenwärtigen wie überflüssigen „Manifeste für ein einiges Europa“, deren Adressaten stets die Überzeugungen ihrer Autoren teilen. Oder muss man die Gattung – aus Halbdistanz eben – als Symptom einer nicht eingestandenen und deshalb auch nicht zu beruhigenden Unsicherheit ansehen? Woher sonst steigt der europäische Drang zu beständigen kontinentalen Vergleichen auf, für den es in den asiatischen oder amerikanischen Medien kaum Äquivalente gibt, sieht man einmal von der „New York Times“ oder der „Washington Post“ ab, die sich seit den Trump-Jahren auf Vergleiche als Anlass für tägliche Übungen in nationaler Selbstgeißelung eingestellt haben.

Während der frühen Monate der Corona-Krise jedenfalls bescheinigten zumal die deutschen Intelligenzblätter ihren Lesern und deren Politikern immer wieder anhand detaillierter Statistiken oder vollmundiger Leitartikel eine globale Überlegenheit der europäischen Maßnahmen zur Begrenzung der Virusgefahren. Dass die Vereinigten Staaten am Horizont jener Diskurswoge viel schlechter abschnitten als besonders die Volksrepublik China, setzte nur eine langfristige Tendenz der Rebellion gegenüber einem vermeintlichen amerikanischen Führungsanspruch fort. Mittlerweile haben sich – pauschal gesprochen – die Pandemieverhältnisse umgekehrt, doch die Verantwortung wird nun nicht mehr kontinental hochgerechnet, sondern einzelnen Regierungen, Parteien und Ministern zugeschoben. Kratzer am Europa-Begriff sind unerwünscht.

Die Frage nach dem Impuls hinter dieser einzigartigen Besessenheit der Europäer, ihr kontinentales Selbstbild zu schmücken, bleibt also hartnäckig stehen, und da sie keine einfache oder gar eindeutige Antwort zu finden scheint, muss man wohl mit dem Zusammenspiel einer Vielfalt von Faktoren rechnen. Erstens ist der Rückweg von dem einst utopischen Projekt der Europäischen Union zu einer neuen Konzentration auf Nationalstaaten verstellt. Schon deshalb, weil sich niemand gern eingesteht, mit einer kollektiven Bemühung die eigenen Hoffnungen nicht erfüllt zu haben, vor allem aber weil nationale Abgrenzungen und Rivalitäten in Europa aus guten historischen Gründen unter einem speziellen Verdacht stehen, den Frieden zu bedrohen. Zweitens wirkt es erstaunlich, dass die wachsende ökonomische Leistung des ehemaligen Wirtschaftsbündnisses dem kollektiven Selbstbewusstsein der Europäer offenbar weniger aufhilft, als dies in anderen Regionen der Fall ist.

Sollte also doch der Ehrgeiz nach kultureller Exzellenz weiterhin – eher unbewusst – im Vordergrund stehen? Und wie sähe drittens eine nüchterne Bilanz in dieser besonders komplexen Hinsicht aus? Was die Universitäten angeht, so geben die nach Meinung der Spezialisten durchaus vertrauenswürdigen Rankings ein deutliches Bild. Für die europäischen Hochschulen spricht ihre solide Ausgeglichenheit auf der Ebene nationaler Bildungssysteme. Im Gegensatz zur amerikanisch-akademischen Szene etwa bieten französische, italienische oder deutsche Universitäten kaum Anlass, jungen Leuten von einem Studium abzuraten. Andererseits hat mit Ausnahme der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich keine kontinentaleuropäische Universität während des vergangenen Vierteljahrhunderts zur internationalen Spitzengruppe aufgeschlossen, wie es zum Beispiel einigen akademischen Institutionen in Australien gelang.

Bei der Vergabe des Literaturnobelpreises ehrt die so rührend um globale Harmonie bemühte Schwedische Akademie regelmäßig die Lebenswerke europäischer Autoren der älteren Generation. Trotz aller politischen Irritationen, die er ausgelöst hat, wird man die Wahl von Peter Handke aus ästhetischer Perspektive als gerechtfertigt ansehen. Die Resonanz der Romane von Michel Houellebecq bestätigt dann nur noch, dass sich ein Flair von Spätzeitlichkeit, das heißt, ein Stil, der Vertrautheit mit großen Traditionen voraussetzt, als Spezialität der europäischen Gegenwartsliteratur durchgesetzt hat. Wie lange ist es her, seit eine junge europäische Autorin die Leser anderer Kontinente begeistert hat? Oder sollten wir gar am Ende jenes Zeitalters der „Literatur“ angekommen sein, das die Romane und Gedichte der europäischen Romantik eingeläutet hatten? Ein analoger Eindruck stellt sich in der bildenden Kunst ein. Die Strahlkraft der Werke von Gerhard Richter hat nicht nachgelassen, aber provokante Bewegungen der Innovation aus Europa kommen kaum mehr in Sicht.

Dieser elegische Wertschätzungston ließe sich in beliebigen Variationen auch außerhalb der ästhetischen Dimension fortsetzen. Europäische Fachleute haben die Anfangsenergie der in Silicon Valley entstandenen elektronischen Technologie aufgenommen und in viele Richtungen weitergeführt. Europäische Ingenieure werden endlich elektrisch betriebene Fahrzeuge entwickeln, um die an Tesla verlorenen Marktanteile zurückerobern. Trotzdem könnte es an der Zeit sein, auf ein anderes, nicht mehr exzellenzorientiertes Selbstverständnis umzurüsten. Wäre der alte Kontinent bereit, den Status einer globalen Bühne zu akzeptieren, auf der Talente aus allen anderen Ländern und Regionen Sichtbarkeit, Anerkennung und Ehre fänden?

Schwaches Europa, starkes Europa? Fest steht: Seitdem Großbritannien die Union verlassen hat, hinterlässt der Brexit Spuren. Mehr als 440 Firmen haben inzwischen Aktivitäten aus Großbritannien in die EU verlagert. Das ergibt eine Zwischenbilanz der Londoner Denkfabrik New Financial. Vier Fünftel der Verlagerungen verteilen sich auf fünf europäische Städte: Dublin, Paris, Luxemburg, Frankfurt und Amsterdam. Die irische Hauptstadt Dublin ist demnach der „klare Gewinner“ des Brexits. 135 Firmen haben Aktivitäten hierher verlagert, davon sind 115 EU-Zentralen. Auf den Plätzen folgen Paris (102), Luxemburg (93), Frankfurt (63) und Amsterdam (48). Die Autoren der Untersuchung rechnen damit, dass die eigentliche Zahl noch höher liegt und dass künftig noch mehr britische Finanzdienstleister ihre Aktivitäten verlagern. „Wir stehen erst am Ende des Brexit-Beginns“, heißt es in der Studie. Langfristig sei aber Frankfurt am Main doch der große Gewinner – und zwar in Bezug auf die Umschichtung von Vermögenswerten (Assets), meinen die Autoren der Studie. Der Untersuchung zufolge wurden bisher Vermögensverwerte von mehr als einer Billion Pfund (1,15 Billionen Euro) von London in die EU transferiert.
Schwaches Europa, starkes Europa? Fest steht: Seitdem Großbritannien die Union verlassen hat, hinterlässt der Brexit Spuren. Mehr als 440 Firmen haben inzwischen Aktivitäten aus Großbritannien in die EU verlagert. Das ergibt eine Zwischenbilanz der Londoner Denkfabrik New Financial. Vier Fünftel der Verlagerungen verteilen sich auf fünf europäische Städte: Dublin, Paris, Luxemburg, Frankfurt und Amsterdam. Die irische Hauptstadt Dublin ist demnach der „klare Gewinner“ des Brexits. 135 Firmen haben Aktivitäten hierher verlagert, davon sind 115 EU-Zentralen. Auf den Plätzen folgen Paris (102), Luxemburg (93), Frankfurt (63) und Amsterdam (48). Die Autoren der Untersuchung rechnen damit, dass die eigentliche Zahl noch höher liegt und dass künftig noch mehr britische Finanzdienstleister ihre Aktivitäten verlagern. „Wir stehen erst am Ende des Brexit-Beginns“, heißt es in der Studie. Langfristig sei aber Frankfurt am Main doch der große Gewinner – und zwar in Bezug auf die Umschichtung von Vermögenswerten (Assets), meinen die Autoren der Studie. Der Untersuchung zufolge wurden bisher Vermögensverwerte von mehr als einer Billion Pfund (1,15 Billionen Euro) von London in die EU transferiert.

