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Heribert Dieter wurde geboren 1961 und forscht zu internationalen Wirtschaftsbeziehungen an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er lehrt seit dem Fall Semester 2009 an der Zeppelin Universität. Dieter studierte von 1983 bis 1989 Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre an der FU Berlin, wo er 2005 auch seine Habilitation ablegte. Zu seinen aktuellen Forschungsvorhaben zählen die Untersuchung von Reformoptionen für die internationalen Finanzmärkte, die Analyse der Perspektiven der Europäischen Währungsunion und monetärer Kooperation in Asien sowie die Betrachtung der Position Deutschlands in der Weltwirtschaft des 21. Jahrhunderts.
Dr. Bettina Biedermann arbeitet und lehrt an der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht. Am Campus Schöneberg betreut sie unter anderem die Forschungsförderung und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Darüber hinaus ist sie Lehrbeauftragte im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften, wo sie unter anderem die Veranstaltung "Migration im Wandel" unterrichtet.
In früheren Epochen war dies einfacher. Im 19. Jahrhundert war Migration ein wichtiger Bestandteil der Wirtschaftspolitik von Einwanderungsländern wie den USA und Australien. Allerdings waren die damaligen Regelwerke einfach: Es gab nur wenige Beschränkungen bei der Migration etwa in die USA. Aber zugleich war das Leben der Zuwanderer auch extrem entbehrungsreich und wurde durch keine sozialpolitische Maßnahmen abgefedert. Das Ende der unregulierten Migration kam mit dem Anstieg des Einflusses der Gewerkschaften: Diese forderten etwa in Australien mit Erfolg die Implementierung von Zuzugsbeschränkungen, weil sie australische Arbeitnehmer vor einem Anstieg des Arbeitskräftepotentials und dem damit verbundenen Druck auf die Lohnhöhen schützen wollten.
Im Prinzip haben wir heute noch immer eine Diskussion um die gleichen Fragen. Wem sollte erlaubt werden, etwa in die Europäische Union einzuwandern und wem sollte dies nicht gestattet werden? Vor allem aber: Wie sollen Staaten auf den unkontrollierten Zuzug von Menschen reagieren, die in ihren eigenen Ländern keine aussichtsreiche Lebensperspektive haben und aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen ihr Land auf Dauer verlassen wollen?
Denkbar sind zwei höchst unterschiedliche Reaktionen auf den wachsenden Migrationsdruck. Eine extrem liberale Variante würde die heutigen Restriktionen für die Zuwanderung vollständig aufgeben. Einwandern könnte, wer es auf das Territorium des Einwanderungslandes schafft. Dies würde allerdings unweigerlich zur Abschaffung des Sozialstaates westeuropäischer Prägung führen. Europa, das heute rund ein Viertel der weltweiten Wirtschaftsleistung produziert, müsste seine Sozialleistungen – aktuell 50 Prozent der weltweit gezahlten Unterstützungen – drastisch kürzen oder Zuwanderer von Sozialleistungen ausschließen. Vermutlich ist weder das eine noch das andere nicht ohne brutale soziale Verwerfungen zu realisieren. Zudem ist die politische Akzeptanz für eine Liberalisierung der Zuwanderung schon heute niedrig. Die Fremdenfeindlichkeit dürfte in einem radikalen Liberalisierungsszenario drastisch wachsen.
Die andere Ecklösung ist die extreme Abschottung, wie sie heute von Australien, aber zunehmend auch Ländern wie Malaysia und Indonesien praktiziert wird. Irreguläre Migration wird nicht geduldet. Die Einreise per Flugzeug ist ohnehin streng kontrolliert. Migranten, die per Schiff nach Australien flüchten wollen, werden von der australischen Marine aus den Hoheitsgewässern des Landes in internationale Gewässer zurückgedrängt. Sollte es dennoch jemandem gelingen, australischen Boden zu erreichen, folgt die Internierung in Flüchtlingslagern, einige davon auf dem Territorium von Drittstaaten. Australische Politiker verweisen darauf, dass diese harte Politik Menschenleben gerettet habe: Während zwischen 2008 und 2013 etwa 1.400 Menschen beim Versuch, Australien per Schiff zu erreichen, ertrunken sind, sind seitdem keine Todesopfer mehr zu beklagen.
