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Finger weg von der Tarifautonomie!
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Mindestlohn

Finger weg von der Tarifautonomie!

von Florian Gehm | Redaktion
28.10.2013
Gegner eines allgemeinen und flächendeckenden Mindestlohns gelten häufig in der Debatte fälschlicherweise als sozial kalt, dabei ist genau das Gegenteil der Fall.

Christian Bauer
 
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    Zur Person
    Christian Bauer

    Der 1985 geborene Nürnberger Christian Bauer ist Diplom-Volkswirt und akademischer Mitarbeiter am Phoenix-Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre & Mobility Management an der Zeppelin Universität. Seine Forschungsinteressen liegen auf Wirtschafts-, Verkehrs- und Wettbewerbspolitik. Bauer arbeitet und lehrt seit August 2010 am Bodensee und gibt dort neben Volks- und Betriebswirtschaftslehre auch den Kurs Politische und ökonomische Aspekte der Regulierung.

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    Factbox
    Zum Kennenlernen: Branchenspezifische Mindestlöhne in Deutschland

    Anders als in vielen europäischen Ländern, gibt es in Deutschland noch keinen Gesetzlichen Mindestlohn. Denn das deutsche Grundgesetz garantiert in Art. 9 Abs. 3 die Tarifautonomie und bewilligt allen Beteiligten, ihre Löhne ohne staatliche Eingriffe auszuhandeln. Trotzdem können die Tarifparteien unter sich bestimmte Lohnuntergrenzen aushandeln. Diese gelten sogar für nicht tarifgebundene Arbeitgeber, wenn sie für allgemein verbindliche erklärt werden.
    Diese sogenannten branchenspezifischen Mindestlöhne zahlen aktuell Arbeitgeber in 14 Branchen: Baugewerbe, Bergbau, Aus- und Weiterbildung, Dachdecker, Elektrohandwerk, Gebäudereinigung, Maler und Lackierer, Pflege, Sicherheitsdienstleistungen, Wäschereidienstleistungen, Abfallwirtschaft, Steinmetze, Frisörhandwerk und Zeitarbeit. So erhalten fast 4 Millionen Beschäftigte einen tariflich gesicherten Lohn und verdienen damit mindesten 7,50€ pro Stunde.  

    Zum Vergleichen: Mindestlöhne im Rest von Europa

    Insgesamt 28 Mitgliedstaaten umfasst die Europäische Union: In 21 von ihnen gilt ein allgemeiner, gesetzlicher Mindestlohn. Dabei unterscheidet sich die Höhe der Löhne aber dramatisch. Spitzenreiter ist Luxemburg mit einer Lohnuntergrenze von 10,83€ pro Stunde. Danach folgen Frankreich, Belgien und die Niederlanden mit einem festen Stundenlohn von ca. neun Euro. Einen deutlichen Sprung nach unten müssen Arbeitnehmer in Spanien (3,91€), Griechenland (3,35€), Portugal (2,92€) und Polen (umgerechnet aktuell 2,21€) in Kauf nehmen. Besonders schwer haben es Arbeitnehmer in Bulgarien und Rumänien. Umgerechnet liegen die Lohnuntergrenzen bei diesen beiden Schlusslichtern bei ca. 0,95€.

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Bei einem Mindestlohn von 8,50€ pro Stunde erhält ein Arbeitnehmer im Monat nicht einmal 1.500€. Davon werden noch Steuern und Versicherungen abgezogen, so dass gut 1.000€ verbleiben. Warum ist das vielen Politikern und Unternehmern zu viel?


Christian Bauer: Es geht zunächst einmal nicht darum, dass ein monatliches Nettoeinkommen von 1000€ von vielen Politikern, Unternehmern und auch Ökonomen als ‚zu hoch’ angesehen wird. Die Gründe für die Ablehnung eines Mindestlohns sind deutlich vielschichtiger und zielen meist auf schädliche Wirkungen eines solchen Mindestlohns ab, die eine politische Festsetzung nach sich ziehen kann. 


