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Totgesagte leben länger
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Piratenpartei

Totgesagte leben länger

Interview: Anna Staab | Redaktion
29.05.2013
Von der Breite der Wählerschaft, die ihre inhaltlichen Themen betreffen, könnten die Piraten sicher mindestens auf vier bis fünf Prozent hoffen.

Professor Dr. Joachim Behnke
Lehrstuhl für Politikwissenschaft
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Joachim Behnke

    Joachim Behnke ist Inhaber des ZU-Lehrstuhls für Politikwissenschaften. Er hat Theaterwissenschaft, Philosophie, Kommunikationswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Politikwissenschaft studiert. Sein Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem bei Wahlsystem und Wählerverhalten. Außerhalb der Universität engagiert sich Behnke als Sprecher verschiedener Arbeitskreise in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft und ist als Stiftungsberater tätig.

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    Factbox
    Liquid Democracy und das imperative Mandat

     Unter "Liquid Democracy" versteht man eine Mischform zwischen indirekter und direkter Demokratie. Während bei indirekter Demokratie ein Delegierter zur Vertretung der eigenen Interessen bestimmt wird und bei direkter Demokratie alle Interessen selbst wahrgenommen werden müssen, ergibt sich bei Liquid Democracy ein fließender Übergang zwischen direkter und indirekter Demokratie. Jeder Teilnehmer kann selbst entscheiden, wie weit er seine eigenen Interessen wahrnehmen will, oder wie weit er von Anderen vertreten werden möchte. Insbesondere kann der Delegat jederzeit sein dem Delegierten übertragenes Stimmrecht zurückfordern, und muss hierzu nicht bis zu einer neuen Wahlperiode warten. Es ergibt sich somit ein ständig im Fluss befindliches Netzwerk von Delegationen. (Quelle: Piratenwiki)

    Beim "imperativen Mandat", ist der Mandatsträger verpflichtet, in allen Entscheidungen den Willen seiner Wähler zu vertreten. Vor allem durch das Internet ist es technisch inzwischen theoretisch möglich geworden, dieses Vorgehen auch für große Gruppen anzuwenden. Praktisch ist diese Form der Entscheidungsfindung durch das freie Abgeordnetenmandat in Deutschland jedoch verboten.

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Sie haben in Ihrer Studie unter anderem analysiert, von welchen Parteien die Piraten ihre Wähler rekrutieren und gleichzeitig die Positionen der Piratenwähler untersucht. Gab es Auffälligkeiten?

Professor Dr. Joachim Behnke: Obwohl die Piraten ihre Wähler weitgehend bei den Parteien abholen, die eher dem linken Spektrum zuzuordnen sind, sind die Wähler in ihren Ansichten nicht generell links; das zeigt die Umfrage deutlich. Teilweise haben sie sogar sehr liberale Ansichten, gerade beim Schutz der Privatsphäre und in Bezug auf Internetpolitik. Die Piratenwähler haben grundsätzlich ein sehr geringes Vertrauen in politische und staatliche Institutionen, im Vergleich hierzu aber ein relativ großes Vertrauen in das Wirtschaftssystem und halten Steuerflucht für weniger moralisch verwerflich als die Wähler der etablierten Parteien. In diesen Bereichen muten die Piraten eher wirtschaftsliberal an. Und auch das bedingungslose Grundeinkommen ist weniger als soziales Sicherungssystem im Sinne eines starken Sozialstaats zu verstehen, sondern eher als etwas, das Freiheit und Autonomie ermöglichen soll. Anders als Hartz IV würde diese Forderung die Empfänger dieser Leistungen ja eher unabhängiger vom Staat machen, weil es beim bedingungslosen Grundeinkommen keine Kontrollsysteme gibt, mit denen man die Bedürftigkeit nachweisen muss.

Inwiefern besetzen denn die Piraten ein Thema, das bei anderen Parteien noch gar nicht vertreten ist?