Das hieße, einen neuen Part im globalen „Konzert der Nationen und Kontinente“ zu übernehmen, statt weiter mit Zwang immer neuer Vergleiche von einer Führungsposition zu träumen, für deren Vergabe ja ohnehin keine Außenposition des objektiven Urteils zur Verfügung steht. Sollte Europa neuerdings auf moralische Überlegenheit gesetzt haben, weil eine Ahnung von jener Unmöglichkeit seine Bewohner einholt? Genau die Funktion einer hell erleuchteten Bühne, auf der alle großen Talente spielen wollen, erfüllen übrigens seit Jahrzehnten gekonnt und vergleichsweise gelassen ausgerechnet die europäischen Fußballligen, mit der ironischen Pointe, dass die englische Premier League gerade in der Brexit-Zeit die intensivste Aufmerksamkeit gewonnen hat.

Den jungen europäischen Generationen wird man also in einer Gegenwart überhitzter akademischer Identitätsfanatismen eine postidentitäre Zukunft wünschen. Das schließt, offensiver gesagt, auch eine Erlösung von Europa-Manifesten und jenem bestenfalls lauwarmen Europa-Begriff mit seinen Exzellenzträumen ein, den sie als einst plausible Alternative zum Trauma der Nationalismen von ihren Eltern und Großeltern geerbt haben. Warum sollen sich eine portugiesische Studentin oder ein dänischer Lehrling nicht nach einem Leben in São Paulo oder in Chicago sehnen, falls sie Existenzen mit Risiko attraktiver finden als die vorgeschriebene Treue gegenüber den beschaulichen Wohlfahrtsgesellschaften, in die sie geboren wurden? Und wie schön es wäre, wenn sich umgekehrt brasilianische oder nordamerikanische Teenager für europäische Beschaulichkeit entscheiden dürften!

Es ist offenbar schwer, Distanz zu unverbindlichen – und eben unvermeidlich lauwarmen – Utopien zu halten, wenn man über den Begriff und das Thema „Europa“ schreibt. Immerhin will ich festhalten und sogar als eines der in Deutschland so beliebten „Konsensangebote“ markieren, dass die schwungvollen und motivationskräftigen Jahre des Europa-Gedankens vergangen sind, ob man das nun bedauert oder begrüßt. Vielleicht steht den Europäern meines fortgeschrittenen Alters ja ein kühler oder vielleicht sogar kalter Stil ihrer Enkel ins Haus, der weder für noch gegen ihre abgelebte Lieblingsidee Position bezieht, weder „links“ noch „rechts“ sein will, sondern sich auf Kosten solch beflissener Gutmenschenkontraste einfach lustig macht. Dann könnte endlich wieder Mal ein – kalter – Funke auf die Literatur des alten Kontinents überspringen.

Dieser Artikel ist am 8. Mai unter dem Titel „Europa, von außen betrachtet“ in WELT erschienen.

Titelbild: 

| Cristian Escobar / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Bilder im Text: 

Andriej Szypilow / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link

|  Gonzalo Facello / Unsplash.com (CC0 Public Domain) | Link


Beitrag (redaktionell unverändert): Hans Ulrich Gumbrecht

Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm

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