Gegner eines allgemeinen und flächendeckenden Mindestlohns gelten häufig in der Debatte fälschlicherweise als sozial kalt. Aber es gibt durchaus berechtigte Zweifel daran, dass der Mindestlohn ohne negative ökonomische und soziale Folgen bleibt und tatsächlich zum Ziel der Armutsbekämpfung beitragen kann. Vor kurzem warnte sogar die Caritas mit ökonomischen Argumenten vor einem Mindestlohn – und die Caritas ist sicherlich unverdächtig, kalt und gefühllos zu sein und den Menschen kein adäquates Arbeitsentgelt zuzugestehen.

Immer wieder setzen sich Gewerkschaften, Verbände und Vereine für Mindestlöhne ein. Der "Inhalt" der hier verteilten Pakete ist für Bauer ein waghalsiges Experiment.
Immer wieder setzen sich Gewerkschaften, Verbände und Vereine für Mindestlöhne ein. Der "Inhalt" der hier verteilten Pakete ist für Bauer ein waghalsiges Experiment.

Mit Einführung eines Mindestlohns wären viele Arbeitnehmer nicht mehr auf Aufstockung angewiesen. Hierdurch würde die öffentliche Hand entlastet werden und Geld in die Sozialkassen kommen. Auch die Arbeitnehmer würden später mehr Rente erhalten. Ist dies alles nicht wünschenswert?


Bauer: Aber genau da liegen doch schon Probleme, auf die wir Volkswirte schon immer aufmerksam machen! Erhält ein Arbeitnehmer einen so geringen Lohn, dass er auf eine Aufstockung angewiesen ist, macht sein Bruttolohn plötzlich einen beachtlichen Sprung nach oben. Um das gleich klarzustellen: Das alleine ist natürlich für den Arbeitnehmer erst einmal positiv und dagegen wird wohl niemand etwas haben, das ist völlig unbestritten. Hier knüpft allerdings ein großes ‚Aber’ an, wo die Befürworter eines Mindestlohns dann schon aufhören zu argumentieren: Der Arbeitgeber wird sich sehr genau überlegen, ob er die Stelle tatsächlich benötigt, oder ob er die Tätigkeiten nicht auch anders abdecken kann. Im schlimmsten Fall wird der Job gestrichen, dann ist dem Arbeitnehmer gar nicht geholfen. 

Zum Kennenlernen: Branchenspezifische Mindestlöhne in Deutschland


Das Risiko einer solchen negativen Folge ist gerade im Niedriglohnsektor hoch. Eine weitere Konsequenz wäre dann, dass die öffentliche Hand eben nicht entlastet würde, sondern im Gegenteil wieder mehr Transferleistungen zahlen müsste. Abgesehen davon muss man sehen, dass der Staat selbst die Grundsicherung festgelegt hat, die bei Arbeitslosigkeit oder bei einem Verdienst unterhalb dieses Mindestbetrags sichergestellt wird. Im Grunde genommen wird die Sozialpolitik dann doch nur privatisiert – und zwar auf Kosten der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer.

Darüber hinaus wird es die Kollegen, die oberhalb dieses Mindestlohns verdienen, schon nicht mehr freuen. Schließlich wird der Lohnabstand durch die einseitige Anhebung geringer und womöglich verdienen dann beide ähnlich, wenn nicht die höheren Löhne ebenfalls nach oben angepasst werden. Ein arbeitspsychologisches Dilemma. Und mehr Rente bekämen die Arbeitnehmer übrigens sowieso nur, wenn wir ein kapitalgedecktes Rentensystem hätten. Bei dem derzeitigen Umlagesystem ist nicht einmal gesichert, dass jeder später auch annähernd den Betrag herausbekommt, den er eingezahlt hat.

Anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen, könnte der Mindestlohn schnell zur Gefahr für Arbeitnehmer werden. Bauer befürchtet einen deutlichen Wegfall von Arbeitsplätzen.
Anstatt für Gerechtigkeit zu sorgen, könnte der Mindestlohn schnell zur Gefahr für Arbeitnehmer werden. Bauer befürchtet einen deutlichen Wegfall von Arbeitsplätzen.