Es bedarf keiner seherischen Fähigkeiten, um die Implementierung einer dieser beiden radikalen Lösungen in Europa auszuschließen. Es deutet sich schon heute an, dass Europas Antwort auf die Zunahme der irregulären Migration unentschlossen ausfallen wird. Die Grenzen werden weder vollständig geöffnet noch komplett geschlossen werden. Dies mag moralisch leichter zu vertreten sein, aber sonderlich plausibel ist dieser Mittelweg nicht. Er begünstigt Migranten, die es im Dunkel der Nacht irgendwie in die EU schaffen. Nicht diejenigen, die in besonderem Maße den Schutz europäischer Länder benötigen, werden aufgenommen, sondern jene mit den findigeren Schleppern und den schnelleren Booten.
An Vorschlägen zur Lösung des Problems mangelt es freilich nicht. Aber weder eine „gerechtere“ Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedsländer der EU noch das Versenken von Schlepperbooten in lybischen Häfen wird Menschen darin hindern, ihr Glück in Europa zu suchen. Die gelegentlich geäußerte Hoffnung, durch entwicklungspolitische Maßnahmen das Elend der Menschen in afrikanischen und asiatischen Gesellschaften lindern zu können, kann ebenfalls nicht überzeugen. Nur wenige afrikanische Volkswirtschaften haben sich seit der Unabhängigkeit nachhaltig entwickelt, und diese werden nun ihrerseits Ziel von innerafrikanischer Migration.
Auch in einigen asiatischen Ländern, etwa Bangladesch oder Myanmar, wandern Menschen aus. Die Zuwanderung in den indischen Südosten sorgt dort für erhebliche politische Spannungen zwischen den einwandernden Muslimen und der angestammten hinduistischen Bevölkerung. Aber selbst ohne religiöse Konflikte ist die Solidarität mit verfolgten Zuwanderern beschränkt: In Südostasien haben die beiden muslimisch geprägten Länder Indonesien und Malaysia im Mai 2015 eine Gruppe von islamischen Flüchtlingen aus Myanmar abgewiesen und die Flüchtlingsboote wieder aufs offene Meer geschickt. Unverkennbar haben diese Länder sich für die australische Methode des Umgangs mit irregulärer Migration entschieden.
Europa wird sich wohl oder übel intensiver mit der Regulierung von irregulärer Migration beschäftigen müssen. Das Interesse an Zuwanderung wird in den kommenden Jahren weiter deutlich steigen: Zum einen trifft der deutliche Rückgang der Rohstoffpreise viele afrikanische Volkswirtschaften hart – und wird für eine Abschwächung des phasenweise beachtlichen Wachstums afrikanischer Ökonomien sorgen. Zum anderen nimmt die Bevölkerung Afrikas weiter zu. Die Weltbank prognostiziert eine Verdopplung der Einwohnerzahl Afrikas bis zum Jahr 2050. Die Hoffnung, das Problem würde sich auch ohne entschlossene politische Maßnahmen von selbst lösen, ist trügerisch.
Titelbild: Collage von Florian Gehm mit zehn Fotografien von Martin Gommel / flickr.com (Collage und Bilder jeweils unter CC BY-NC-SA 2.0 Lizenz)
Bilder im Text: Martin Gommel / flickr.com (CC BY-NC-SA 2.0)
Jakob Huber / Campact via flickr.com (CC BY-NC 2.0)
John Englart / flickr.com (CC BY-SA 2.0)
Bengin Ahmad / flickr.com (CC BY-ND 2.0)
Beitrag (redaktionell unverändert): PD Dr. Heribert Dieter & Dr. Bettina Biedermann
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm & Alina Zimmermann