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Professor Dr. Dirk Baecker ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Kulturtheorie und –analyse. Der studierte Soziologe und Nationalökonom forschte und lehrte in Bielefeld, Wien, Kalifornien, Maryland und London und wurde 1996 an die Universität Witten/Herdecke auf den Lehrstuhl für Unternehmensführung, Wirtschaftsethik und sozialen Wandel berufen. 2000 folgte der Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an derselben Universität und die Mitbegründung des Management Zentrums Witten.
Hat Moral in der heutigen Gesellschaft überhaupt noch einen Platz?
Professor Dr. Dirk Baecker: Ja, selbstverständlich! Gesellschaften funktionieren nicht ohne Moral. Moral ist die laufende Regelung der Frage, unter welchen Bedingungen wir uns gegenseitig respektieren. Ob wir uns Anerkennung zollen, oder nicht. Gleichgültig, ob es um Koalitionsverhandlungen, einen Investmentdeal, eine Kirchenreform, ein Liebesverhältnis oder ein Universitätsseminar geht: alle Beteiligten kontrollieren ihre Beiträge immer auch unter dem Gesichtspunkt, ob dieser gegenseitige Respekt gewahrt bleibt oder nicht.
Dabei ist beides möglich: Man kann moralisch oder auch unmoralisch miteinander umgehen. Rainald Goetz hat unter dem Titel ‚Johann Holtrop’ einen Roman über einen Topmanager geschrieben, der bei seinen Beiträgen zur Geschäftsführung grundsätzlich darauf verzichtet, sich moralisch zu kontrollieren. Man sieht sehr schnell, dass dies nicht nur zu einem unmoralischen Handeln führt, sondern zum Verlust vieler anderer Informationen, die für diese Geschäftsführung wichtig wären. Der Respekt voreinander ist also nicht nur menschlich geboten, sondern zugleich funktional hilfreich, um eine rückkopplungsreiche Gesprächskultur zu fördern. Natürlich kann man auch das übertreiben und vor lauter Respekt voreinander darauf verzichten, mögliche wunde Punkte zu berühren.
Welche Rolle hat Moral in Politik oder Wirtschaft? Ist sie deren unverzichtbare Grundlage oder ist es naiv und systemfremd, sie zu fordern?
Baecker: Für Politik und Wirtschaft gibt es jeweils nur eine unverzichtbare Grundlage. Das sind das politische Kalkül der Macht und das ökonomische Kalkül des Nutzens. Die Moral kommt erst an der Stelle ins Spiel, wenn es darum geht, Politik und Wirtschaft mit ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen abzustimmen. Der Mechanismus der Moral ist dabei eher schwach, da er alle Fragen der Verknüpfung gesellschaftlicher Rücksichten durch das Nadelöhr der einen Frage des Respekts oder Nicht-Respekts der Person laufen lassen muss.
Personen sind in der Tat wichtige Stellen der Verbindung verschiedener gesellschaftlicher Bereiche untereinander. Aber es leuchtet ein, dass es Problemstellungen wie etwa diejenigen positiver und negativer Externalitäten von Politik und Wirtschaft gibt, die von einzelnen Personen weder wahrgenommen noch beeinflusst werden können. Je schwächer die Moral in dieser Hinsicht ist, desto mehr tendiert sie andererseits zu einer massenmedialen Verstärkung, so dass Skandale, Empörung und Wut in Formen rapiden Respektverlusts an die Stelle adäquater Nachjustierungen gesellschaftlicher Kalküle treten.
Ist es ausreichend, an die Politik nur abstrakte moralische Forderungen zu stellen und über sie zu richten oder muss die Moral auf die spezifischen Umstände der Politik Rücksicht nehmen?
Baecker: Eine Moral, die Rücksicht nimmt, ist keine mehr. Umgekehrt ist es daher wichtig, dass gesellschaftliche Akteure sich sehr genau überlegen, wann sie moralisieren, also Personen direkt und persönlich in die Pflicht nehmen, und wann man eher sachlich bleibt, abwartet oder ausweicht. Moral ist nur wirksam, wenn sie dosiert eingesetzt wird. Deswegen ist auch der Umgang mit Moral eine Frage der Intelligenz.
Das 1997 erschienene Buch „Moral und Politik“ von Vittorio Hösle ist ein „Projekt einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert“. Problematisch ist für den Autor die „einzigartige Gewaltexplosion“ als Verbindung des Gewaltmonopols des modernen Staates mit den Möglichkeiten der gegenwärtigen Technik. Wie kann es auf diesem Gebiet gelingen, politische Ethik in der Realität umzusetzen?
Baecker: Eine politische Ethik kann meines Erachtens nur darin bestehen, die Art und Weise zu beobachten, wie die Politik mit Gewalt umgeht. Das Gewaltmonopol der Politik ist im Wortsinn erforderlich, um andere daran hindern zu können, zum Mittel der Gewalt zu greifen. Das Gewaltmonopol der Politik wirkt aber nur, wenn die Androhung von Gewalt, also polizeilicher und militärischer Gewalt, die die Basis der Macht der Politik ist, wirksam ist. Ich könnte mir vorstellen, der politischen Ethik unter anderem auch die Aufgabe zuzuweisen, kritisch zu überprüfen, wie die Androhung von Gewalt in bestimmten Gesellschaften sozial, psychisch und physisch wirkt.
Da man auf die Drohung nicht verzichten kann, ist es wichtig zu wissen, welche Wirkung diese Drohung hat. Es geht dabei ja um mehr als die Sicherstellung von Gehorsam. Es geht auch um die Gestaltung von Freiheitsspielräumen der Gesellschaft. Andernfalls bräuchten wir keine Grundrechte, die die Eingriffstiefe des Staates einschränken.
Fehlende politische Moral kommt in vielen Bereichen zum Ausdruck, sei es beim NSA-Skandal oder bei der Behandlung von Flüchtlingen. Wie muss politische Ethik heute konkret aussehen und auf welchem Weg kann sie durchgesetzt werden?
Baecker: Die wichtigste Aufgabe der politischen Ethik, darin würde ich Niklas Luhmann folgen, ist die Warnung vor der Moral, die zu schnell und zu polemisch persönlich wird. Die Ethik sollte die Bedingungen klären, unter denen ein moderater Einsatz der Moral sinnvoll ist. Und Bedingungen zu klären, heißt im Wesentlichen, auf gesellschaftliche Zusammenhänge aufmerksam zu machen, die komplexer sind als es sich der empörungsbereite Zeitungsleser und Blogschreiber oft vorstellen kann.
Ist die zur Zeit herrschende politische Moral eigentlich nur ein Spiegel unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse, weil uns vielleicht der Gemeinschaftssinn abhanden gekommen ist?
Baecker: Ist uns der Gemeinschaftssinn tatsächlich abhanden gekommen? Könnten wir dann überhaupt noch miteinander reden? Mir fällt auf, dass meist dann an einen Gemeinschaftssinn appelliert wird, wenn Kosten verteilt werden sollen. Das können wir eigentlich nach wie vor sehr gut. Und wir können die Kosten nicht nur sehr gut verteilen, sie werden aller Orten auch ohne größere Proteste getragen. Deswegen mache ich mir um den Gemeinschaftssinn keine Sorgen.
Titel: Time_will_tell (CC BY-NC-ND 2.0)
Text: Medienmagazin pro (CC BY 2.0) | Abandoned.be (CC BY-NC-ND 2.0) | European Parliament (CC BY-NC-ND 2.0)