ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.
Kevin Kühnert, geboren 1989, ist seit dem Bundeskongress 2017 in Saarbrücken Jusos-Bundesvorsitzender. Der/die Jusos-Bundesvorsitzende wird alle zwei Jahre vom Bundeskongress der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten gewählt und vertritt den Verband nach außen und innerhalb der Mutterpartei SPD. Kühnert ist gebürtiger Berliner, lebt bis heute dort und arbeitet für ein Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Er engagiert sich kommunalpolitisch im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, wo er Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung ist und verschiedene Aufgaben in der SPD übernimmt. Seine restliche Freizeit investiert er leidenschaftlich gerne, um sich von Fußball bis Curling jeden erdenklichen Sport anzusehen.
„Meiner Generation wird vorgeworfen, für ihre Interessen nicht einzustehen“, beginnt Kevin Kühnert seinen Impulsvortrag. So etwas lässt er nicht auf sich sitzen und sucht nach Erklärungen: „Wir wurden in diese Welt hineingeboren und haben den Status quo nie hinterfragt. Erst in den vergangenen Jahren sind wir aus dem Dämmerschlaf geweckt worden.“ Der Jusos-Bundesvorsitzende sieht es kritisch, dass junge Erwachsene Europa lediglich mit Erasmus-Programmen und Interrail-Tickets verbinden. „Die Erzählung von dem Sozialprojekt Europa ist eine zu elitäre“, gibt er zu bedenken.
Vor einiger Zeit habe er angefangen, eine Liste mit Themen zu führen, auf die er am häufigsten angesprochen werde. Der Dieselskandal, Waffenexporte und Umweltschutz stünden ganz oben. Kevin Kühnert provoziert: „Und? Hat Europa Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit?“ Für ihn steht fest, dass die heutigen Probleme nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden können. Deutschland könne die Aufarbeitung des Dieselskandals nicht allein meistern. Irland könne nicht allein für gerechte Arbeitsbedingungen bei Ryanair sorgen. Und kein europäischer Staat könne Amazon zerschlagen, wenn die monopolistische Stellung dieses Konzerns überhandnimmt.
Hier sieht Kühnert die zukünftigen Chancen Europas. Mehr Interrail-Tickets seien zwar schön und gut, aber der Jusos-Chef fordert eine stärkere Demokratisierung Europas, mehr Rechte für das Parlament, eine bessere Nachvollziehbarkeit demokratischer Prozesse, gemeinsame Standards und vor allem die Abgabe von Kompetenzen an die europäische Ebene. Die Forderungen nach Vereinigten Staaten von Europa seien schon sehr früh im Heidelberger Programm der SPD laut geworden. Doch nun werde es endlich Zeit, diesem Vorhaben einen Nährboden zu geben.
Um das Gelingen dieser Vision zu ermöglichen, müssten von Beginn an Erwartungen formuliert werden, die in der Zukunft erfüllt werden sollen. „Eine Erkenntnis muss ganz am Anfang stehen: Nur gemeinsam sind wir stark“, beteuert Kühnert. Er plädiert für die Formulierung von gemeinsamen Zielen, auch wenn auf diesem Weg noch viele Einigungen zu meistern sind. Doch auch dazu hat der 29-Jährige konkrete Vorstellungen: „Europa braucht einen eigenen Haushalt und eigene Steuereinnahmen, und das Subsidiaritätsprinzip muss zur Geltung gebracht werden. Die Werteunion Europa muss sich an der Charta der UN orientieren, Europa muss die Identität schützen und Platz für verschiedene Identitäten schaffen. Europa braucht ein selbstbewusstes Parlament mit Initiativrecht, das Einstimmigkeitsprinzip hat ausgedient. Wir müssen für ein Europa kämpfen, das sich auf eine starke Säule der Bürgerbeteiligung stützt.“ Kevin Kühnert muss nicht um die Aufmerksamkeit seines Publikums kämpfen, er reißt seine Zuhörer vielmehr mit. Mit seiner klaren Sprache und den konkreten Ideen begegnet er den Zuschauern auf Augenhöhe und weckt Hoffnungen für die Europawahl im nächsten Jahr.
Doch Kevin Kühnert betont nicht nur seine Verbundenheit mit der Europäischen Union. Für ihn ist es die Sozialdemokratie, die dabei eine besondere Aufgabe zu bewältigen hat. Sie müsse die Machtfrage im europäischen Bundesstaat stellen und dafür sorgen, dass eine politische Regulierung des Marktes hinsichtlich der Wirtschafts- und der Währungspolitik möglich wird. Deutschland müsse hinterfragen, ob es seine Position als Exportweltmeister halten könne und ob dies der Vorstellung einer solidarischen europäischen Politik entspreche. Deutschland müsse bedenken, welche negativen Auswirkungen dies auf andere europäische Staaten habe und ob uns die Lohnpolitik in anderen Mitgliedsstaaten egal sei. „Denn am Ende bringt eine Schwarze Null nichts, wenn darunter die Infrastruktur leidet“, kritisiert Kühnert.