Gegner eines allgemeinen Mindestlohns führen vor allem die Umgehung der Tarifautonomie ins Feld. Gewerkschaften haben mit ihren Forderungen nach Mindestlohn in den vergangenen Jahren aber längst nicht immer Erfolg gehabt. Ist jetzt eine gesetzliche Regelung nicht unumgänglich?


Bauer: Tarifautonomie steht für freie Verhandlungen zwischen den Tarifparteien über Arbeitsbedingungen und vor allem über die Entgelthöhe. Alle Tarifabschlüsse sind das Ergebnis der Mühen der jeweiligen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die sich untereinander geeinigt haben und die vereinbarten Löhne für vertretbar halten. Warum sollte der Staat den Tarifparteien diese Hoheit nehmen und vor allem die Kompetenz absprechen, dass die Beteiligten besser wissen, was für sie tragbar ist? Womöglich sollten sich dann die Gewerkschaften eher an die eigene Nase fassen und in dieser Situation, in der sie bei den Verhandlungen nicht erfolgreich waren, nicht in ihrer Hilflosigkeit nach dem Staat rufen. 


Und selbst dann haben wir das Problem, dass der Gesetzgeber mehr oder weniger blind darauf vertrauen muss, dass er mit einem Mindestlohn seine sozialen Ziele tatsächlich erreicht. Aus wissenschaftlicher Perspektive ist ein flächendeckender Mindestlohn nichts anderes als ein teures Feldexperiment, denn die zahlreichen Studien, die es zu Mindestlöhnen und deren Auswirkungen gibt, könnten widersprüchlicher kaum sein: Die beiden Arbeitsmarktökonomen Neumark und Wascher werteten eine Vielzahl empirischer Studien aus und kamen zu dem Ergebnis, dass auf Grundlage der untersuchten Arbeiten kein eindeutiger Effekt auf die Beschäftigung vorausgesagt werden kann. 

Die Infografik der Hans Böckler Stiftung zeigt: In 21 von 28 Mitgliedstaaten gibt es gesetzliche Mindestlöhne. Die liegen in Rumänien und Bulgarien aber unter einem Euro.
Die Infografik der Hans Böckler Stiftung zeigt: In 21 von 28 Mitgliedstaaten gibt es gesetzliche Mindestlöhne. Die liegen in Rumänien und Bulgarien aber unter einem Euro.

Fakt ist aber, dass 86 neuere Studien Anzeichen für negative Beschäftigungseffekte liefern und weniger als zehn Studien positive Beschäftigungseffekte nahelegen. Die Erkenntnisse mögen vielleicht einigen nicht gefallen, sind aber eben auch nicht einfach beiseite zu wischen. Das alles hat zur Folge, dass der Gesetzgeber zumindest auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht einmal davon ausgehen kann, dass seine erhofften Auswirkungen auch tatsächlich eintreten. Der Mindestlohn ist ein waghalsiges Experiment, dessen Erfolg wissenschaftlich nicht annähernd gestützt ist und im Zweifel sogar zu Lasten der Arbeitnehmer und auch der Arbeitslosen gehen kann, denen der Zugang zum Arbeitsmarkt dadurch deutlich erschwert wird.

Zum Vergleichen: Mindestlöhne im Rest von Europa


Vor allem die Unternehmer fürchten, dass der Arbeitsmarkt unter einem Mindestlohn leiden würde. Doch die deutsche Wirtschaft boomt, die Aktienkurse spiegeln die Wirtschaftskraft wieder. Können oder wollen es sich die Unternehmer nicht leisten, ihre Arbeitnehmer an dieser Entwicklung teilhaben zu lassen?


Bauer: Zunächst muss man sich klarmachen, worüber wir bei der "deutschen Wirtschaft" und "den Unternehmern" überhaupt reden. Häufig kommt an dieser Stelle der Vorwurf, die Gegner eines Mindestlohns seien wirtschafts- und konzernfreundlich, während die Unternehmen sich eine goldene Nase verdienen und die Arbeitnehmer leer ausgehen würden. Dabei haben 91% der deutschen Unternehmen nur zwischen null und neun sozialversicherungspflichtig beschäftigte Mitarbeiter. 


