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Catharina Ziebritzki ist seit 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht. Sie arbeitet an einem Dissertationsprojekt zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystem an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am Exzellenzcluster für Normative Ordnungen. Zudem ist sie Teil der Wissenschaftsinitiative Migration der Max-Planck-Gesellschaft. Im Jahr 2015 legte sie zuvor die erste juristische Prüfung mit dem Schwerpunkt Europarecht ab, nachdem sie von 2009 bis 2014 in Heidelberg und Istanbul Rechtswissenschaften studierte.
Seit 2015 kritisieren Hilfsorganisationen und NGOs die schlechte humanitäre Lage an den europäischen Außengrenzen. Die Belegung der griechischen Flüchtlingslager, die ursprünglich für etwa 7.000 Menschen ausgelegt waren, erreichte Anfang des Jahres mit etwa 40.000 Bewohnern ihren Höhepunkt. Mit katastrophalen Folgen für die hygienischen Bedingungen, insbesondere im Kontext der Corona-Pandemie. Andernorts wird an der spanisch-marokkanischen Grenze die Praxis der sofortigen Rückführung praktiziert, berichtet Ziebritzki. Geflüchtete werden ohne Überprüfung ihrer Identität oder der Anhörung ihrer Asylgründe direkt an der Grenze aufgegriffen und ins Transitland zurückgebracht. Nur einige Beispiele für fragliche Staatenpraxis in einer europäischen Gemeinschaft, die sich der Förderung und dem Schutz von Menschenrechten verschreibt.
Die Asylpolitik der Europäischen Union wird von der EU-Kommission und deren Policy-Dokumente geprägt. Wesentlich war hierfür vor allem die europäische Migrationsagenda von 2015 mit den Reformen von Frontex und der verstärkten Externalisierung des Grenzschutzes durch Abkommen mit Ländern wie Libyen, Niger und der Türkei. Auch einigte man sich auf die Durchführung von Asylverfahren an den EU-Außengrenzen in sogenannten Hotspots. In der Theorie bedeutet das, Menschen mit abgelehnten Asylanträgen direkt in Drittstaaten abzuschieben. Die absolute Überbelegung der Lager ist Zeugnis eines Scheiterns. Versagt haben die europäischen Mitgliedsstaaten auch in der Umsetzung der Dublin-III-Verordnung. Diese sah eine Verteilung von Geflüchteten auf die Mitgliedsstaaten vor, um Länder wie Griechenland und Italien zu entlasten.
Ein Versuch, die unübersichtliche Asylpolitik in den nächsten Jahren zu regeln, kommt nun von der EU-Kommission: der neue europäische Migrationspakt. Im Wesentlichen beinhaltet er effizientere und beschleunigte Verfahren an den Grenzen, ein neues Verteilungssystem und einen verstärkten Fokus darauf, Menschen ohne Bleibeperspektive schneller abzuschieben. Neu ist auch die Verpflichtung der Solidarität für alle Mitgliedsstaaten. Dies bedeutet aber nicht zwangsläufig, Menschen im eigenen Land aufzunehmen. Länder wie Ungarn und Polen können sich insofern beteiligen, dass sie Abschiebungen organisieren oder Grenzstaaten finanziell unterstützen.
Zwar wird die Linie in der Migrations- und Asylpolitik wesentlich von der Kommission vorgegeben, sie befindet sich jedoch nicht im rechtsfreien Raum. Die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) stellen grundlegende Regelwerke der EU dar. Hinzu kommt das Asylrecht der EU sowie die Rechtsschicht der Mitgliedsstaaten in Form des nationalen Verfassungs- und Asylrechts. Eingeklagt können die Rechte auf europäischer Ebene vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sowie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH). Wie die Gerichte zur Asylpolitik der EU stehen, erklärt Ziebritzki anhand zweier Beispiele.