Das Gleiche gelte für das Ausbildungssystem in Europa. „Die EU gibt den Ländern Geld, es fehlt aber an Kompetenzen und Handwerkszeug. Nur von Geld allein wird noch niemand ausgebildet!“, hebt der gebürtige Berliner hervor und erklärt weiter, dass man gemeinsame Regeln im Arbeitsrecht und Arbeitsschutz finden müsse. Die gesetzlichen Grundlagen seien veraltet und würden nur von Angestellten oder Selbstständigen ausgehen. Neue Formen wie beispielsweise Crowdworking dagegen würden völlig in den Hintergrund geraten. Es seien viele Themen, die bisher noch Fragen aufwerfen würden. „Einheitliche Besteuerungsstandards, gemeinsame Umweltschutzbestimmungen, all das fehlt uns noch. Die Sozialdemokratie muss im Rahmen des Projekts Europa Internationalismus mit sozialen Aufstiegsversprechen verbinden“, sagt der Jusos-Bundesvorsitzende mit Bestimmtheit ein und lässt sich nach seinem Impulsvortrag auf eine Fragerunde ein.
Nicht zuletzt geht es im Folgenden um die Ursachen für den Abstieg der Sozialdemokratie in den europäischen Staaten. Kühnert versucht zu erklären, warum die Sozialdemokratie einst so beliebt war: „Das sozialdemokratische Zeitalter wurde in einer Generation geboren, die Krieg und Zerstörung erlebt hatte und mit der Systemkonkurrenz hinter dem Eisernen Vorhang konfrontiert war. Diese Systemkonkurrenz fiel in den 1990er-Jahren weg.“ Die Sozialdemokratie habe dann selbst ihr Ende erklärt, indem sie vermittelte, dass nun alles geregelt sei. Auch heute seien wir mit Problemen wie dem Niedriglohn konfrontiert, doch die Antworten der sozialdemokratischen Parteien seien oft nicht mehr zeitgemäß. Kühnert hinterfragt, ob es an sozialdemokratischen Vorbildern fehle oder die Kommunikation mit den Spitzenpolitikern scheitere.
Letztendlich stellt er fest: „Viele fühlen sich nicht vertreten. Viele an der Spitze wissen gar nicht, wen sie überhaupt vertreten. Und wenn die sozialdemokratischen Parteien zu lange herumeiern, sind sie irgendwann einfach weg!“ Dem Jusos-Bundesvorsitzenden ist eine gesunde Fehlerkultur wichtig und deshalb übt er auch mal gerne Kritik an der eigenen Partei: „Die SPD muss nicht immer auf den letzten Applaus von irgendwelchen konservativen Unternehmen warten. Das ist mit letztlich egal! Mich interessiert, was die Gewerkschaften, pro-europäische Gruppen und Frauen dazu sagen. Und die SPD sollte nicht nur Menschen vertreten, die Solidarität brauchen, sondern auch diejenigen, denen es gut geht und die in einer solidarischen Welt leben möchten.“
Ein Zuschauer stellt im Anschluss an dieses Statement die Frage, wie die Bedürfnisse von Menschen in strukturschwachen Regionen sowie die urbane Bevölkerung unter einen Hut gebracht werden sollten. Kühnert beteuert, dass diese vermeintlichen Gruppen nicht so einfach voneinander zu trennen seien: „Es ist zwar gerade total en vogue, diesen Widerspruch zu eröffnen, aber eine Entweder-Oder-Gleichung ist totaler Blödsinn!“ Die Idee der Sozialdemokratie bestehe darin, dass grundverschiedene Gruppen wechselseitig zusammenarbeiten, und die Geschichte zeige viele Beispiele, die das bestätigen würden.
Nicht nur in diesem Punkt zeigt der Juso-Chef eine klare Haltung. Auch im weiteren Verlauf – etwa, wenn es um die Abtreibungsdebatte geht – macht er deutlich: „Die aktuelle Diskussion in den Medien war nicht unser eigentliches Anliegen. Es ging um etwas anderes. Trotzdem zeigt die gegenwärtige Debatte: Männer schwingen sich immer wieder dazu auf, zu sagen, was für Frauen in der Gesellschaft richtig und was falsch ist. Und das kotzt mich an!“
Kevin Kühnert bleibt hartnäckig und zielorientiert. Er plädiert für eine offene Fehlerkultur in der SPD und hinterfragt immer wieder die Handlungen seiner eigenen Partei. So kritisiert er auch, dass Jugendlichen immer wieder Politikverdrossenheit vorgeworfen werde – das eigentliche Problem liege aber darin, dass junge Erwachsene kaum eine Chance auf gute Listenplätze hätten. Die Jungen sollten nicht auf Platz 40 stehen, wenn man es mit der Zukunft des Landes wirklich ernst meine. Der 29-Jährige hatte lange für eine gerechte Verteilung der Listenplätze gekämpft und ist sich sicher: „Wenn wir das schaffen, dann ist mehr für die Demokratie gemacht worden als auf jedem Parteitag. Europa ist unser eigenes Projekt. Die Zeit, in der wir Verantwortung nach oben delegiert haben, ist vorbei!“
Und er appelliert an seine Zuschauer: „Tragt es weiter! Es ist an der Zeit, seinen Arsch jetzt mal hochzukriegen! Wir müssen den nächsten Brexit unmöglich machen. Es ist unsere Verantwortung, dass das nicht noch einmal passiert!“ Tosender Applaus erfüllt den Raum. Der junge Politiker hat es geschafft, während des GlobalTalk mit einfacher Sprache und klarer Meinung Zuschauer jeden Alters mitzunehmen. Mit einem Hauch von Aufbruchsstimmung verlässt auch der Gast auf dem letzten Sitzplatz nach einem stolzen Selfie mit dem Speaker den Raum.
Titelbild:
| INSM / Flickr.com (CC BY-ND 2.0) | Link
Bilder im Text:
| Florian Gehm (alle Rechte vorbehalten)
| Club of International Politics (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm