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Paul Kumst befindet sich derzeit im 4. Semester des Studiums der Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Zeppelin Universität. Bei der Hausarbeit zu Machiavelli stand nicht zum ersten Mal eine gewisse Sensibilität gegenüber potentiell gefährlichen Machtsituationen im Zentrum seiner Forschung: Im Rahmen von anderen Hausarbeiten setzte er sich bereits mit Drohnen und Genoziden auseinander. Seit Beginn seines Studiums ist er außerdem Mitglied im studentischen Verein „Club of International Politics“ und diskutiert dort auch jenseits seines Studiums auf internationalen Sitzungen über politische Themen.
ZUfo ist die interdisziplinäre studentische Forschungskonferenz der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Studenten aus allen Fachrichtungen und von unterschiedlichen Universitäten werden dort zusammengebracht, um über gesellschaftliche Herausforderungen und Phänomene interdisziplinär zu diskutieren. Am 22. und 23. März 2013 bietet die Veranstaltung eine Plattform für einen Perspektivenaustausch über das Thema „Pfadabhängigkeiten“.
Unter „ambizione“ versteht Machiavelli die Kerneigenschaft der Menschen, welche letztlich als Begründung für einen anthropologischen Pessimismus wirkt. Es ist ein unersättlicher Ehrgeiz, der laut Machiavelli die „Begehrlichkeit der menschlichen Natur“ begründet. Da diese Eigenschaft immer daran scheitern muss, dass nicht alles erreicht werden kann, gründet sich eine Art ewiger Unzufriedenheit in der „ambizione“. Diese sei mit den Eigenschaften der Maßlosigkeit und der Habsucht Ausgangspunkt für eine latente Kriegssüchtigkeit der Menschen.
„virtue“ ist laut Machiavelli der „Inbegriff politischer Energie und Kompetenz“ und bildet den möglichen Ausgleich zu den Folgen der menschlichen „ambizione“. Die Kompetenz ergibt sich unteranderem daraus, dass es dem Tugendhaften möglich ist, für seine Ziele günstige Gelegenheiten zu erkennen und zu nutzen. Diese Fähigkeit ermöglicht einen, den spezifischen Umständen angepassten Umgang und dementsprechend ein Gegensteuern gegen die determinierende Schicksalhaftigkeit.
Sie wollen bei ZUfo Ihre Hausarbeit zu Machiavellis Geschichtsverständnis diskutieren. Welche Motivation hatten Sie, diesen Klassiker zu bearbeiten?
Paul Kumst: In einem Kurs zur politischen Philosophie habe ich mich mit Machiavelli beschäftigt. Dessen Realpolitik zeichnet sich aus durch eine Trennung von politischer Handlung und Moral. Das ist eine vielkritisierte Differenzierung, man stößt im Zusammenhang mit Machiavelli auch auf Begriffe wie „der Urahn Heinrich Himmlers". Und auch bei mir gab es, als ich mich damit auseinandergesetzt habe, das Bedürfnis, mich gegen diese strikte Trennung zu wehren.
Machiavelli entkoppelt politische Entscheidungen gänzlich von Moral?
Kumst: Moral spielt für ihn im Hinblick auf politische Handlungsempfehlungen zumindest eine untergeordnete Rolle. Er sagt zwar, zum Beispiel in „Il Principe", es sei schön, wenn es gelingt, Moral in politische Entscheidungen zu integrieren, aber es gäbe Situationen, in denen man für die Zielerreichung auf Moral verzichten können muss. Es gibt dieses Kapitel „Ob es besser ist, geliebt oder gehasst zu werden", in dem er ganz klar abwägt und Gründe für beide Seiten nennt: Es gibt Momente, in denen der Fürst laut Machiavelli geliebt werden sollte, aber es gibt auch Beispiele, wo sich Machiavelli explizit für unmoralische Handlungen ausspricht und zum Beispiel Folter oder Mord rechtfertigt.
Und wie legitimiert er diese Trennung?
Kumst: Das hängt stark mit dem Geschichtsverständnis zusammen, vermute ich. Er arbeitet aus seinem Geschichtsverständnis eine Objektivität heraus; er konstruiert Alternativlosigkeit im Hinblick auf ein politisches Ziel, was bei ihm der Machterhalt ist. Machiavelli geht von einem geschichtlichen Zyklus aus, von sechs politischen Staatsformen, die sich immer abwechseln. Dabei gibt es einen gemeinsamen Nenner, der vom Menschenbild geprägt ist; er nennt das „ambizione". Damit meint er die Rastlosigkeit des Menschen, sich immer besser zu stellen und sich über andere Menschen stellen zu wollen. Und dass er diesen kleinen gemeinsamen Nenner in den Zyklus einbaut, ermöglicht ihm die Aussage, dass Menschen in ähnlichen Situationen immer ähnlich handeln.
Das mag ja grundsätzlich plausibel klingen. Aber er schlägt einen Bogen: Wenn man sich lange genug mit der Geschichte beschäftige, so behauptet Machiavelli, dann könne man sich einen empirischen Fundus aufbauen – und bei ihm ist der empirische Fundus extrem groß. Und deshalb kann er in seinem Verständnis prophezeien, in welcher Situation wie gehandelt werden müsse, um bestimmte Ziele zu erreichen.
Somit sind Sie bei der Pfadabhängigkeit, die das ZUfo-Oberthema darstellt: Machiavelli behauptet, vereinfacht gesagt, auf eine vergleichbare Entscheidung folge immer wieder die gleiche Konsequenz?
Kumst: Vereinfacht gesagt: Ja. Angenommen, ein Fürst muss in einer bestimmten Situation entscheiden, wie er zu seiner Bevölkerung steht – bei Machiavelli ist es ganz konkret Florenz im 15. und 16. Jahrhundert. Wenn dieser Fürst dann eine vergleichbare Situation in der Geschichte findet und sieht, der Fürst hat sich damals dafür entschieden, gut zu seinen Leuten zu sein und Bündnisse zu schließen, dann kann es sein, dass die Konsequenz war, dass der Fürst gescheitert ist und er zum Beispiel seine Macht verloren hat und abgesetzt wurde. Und im Detail könnte ein Souverän heute sagen: „Aha, in dieser Situation darf man nicht freundlich sein, sondern muss mit absoluter Gewalt das Volk unterjochen."
Und darin sehen Sie die große Gefahr seiner Aussagen?
Kumst: Ja. Explizit gefährlich wird es eben dann, wenn man sich diese Theorie zu eigen macht und sagt: „Ich habe die Geschichte beobachtet, ich kann erkennen, in welchem Teil des Zyklus‘ wir uns befinden.“ In solchem Kontext könnte man zum Beispiel im aufstrebenden China, der Eurokrise, der grundsätzlichen Gefahr des Terrorismus deuten, dass es gerade bergab geht. Und dass die „virtue“, die politische Energie, in unserer demokratischen Staatsform ihren Höhepunkt überschritten hat und zerfällt. Und dann könnte man argumentieren, dass wir jetzt statt einer Volksherrschaft wieder an einem Punkt sind, an dem es einen starken Mann braucht, der durchgreift. Das ist die große Gefahr. Man könnte dadurch – überspitzt argumentiert – scheinbar die Abschaffung einer Demokratie legitimieren.
Das klingt nach einem gefährlich einfachen Schluss...
Kumst: Machiavelli stellt zwar schon noch Handlungsoptionen einander gegenüber, aber er sagt dann eben auch klar „Ich empfehle diese" und behauptet, dass das die einzig richtige sei, indem er sich auf die Historie beruft. Verlässt man sich auf derartig zyklische Geschichtsmodelle, dann lässt man sich damit auch auf einen Glauben an eine bestimmte Wahrheit ein. Das ist die Gefahr daran.
Für mich führt das auch zu der Frage, wie wir uns weiterentwickeln und was Fortschritt ist. Man könnte sich neben dem zyklischen Verständnis den Verlauf der Geschichte auch anders vorstellen. In meiner Recherche habe ich noch kein Modell gefunden, das mich persönlich wirklich überzeugt. Das wäre ein anderes denkbares Forschungsthema in Zusammenhang mit Machiavellis Theorie.
Bild: sualk61 / flickr.com