Somit sprechen wir bei der Mindestlohndebatte nicht über die ungefähr 14600 Großunternehmen wie Siemens, Volkswagen oder die Telekom, sondern über die 2 Millionen kleinen und mittleren Unternehmen, die im Jahre 2010 insgesamt 99,3% der deutschen Unternehmenslandschaft ausmachten. Wir sprechen über den Supermarkt an der Ecke, einen Imbiss, über kleine Handwerksbetriebe, Maler, Lackierer, kleine Friseurbetriebe. Dort sind die finanziellen Spielräume und die Ausweichmöglichkeiten üblicherweise ganz andere als in großen Konzernen und gerade bei diesen kleinen Unternehmen kann ein Mindestlohn sogar die Aufgabe der Geschäftstätigkeit nach sich ziehen, wenn die finanzielle Situation die höheren Löhne nicht hergibt. Hierbei sei nur der Post-Mindestlohn genannt, nach dessen Einführung 180 Briefzustellunternehmen mit insgesamt 15000 Arbeitsplätzen ihre Briefkästen für immer schlossen. 

Besonders die Friseur-Branche ist für Bauer interessant: Erst kürzlich einigte man sich auf einen Mindestlohn. Wenn nun der Staat eingreift, könnte alles teurer werden.
Besonders die Friseur-Branche ist für Bauer interessant: Erst kürzlich einigte man sich auf einen Mindestlohn. Wenn nun der Staat eingreift, könnte alles teurer werden.

Gleich doppelt interessant ist in diesem Zusammenhang die Friseurbranche: Nachdem der Ruf der Branche wegen der niedrigen Löhne in den letzten Jahren enorm gelitten hat, gibt es im Friseurhandwerk seit August 2013 einen Mindestlohn, der je nach Standort 6,50€ oder 7,50€ beträgt. Das Beste daran: Nicht der Staat hat diesen festgesetzt, sondern die Tarifparteien selbst haben sich darauf geeinigt, ganz ohne staatliches Diktat. Das ist nicht nur aus Sicht der Angestellten erfreulich, sondern zeigt auch, dass die Vereinbarung der Arbeitsbedingungen bei den Tarifparteien in guten Händen ist und dass auch die Gewerkschaften erfolgreich sein können, so wie ver.di es beim Friseurhandwerk vorgemacht hat.

Und dieses Beispiel deckt auch häufig Doppelmoral in der Debatte auf: Jeder ist dafür, dass Friseure, genau wie alle anderen auch, von ihrem Lohn ordentlich leben können, selbst die Gegner des Mindestlohns. Aber kaum jemand wird künftig mehr beim Friseurbesuch zahlen wollen, was momentan allerdings vor allem in Ostdeutschland passiert. Das ist ein folgerichtiger und auch überlebensnotwendiger Effekt, gerade in gewinnschwachen Branchen wie dem Friseurhandwerk. Überträgt man diesen Mechanismus jetzt noch auf weitere Branchen, dann summieren sich die Preiserhöhungen doch recht deutlich mit der Folge, dass wir für viele Produkte und Dienstleistungen künftig deutlich mehr zahlen müssen.

Was denjenigen, die von einem Mindestlohn kurzfristig profitieren, dann aber am Ende des Tages noch übrig bleibt, sei dahingestellt. Eines muss den Befürwortern eines allgemeinen Mindestlohns klar sein: Wenn man die Ökonomie und ihre Gesetzmäßigkeiten ignoriert, dann ist sie deswegen nicht weg, sondern man wird die Auswirkungen trotzdem spüren. Und das ist auch gut so.


Titelbild: C-PROMO.de (photocase.com) 

Bilder im Text: SGB / USS (CC BY-NC-SA 2.0) | onkel_wart (CC BY-NC-SA 2.0) | János Balázs (CC BY-SA 2.0) | Eva Freude (CC BY-NC-SA 2.0)

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