Sie befinden sich im Archiv von ZU|Daily.

ZU|Daily wurde in die Hauptseite in den Newsroom unter https://www.zu.de/newsroom/daily/ integriert. Die neuesten Artikel seit August 2024 werden dort veröffentlicht. Hier finden Sie das vollständige Archiv aller älteren Artikel.

Es braucht mehr als Umverteilung
NAVIGATION

Armutsbericht

Es braucht mehr als Umverteilung

Interview: Johanna Weiß | Redaktion
02.10.2012
Oft ist die Zunahme von Einkommensungleichgewichten ein Indikator für darauf folgende große globale Krisen. Warum wirkt man nicht schnell entgegen, wenn man solche Entwicklungen beobachtet?

Prof. Dr. Marcel Tyrell
 
  •  
    Zur Person
    Prof. Dr. Marcel Tyrell

    Seit 2009 leitet Prof. Dr. Marcel Tyrell das Buchanan Institut für Unternehmer- und Finanzwissenschaften der Zeppelin Universität. Vorher lehrte er unter anderem an der Universität Frankfurt, der University of Pennsylvania und der European Business School. Schwerpunktmäßig forscht er an Veränderungen von Finanzsystemstrukturen, mikro – und makroökonomischen Auswirkungen von Finanzkrisen und der Verschuldungsdynamik von Volkswirtschaften.

  •  
    Factbox
    Vierter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

    Der Entwurf des vierten Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung „Lebenslagen in Deutschland" vom 17. September 2012 hat rege Debatten losgetreten. Das Nettovermögen hat sich laut Bericht in den letzten zwanzig Jahren verdoppelt, doch Reiche sind dabei reicher und Arme ärmer geworden. Auch bei den Einkommen ging die Schere weiter auseinander: Die Gehälter der gut Verdiener sind gestiegen, die der unteren 40 Prozent auf der Einkommensskala sind gesunken. Der Bericht befindet sich momentan in der Ressortabstimmung und soll voraussichtlich im November 2012 vom Kabinett beschlossen werden. 

    Zum Weiterlesen über Verteilungsgerechtigkeit

    New Deal für Deutschland
    Der Volkswirt Giacomo Corneo stellt dar, warum die deutsche Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte die Reichen reicher und die Armen ärmer gemacht und gleichzeitig nicht zu mehr Wachtum geführt hat. Außerdem liefert er Vorschläge für eine neue und gerechtere Wirtschaftspolitik.


    Top Incomes: A Global Perspective
    Die Ökonomen Antony Atkinson und Thomas Piketty analysieren in ihrer Studie die internationale Einkommensentwicklung verschiedener Staaten anhand von Datenmaterial, das bis in das 19. Jahrhundert reicht. Jüngste wirtschaftlichte Entwicklungen verschiedener Staaten werden so in einen historischen und internationalen Kontext gesetzt. Der Einfluss der Weltkriege wird dabei genauso beleuchtet wie der einer progessiven Einkommensbesteuerung.


    The Price of Inequality
    Der Nobelpreisträger Josef Stiglitz bringt hier Argumente gegen  den Teufelskreis der wachsenden Ungleichheit in den USA, wo die reichsten 1% der Bevölkerung 40% des Wohlstandes kontrollieren. Er stellt dar, wie die USA zu der ungerechtesten Industrienation wurden, in der das Wirtschaftswachstum strauchelt, Gesetze mißachtet und demokratische Grundsätze unterhöhlt werden. Er schließt mit seinem Programm für eine gerechtetere und erfolgreichere Wirtschaftsordnung.

  •  
    Dossier
    OECD Bildungsstudie 2012
    Laut dem aktuellen OECD Bildungsbericht schneidet Deutschland in Sachen Aufstiegschancen schlechter ab als andere Industriestaaten. Nur ein Fünftel der jungen Menschen schaffen einen höheren Bildungsabschluss als ihre Eltern. Der OECD Durchschnitt liegt bei 37 Prozent.
  •  
    Mehr ZU|Daily
    Wenn die Heimat zu teuer wird
    Mit Gentrifizierung sind Verdrängungsprozesse gemeint, die oft einen negativen Beigeschmack haben. Aber inwieweit trägt die Gentrifizierung auch zu einem positiven Imagewandel bei? Ein ForschungsCluster der Zeppelin Universität analysiert die Prozesse.
  •  
     
    Hä...?
    Haben Sie Fragen zum Beitrag? Haben Sie Anregungen, die Berücksichtigung finden sollten?
    Hier haben Sie die Möglichkeit, sich an die Redaktion und die Forschenden im Beitrag zu wenden.
  •  
    Teilen

Im Zuge der aktuellen Gerechtigkeitsdebatte fordern manche eine stärkere Besteuerung von Reichen. Nähme in diesem Fall mit der Ungleichheit auch die Ungerechtigkeit ab?

Professor Dr. Marcel Tyrell: So leicht ist es leider nicht. Zunächst nehmen die Ungleichgewichte sowohl bei der Entwicklung von Einkommen – hohe Einkommen steigen, niedrige fallen – als auch bei der Verteilung von Vermögen – Reiche werden reicher und Arme ärmer – zu. Diese Unterscheidung ist wichtig, denn hier spielen unterschiedliche Ursachen eine Rolle, die wiederum unterschiedliche Maßnahmen fordern. Mit einer bloßen Besteuerung würden die Probleme nicht an der Wurzel gepackt und eventuell sogar noch verschlimmert.

Was könnte man beispielsweise gegen die ungleiche Vermögensverteilung tun?

Tyrell: Wenn man nicht enteignet, und das will ja nun wirklich keiner, könnte man bei der Erbschaftssteuer ansetzen. Das gilt dann auch für die Erben von Unternehmen. Man weiß aber gleichzeitig, dass das gerade kleine und mittelständische Unternehmen in große finanzielle Schwierigkeiten bringen kann, was wiederum negative Auswirkungen auf Wachstum und Beschäftigung hat.

Vierter Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung


Die ersten, die darunter leiden würden, wären Geringverdiener. Womit wir wieder beim Thema Einkommensverteilung wären. Also doch die Einkommenssteuer erhöhen?

Tyrell: Nun, das kann man machen. Zunächst sollte man sich aber mit den Ursachen und Auswirkungen einer ungleichen Einkommensverteilung auseinandersetzen. Etwas, das ich sowohl als Grund, als auch als Folge sehe, sind die gesellschaftlichen Fliehkräfte. In den USA zeichnet sich das schon viel deutlicher ab. Die Fliehkräfte werden stärker, das bedeutet, dass sich die Angehörigen verschiedener Einkommensschichten immer weiter voneinander entfernen, sodass sie irgendwann in völlig unterschiedlichen sozialen Milieus leben und keinerlei Berührungspunkte mehr haben. Auch in Deutschland haben Kinder aus ärmeren Gesellschaftsschichten kaum mehr Kontakt mit Kindern, die in reichen Strukturen aufwachsen. Theoretisch haben zwar alle die Möglichkeit, sehr gute Bildung zu erhalten. Faktisch sieht man aber, dass es nicht passiert. Die Durchlässigkeit zwischen den Schichten ist nicht so groß, wie sie sein müsste.

Das Einfamilienhaus mit Garten und Garage ist in Deutschland nicht die Regel.
Das Einfamilienhaus mit Garten und Garage ist in Deutschland nicht die Regel.

Das heißt, man müsste an einem ganz anderen Punkt ansetzen. Haben Sie Vorschläge für konkrete Maßnahmen?


Tyrell: Ich frage mich, ob unser dreigliedriges Schulsystem funktionsgerecht ist. Dass sich in Hauptschulen zunehmend Jugendliche aus schwierigen sozialen Hintergründen bewegen, ist bekannt. Dass liegt offensichtlich nicht an ihren Fähigkeiten, sondern an ihrem Elternhaus. In diesen Schulen treffen die Schwächsten der Gesellschaft aufeinander und ziehen sich gegenseitig herunter. Das dreigliedrige Schulsystem halte ich für Ressourcenverschwendung und es treibt das Auseinanderdriften der Gesellschaftsschichten nur weiter voran.

OECD Bildungsstudie 2012


Welche Lektionen über Verteilungspolitik können wir sonst aus internationalen Vergleichen ziehen?

Tyrell: Aus der Forschung gerade in Entwicklungs- und Transformationsländern wissen wir, dass Länder mit gut funktionierenden sozialen Sicherungssystemen höhere Wachstumsraten verzeichnen als Länder, die den Marktkräften ohne soziale Absicherung vertrauen. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Ressourcen werden in solchen Ländern besser genutzt.


Und wie sieht die generelle Tendenz in Industrienationen aus?


Tyrell: Natürlich sind wachsende Ungleichgewichte eine Entwicklung, der sich kaum eine Industrienation verwehren kann. Wir befinden uns seit ungefähr 20 Jahren in einem Zeitalter, das von einigen Ökonomen als „dritte industrielle Revolution“ bezeichnet wird. Heutzutage ist es möglich, gerade auch die Herstellung von komplexen Produkten in äußerst dezentralisierte Fertigungsprozesse zu zerlegen und diese dann so über die Welt zu verteilen, dass die komparativen Kostenvorteile der jeweiligen Länder genutzt werden. Damit gelangen in den Industrieländern natürlich gering qualifizierte Arbeitskräfte ins Hintertreffen, denn ihre Tätigkeiten werden zunehmend ausgelagert. Aber sehr oft bedingen eben Faktoren wie ungleiche Bildung ein ungleiches Ausgesetztsein gegenüber bestimmten Globalisierungstendenzen.

Zum Weiterlesen über Verteilungsgerechtigkeit


In Ihrer Forschung wollen Sie künftig einen Schwerpunkt auf Ungleichheitsphänomene legen…

Tyrell: Genau, denn wir glauben, dass es sich lohnt, die verschiedenen Dimensionen der Problematik herauszuarbeiten. Mich interessiert ein internationaler Vergleich, um mehr darüber herauszufinden, wie es zu ungleicher Verteilung von Einkommen und Vermögen kommt. Ist es stärker auf Ausbildung oder Globalisierungstendenzen zurück zu führen? Welche Rolle spielt politische Einflussnahme? Dazu möchte ich verschiedene Daten erheben und Analysen durchführen, mit ökonometrischen und theoretischen Ansätzen.

Was, glauben Sie, könnten Sie dann zu Debatten wie der jetzigen beitragen?

Tyrell: Möglicherweise neue Erkenntnisse darüber, wie ein gerechtes Steuersystem aussehen kann. Eines, dass die Leistungsfähigkeit der Menschen unterstützt – auch Umverteilung erlaubt, wenn gesellschaftlicher Konsens darüber existiert, aber zum Dritten diese Umverteilungsmechanismen so gestaltet, dass die Wachstumskräfte der Wirtschaft gefördert werden.
Auch einen längerfristigen Blick. An Daten, die innerhalb der letzten hundert Jahre angesammelt wurden, erkennt man, dass Einkommensungleichgewichte kein neues Phänomen sind. Vor den großen Wirtschaftskrisen 1929 und 1933 haben sie zum Beispiel extrem zugenommen. Man sieht auch, dass diese Ungleichgewichte nach dem zweiten Weltkrieg zunächst abgenommen haben. Oft ist die Zunahme von Einkommensungleichgewichten ein Indikator für darauf folgende große globale Krisen. Und das ist natürlich eine sehr spannende Sache. Warum ist das so? Warum wirkt man nicht schnell entgegen, wenn man solche Entwicklungen beobachtet?

Haben Sie dazu schon Hypothesen?

Tyrell: Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass wir immer wieder Vergangenheitserfahrungen vergessen, wenn über längere Zeiten kaum oder wenig globale Krisen aufgetaucht sind. Wir glauben dann, dass wir Entwicklungen der näheren Vergangenheit unbeschränkt auf die Zukunft fortschreiben können. Das führt dazu, dass man in den Momenten auch weniger vorsichtig wird und bestimmte Annahmen rationalisiert werden, hinter denen letztlich Ideologien stecken.


Was konkret planen Sie?


Tyrell: Um uns dieser Gesamtfragestellung hier an der ZU noch intensiver widmen zu können, werden Professor Dr. Nico Stehr und ich nächstes Semester ein Doktorandenseminar zu Ursachen und Folgen der Ungleichheit veranstalten. Dies soll auf den interdisziplinären Zugang zu diesem Phänomen fokussiert sein und Forschungsfragen und Hypothesen generieren, die dann in Zusammenarbeit mit Doktoranden und interessierenden Studenten angegangen werden können.


Bild: suze / photocase.com

nach oben
Zeit, um zu entscheiden

Diese Webseite verwendet externe Medien, wie z.B. Videos und externe Analysewerkzeuge, welche alle dazu genutzt werden können, Daten über Ihr Verhalten zu sammeln. Dabei werden auch Cookies gesetzt. Die Einwilligung zur Nutzung der Cookies & Erweiterungen können Sie jederzeit anpassen bzw. widerrufen.

Eine Erklärung zur Funktionsweise unserer Datenschutzeinstellungen und eine Übersicht zu den verwendeten Analyse-/Marketingwerkzeugen und externen Medien finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.