Im Hinblick auf völkerrechtswidrige Rückschiebungen („Pushbacks“) entschied der EGMR Anfang des Jahres über den Fall der Betroffenen N.D. und N.T. gegen Spanien. Bedeutsam ist die Entscheidung deswegen, da sie sich mit grundlegenden Fragen der Regulierung von Migration auseinandersetzt, etwa mit dem Recht souveräner Staaten, ihre Grenze zu schützen entgegen den Menschenrechten der Asylsuchenden. Den Kontext des Falls bildet die spanische Exklave Melilla. Sie ist umgeben von marokkanischem Territorium und ebenso von einem dreifachen Grenzzaun. Immer wieder versuchen Gruppen, diesen zu überqueren, sitzen stundenlang verletzt und dehydriert auf dem letzten Zaun, bevor sie von der spanischen Guardia Civil teilweise gewaltsam abgeschoben werden. Sie werden, ohne Identitätsprüfung und ohne die Möglichkeit Asyl zu beantragen, direkt an die marokkanischen Behörden übergeben. Die Rechtmäßigkeit dieser Praktik wurde erst im Februar dieses Jahres verhandelt. Der Grund: Vor dem EGMR ist lediglich eine Individualbeschwerde zulässig. Eine solche wurde erst durch die Anfertigung von Videomaterial durch Journalisten möglich, auf der zwei Personen (N.D. und N.T) eindeutig identifiziert werden konnten. Sie klagten auf ihr Recht auf wirksame Beschwerde, den Schutz vor Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung (Refoulement-Verbot) und das Verbot von Kollektivausweisungen ausländischer Personen.
Im Ergebnis darf Spanien die Praxis mit der Begründung fortführen, es hätte an einem „border crossing point“ eine legale Möglichkeit gegeben, einen Asylantrag zu stellen. Laut Ziebritzki ist dieser jedoch quasi ausschließlich Menschen arabischer Herkunft vorbehalten, es handle sich um einen Fall rassistischer Diskriminierung. „Unter den Stichworten Externalisierung und Extraterritorialisierung entzieht sich die EU der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Zuständigkeit wird vielmehr an Drittstaaten wie Marokko abgegeben“, so Ziebritzki.
So wie in Melilla sehen die europäischen Gerichte die EU teilweise auch auf den griechischen Inseln nicht in der Verantwortung. So sei die auf dem EU-Türkei-Deal basierende Abschiebepraxis keine Handlung der EU, so der EuGH. Das heißt: An der Erklärung sei der Staatenverbund überhaupt nicht beteiligt gewesen. Argumentiert wird, dass das Abkommen Resultat eines internationalen Gipfeltreffens sei. Im Ergebnis seien die einzelnen Mitgliedsstaaten verantwortlich.
Aufgrund der katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern wird auch immer wieder vor dem EGMR geklagt. Teilweise sogar erfolgreich. Da jedoch lediglich Individualbeschwerden zulässig sind, ändert sich nichts an den allgemeinen Zuständen. In diesem Kontext stellt sich auch die Frage, ob die Türkei überhaupt ein sicherer Drittstaat ist. Das höchste griechische Verwaltungsgericht hätte diese Frage dem EuGH vorlegen können, hat dies aber nicht getan. Auch wurde kein Vertragsverletzungsverfahren von der Kommission eingeleitet, obwohl diese unter ähnlichen Umständen gegen Ungarn vorgeht. Die Option einer Unionshaftungsklage wurde bisher nicht genutzt. Den Grund sieht Ziebritzki darin, dass die EU operativ am Grenzschutz in der Ägäis beteiligt ist: „Solange die Praktiken an der Grenze im Interesse der Europäischen Union sind, wird sie kein Verfahren einleiten.“
Zusammenfassend sieht Ziebritzki vier besonders schwerwiegende Probleme: Wie in Melilla wird Asylsuchenden häufig das Recht auf legale Einreise verweigert. Menschenrechtliche Garantien werden durch Externalisierung und Extraterritorialisierung umgangen und es besteht kein oder nur lückenhafter Zugang zum Rechtsschutz. Letztlich besteht aus institutioneller Sicht aber auch die Notwendigkeit, zwischen der Akzeptanz der Urteile und der Konfrontation mit der Staatenpraxis abzuwägen. „Wenn der EGMR so entscheidet, dass es einzelne Mitgliedsstaaten nicht akzeptieren, schwächt das den Menschenrechtsschutz insgesamt. Trotzdem kann man sich die Frage stellen, ob auch der politische Druck der Staaten dazu führt, dass die Gerichte am Ende anders entscheiden“, bemerkt Ziebritzki. Hinzu kommt ein mögliches Demokratieproblem. Sollten Gerichte über die Praktiken von Staaten an den Außengrenzen entscheiden, anstatt dies den Parlamenten und dem Gesetzgeber auf europäischer Ebene zu überlassen? Dem übergeordnet stellt sich jedoch auch die Frage, was Wertegemeinschaft und die Unantastbarkeit der Menschenwürde noch zu bedeuten haben, wenn an der europäischen Außengrenze selektiert wird, wer dessen würdig ist.
Titelbild:
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Bilder im Text:
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Redaktionelle Umsetzung: Florian Gehm