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Sabine Knickrehm ist seit 1986 Richterin in der Sozialgerichtsbarkeit und seit 2003 Richterin am Bundessozialgericht in Kassel, wo sie zunächst unter anderem für das Fachgebiet des sozialen Entschädigungsrechts zuständig war. 2007 wechselte sie den Senat und befasst sich seitdem mit Streitfragen aus dem Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II). Im August 2016 wurde sie Vorsitzende Richterin des 13. Senats, der sich mit der gesetzlichen Rentenversicherung befasst. Sie ist Herausgeberin und Autorin zahlreicher juristischer Standardwerke des Sozialrechts. Neben ihrer richterlichen Tätigkeit lehrt sie an den Universitäten Kassel und Göttingen Sozialrecht. Zudem ist sie stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Sozialrechtsverbandes, Beiratsmitglied des Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales sowie Kuratoriumsmitglied der Evangelischen Akademie in Hofgeismar der Landeskirche Kurhessen-Waldeck.
„Ziel der Hartz IV-Gesetze war und ist es, von einer aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik zu gelangen“, stellt Knickrehm fest. Bis zur Einführung des Systems wurde der Arbeitsmarkt als rational zu steuerndes Ansatzobjekt gesehen. Mit Hartz IV änderte sich die Denkweise: Seither steht das Individuum im Mittelpunkt. Dabei wird das Workfare-Modell wirksam, „das die Verbindlichkeit von Arbeitssuche und -aufnahme durch Absprachen und Androhungen von Sanktionen erhöht“, so Knickrehm. „Denn wer steuerfinanzierte (Transfer-)Leistungen in Anspruch nimmt, schuldet der Allgemeinheit Anstrengungen zur Erlangung eines den Lebensunterhalt sichernden Arbeitsplatzes.“
Hartz IV stellt zusammen mit dem SGB II einen wesentlichen Bestandteil der 2002 durch die Regierung von SPD und Bündnis 90/Die Grünen begonnenen Reform unter dem Titel „Agenda 2010“ dar. „Grund für diesen Reformprozess war die anhaltende Arbeitslosigkeit in Deutschland, die zu einer neuen Grundidee der Grundsicherung für Arbeitsuchende führte: Mit dieser sollte das Fördern (§ 3 Abs 1 S 1 SGB II – aktivierende Leistungen) und Fordern (§ 2 SGB II – Eingliederungsleistungen) herbeigeführt werden“, erläutert Knickrehm.
Strukturiert ist die Leistungserbringung im SGB II in passive und aktive Leistungen. Die passiven Leistungen sind staatliche Transferleistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Diese umfassen das Arbeitslosengeld II (Erwerbsfähige Leistungsberechtigte) und das Sozialgeld (Erwerbsunfähige Leistungsberechtigte). Gliedern lassen sie sich in den Regelbedarf (§ 20 Abs 1 SGB II), der pauschalisiert unter anderem die Ernährung, Kleidung oder Körperpflege umfasst, und den Mehrbedarf (§ 21 & 24 SGB II), der zum Teil pauschalisiert, aber auch in tatsächlicher Höhe – sofern diese angemessen ist – etwa Alleinerziehende unterstützt.
Der Mehrbedarf wird nach dem folgenden Schlüssel ermittelt: Alle fünf Jahre werden in einem Zeitraum von drei Monaten von mehr als 53.000 Haushalten Haushaltsbücher geführt. Diese Daten gehen dann an das Statistische Bundesamt und werden dort auf Plausibilität geprüft. Die daraus resultierenden Ergebnisse werden auf die Gesellschaft hochgerechnet und standardisiert veröffentlicht. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales erstellt zudem Sonderauswertungen, die zum Beispiel zwischen dem Bedarf von Kindern und Erwachsenen differenzieren, ermittelt anhand der Nettoentwicklung und regelbedarfsrelevanten Preisentwicklung das sogenannte Existenzminimum. „So erhielt eine alleinerziehende Mutter mit einem siebenjährigen Kind im Februar 2019 1226,88 Euro im Monat“, zeigt Knickrehm auf.
Die aktiven Leistungen unterstützen in Bezug auf die Eingliederung in Arbeit und zielen auf die Erlangung eines Arbeitsplatzes ab, der die Hilfebedürftigkeit und die passiven Leistungen verringert. Die Arbeitsvermittlung stellt daher einen zentralen Punkt dar. „Es können diesbezüglich Kosten für die Berufsausbildung oder Weiterbildung übernommen werden. Wie und in welchem Ausmaß diese dann gewährleistet werden, steht jedoch im Ermessen der Verwaltung“, beschreibt die Vorsitzende Richterin. „Die Erwerbstätigkeit muss jedoch zumutbar sein und mindestens zur Verringerung der Hilfebedürftigkeit beitragen (§ 10 SGB II).“ Der Regelbedarf kann jedoch auch – als Ausdruck des Workfare-Modells – bis zu 100 Prozent sanktioniert werden. So wird etwa nach wiederholter Meldeversäumnis eine Leistungskürzung von 10 Prozent verhängt.
Hartz IV ist jedoch sehr umstritten und weist auch seine Mängel auf. So meint Knickrehm: „Ein Konstruktionsfehler ist die Einbeziehung von Kindern. Im Dezember 2018 haben rund zwei Millionen Kinder unter 18 Jahren den Leistungsbezug des SGB II in Anspruch genommen und der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht zeigt deutlich die Verbindung zwischen schlechten Startbedingungen in früheren Lebensjahren und sozialer Immobilität im Erwachsenenalter auf. Das Stichwort hier lautet: Vererbung von Armut.“ Darüber hinaus kritisiert Knickrehm die Sanktionen von Jugendlichen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren: „Als erzieherische Reaktion auf einen Normbruch werden Leistungskürzungen vollzogen. Doch diese Leistungskürzungen der Jugendlichen stellen durch deren Unterschreiten des Existenzminimums ebenfalls einen Normbruch dar.“
Im weiteren Verlauf des Abends kommen die Alternativen zu Hartz IV zur Sprache. Eine Möglichkeit ist das Bedingungslose Grundeinkommen – damit gemeint ist eine pauschale Geldleistung, die allen Bürgern zustehen soll. Hier gibt Knickrehm zu bedenken, dass die Ausgestaltung entscheidend sei: „Wir müssen uns vor Augen halten, dass die jetzige Grundsicherung nicht nur aus dem Regelbedarf besteht, sondern auch aus Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung. Als Existenzsicherung werden diese zwingend benötigt und müssen somit auch im Grundeinkommen umfasst sein.“ Hinzu kommt die Frage der Gegenfinanzierung. Da diese noch ungeklärt sei, zeigt die Richterin Optionen auf: „Falls das Bedingungslose Grundeinkommen steuerfrei wäre, müsste man beispielsweise das überschüssige Einkommen besteuern, um die Finanzierung überhaupt erst möglich zu machen. Das könnten dann auch Renten sowie zusätzliches Gehalt sein.“
Als abschließende Worte gibt Sabine Knickrehm das folgende Zitat von dem ehemaligen Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes Professor Dr. Georg Cremer mit auf den Weg: „Eine skandalisierende Sozialdebatte, die sich von den Fakten löse, könne die ohnehin grassierende Panik in der Mitte weiter befeuern und ungewollt rechtspopulistischer Mobilisierung in die Hände spielen. Eine Mitte in Angst schottet sich nach unten ab, und das ist schlecht für die Armen. Dies jedoch bedeutet nicht, die Debatte nicht zu führen, aber dies beutet, sorgsam unter hinreichender Berücksichtigung von Fakten und nicht Befindlichkeiten zu handeln.“
Titelbild:
| Samuel Groesch / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Bild im Text:
| Samuel Groesch / Zeppelin Universität (alle Rechte vorbehalten)
Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm