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Dr. Birte Fähnrich arbeitet als Postdoctoral Fellow am Lehrstuhl für Politische Kommunikation von Prof. Dr. Markus Rhomberg. Fähnrich promovierte 2012 an der Universität Leipzig mit einer Arbeit zum Thema „Science Diplomacy in der auswärtigen Wissenschaftspolitik“. Danach arbeitete sie unter anderem als Programmleiterin im Department für Kommunikation der Deutschen Universität für Weiterbildung in Berlin, bevor es sie im Juli 2015 nach Friedrichshafen verschlug. Fähnrich ist zudem Sprecherin der Fachgruppe Wissenschaftskommunikation in der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK). Von Oktober 2016 bis März 2017 vertragt sie die Professur Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Organisationskommunikation an der Universität Greifswald.
Migration war in den Jahren 2015 und 2016 das für Europa wichtigste Thema. Dabei handelt es sich um einen hochkomplexen Themenbereich. Welchen Forschungszugang haben Sie zu dem Thema gewählt?
Dr. Birte Fähnrich: Wir erleben in der EU beziehungsweise in Europa insgesamt immer wieder, dass viele Probleme von gesamteuropäischer Relevanz vor allem in einem nationalen Kontext diskutiert werden. Das gilt einerseits für den öffentlichen Diskurs – also die Debatte, die sich in den Massenmedien abspielt –, oft genug aber auch für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit solchen Themen. Wir wollten mit dem Band ein größeres Bild zeichnen und zeigen, wie in anderen europäischen Ländern sowohl auf politischer Ebene als auch in der breiten Öffentlichkeit über die Flüchtlingsthematik debattiert wird. Unser Band beinhaltet daher Beiträge zum Migrations- und Flüchtlingsdiskurs in 19 verschiedenen Ländern: von der Türkei und den südeuropäischen Länder wie Italien, Spanien und Griechenland (als typischen Ankunftsländern für Flüchtlinge) über die Transitländer auf dem Balkan wie Mazedonien, Serbien und Kroatien bis hin zu den mittel- und westeuropäischen Ländern wie Deutschland, Österreich, Schweden, Belgien oder Großbritannien. Alle Beiträge sind dabei in einer ähnlichen Struktur aufgebaut und geben einen Einblick in die Migrationsgeschichte des jeweiligen Landes, bevor sie darstellen, wie der politische und öffentliche Diskurs sich im Laufe der sogenannten Flüchtlingskrise seit Sommer 2015 entwickelt hat.
Sie haben sich auf den öffentlichen Diskurs in Europa konzentriert. In welchen Ländern ging es denn besonders hoch her – und wem war Migration vielleicht relativ „egal“?
Fähnrich: Die Flüchtlingskrise war – vielleicht noch stärker als die europäische Finanzkrise ein paar Jahre zuvor – ein Thema, dass keine Regierung „kalt“ gelassen hat. Interessant zu sehen war aber, dass in der öffentlichen Debatte tatsächlich große Unterschiede zu finden waren. So war das Flüchtlingsthema in Polen beispielsweise kaum ein Medienthema, ein politisches aber durchaus. Besonders spannend war hier auch die Auseinandersetzung mit den Debatten in den südosteuropäischen Ländern. In Mazedonien beispielsweise gibt es Medien in mazedonischer und in albanischer Sprache. Während erstere als regierungsnahe Medien kaum über die riesigen Flüchtlingsströme berichtet haben, gab es in den albanischen regierungskritischen Medien durchaus entsprechende Berichterstattung. Wie kritisch die Debatten waren, lässt sich auch gut an Ländern wie Österreich zeigen, wo es erst zu einem dramatischen Richtungswechsel der nationalen Flüchtlingspolitik und schließlich sogar zum Rücktritt des Bundeskanzlers kam.
Migration war zwar in den vergangenen Jahren das wichtigste politische Thema, doch hitzige Debatten dazu sind keineswegs neu. Wie unterschied sich der Diskurs denn von früheren Auseinandersetzungen zum selben Thema?
Fähnrich: Ein Blick auf die Diskursgeschichte in vielen Ländern zeigt, dass die zentralen Frames sich gar nicht so stark verändert haben, es gab in vielen Ländern beispielsweise immer positive und negative Assoziationen mit Wirtschaftsmigration (etwa mit den sogenannten Gastarbeitern). Mit Blick auf politische oder Kriegsflüchtlinge standen in vielen westlichen Ländern Argumente zur humanitären Pflicht und Verantwortung den Sorgen um Sicherheit und den eigenen Wohlstand und teilweise auch xenophoben Ideen gegenüber.
Besonders an den Debatten zur Flüchtlingskrise von 2015 und 2016 war aber, dass durch die große Zahl an Flüchtlingen die Betroffenheit und der politische und gesellschaftliche Handlungsdruck deutlich größer waren. Für viele ost- und südosteuropäische Länder kam außerdem hinzu, dass sie erstmals in ihrer Geschichte nicht mehr nur mit (wirtschaftlicher) Emigration, sondern nun auch mit Immigration umgehen mussten. Und neu war auch das Ausmaß, in dem die EU und die Verantwortlichkeiten anderer europäischer Staaten in diesen Debatten in den Vordergrund gerückt sind. Gleichzeitig kam mit der Herkunft vieler Flüchtlinge aus islamisch geprägten Staaten auch eine neue religiös-kulturelle Ebene hinzu, die es vorher in den Migrationsdiskursen nicht so stark gegeben hat.
Im Jahr 2017 ist Migration nicht mehr das einzige bestimmende Thema in Europa. Warum ist Ihr Buch trotzdem so wichtig?
Fähnrich: Richtig, die Flüchtlingskrise ist bedingt durch sinkende Flüchtlingszahlen schon seit einer Weile nicht mehr das beherrschende Thema, dennoch hält die öffentliche Debatte an. Unabhängig von der letzten großen Flüchtlingswelle werden uns die Themen Migration und Flucht aber auch in Zukunft begleiten, denn in vielen Ländern des Nahen Ostens ist die politische Lage weiterhin angespannt, und die ökonomische Situation in vielen afrikanischen Ländern wird sich in absehbarer Zeit wohl kaum verbessern – dazu kommen in Zukunft vielleicht ganz neue Ursachen, etwa die Flucht vor Klimaphänomenen wie Dürren.
Aber unser Buch ist auch jenseits des Themas Migration relevant, weil es im besten Fall dafür sensibilisiert, dass innerhalb Europas durchaus sehr divergent über gemeinsame Probleme und Themen gesprochen wird und dass es dafür auch historische und gesellschaftliche Gründe in den einzelnen Ländern gibt. Wir zeigen aber genauso die vielen Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Gesellschaften bei der Bewältigung von Krisen. Insofern ist dies durchaus ein pro-europäisches Buch, zu dem viele ambitionierte und engagierte Kolleginnen und Kollegen aus ganz Europa dankenswerter Weise beigetragen haben.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Interview und redaktionelle Umsetzung: CvD