Behnke: So ein richtiges Nischenthema, das zeigt die Studie, haben sie eigentlich gerade nicht. Wirtschaftspolitisch sind sie bis aufs Grundeinkommen wie gesagt nah an der FDP; was Transparenz angeht, bewegen sie sich nah bei den Grünen und Linken. Die Studie zeigt sogar, dass die Haltung der Linken zu dem Thema noch ausgeprägter ist als die der Piraten. Und beim Thema Frauenpolitik haben die Piraten sogar eher ein Problem. Die ablehnende Haltung gegenüber der Auseinandersetzung mit dem Thema, die auch in der Öffentlichkeit schon bemerkt wurde, wird auch in der Umfrage wieder deutlich. Beim Thema Frauenquoten liegen hier die Anhänger der Piraten ungefähr wieder gleichauf mit denen der FDP. Das mag teilweise auch unterschwellig auf Vorurteilen beruhen, aber eigentlich ist dieses Ablehnen staatlicher Strukturierungen ja wieder tatsächlich einem bestimmten Verständnis von Liberalismus geschuldet. Gleichzeitig ist es natürlich schwierig und eigentlich peinlich, wenn eine Partei, die sich vorwiegend aus Männern zusammensetzt, sagt: wir brauchen keine Frauenquote.


Lediglich beim Thema Internet wird ihnen zugestanden, die Partei mit der größten Kompetenz zu sein. Doch selbst hier muss man unterscheiden: Die etablierten Parteien haben sehr wohl kompetente Netzpolitiker. Bei den Piraten aber geht es beim Internet nicht nur um rechtliche Aspekte, sondern mehr um den Ausdruck eines Lebensgefühls.

Könnten sich die Piraten dann nicht durch das Urheberrecht positionieren?

Behnke: In Bezug auf das Urheberrecht bedient die Partei tatsächlich etwas Neues. Gleichzeitig streben die Meinungen da stark auseinander, und die Debatte wird zusätzlich befeuert durch Parteimitglieder, die ihre Publikationen dann eben auch nicht frei zugänglich machen, wie Marina Weisband oder Julia Schramm, was ja der Grundideologie in gewisser Weise widerspricht. Es gibt bei dem Thema in den Reihen der Piraten viele Radikalpositionen, die schlicht unhaltbar sind. Um diese Problematiken weiß die Partei auch, deshalb fällt es ihr hier entsprechend schwer, sich eindeutig zu positionieren.

Also haben sie eigentlich kein klares Alleinstellungsmerkmal?

Behnke: Im Prinzip wäre die Sache mit dem Grundeinkommen ein starkes Thema um sich zu positionieren, bisher haben die Piraten daraus aber wenig gemacht. Entscheidend wäre, dass sie so wahrgenommen werden, dass sie die einzige Partei sind, die das Thema tatsächlich so ernst nimmt, dass sie dafür kämpft und es auch umsetzen würde. Bisher gelingt ihnen das nicht, Potential hätte die Thematik aber auf jeden Fall.

Trotz Repräsentantenskepsis: Beim Bundesparteitag der Piraten im Mai 2013 wurde Katharina Nocun mit 82% zur politischen Geschäftsführerin gewählt.
Trotz Repräsentantenskepsis: Beim Bundesparteitag der Piraten im Mai 2013 wurde Katharina Nocun mit 82% zur politischen Geschäftsführerin gewählt.

Auch wenn die klare Nische bisher fehlt, klingt das nach starken inhaltlichen Punkten – dabei wurde den Piraten ja lange nachgesagt, eine Protestbewegung und eine Partei der eigentlich Unpolitischen zu sein…

Behnke: Das Interessante ist: Die Studie zeigt einerseits, dass die Piratenwähler Einstellungen vertreten, die typisch für Wähler von Protestparteien sind, auch der Anteil der früheren Nicht-Wähler ist bei ihnen sehr hoch. Man könnte vermuten, dass die Piraten die Nicht-Wähler mobilisiert haben, die nicht unpolitisch sind, sondern nur frustriert von den bisherigen Parteien sind. Andererseits wird deutlich, dass die Piraten eben auch inhaltliche Punkte haben, für die sie sehr stark stehen. Damit heben sie sich eben von anderen Protestparteien, die nur Protest sind, ohne Alternativen zu bieten, ab.

Einerseits sehr sprunghafte Protestwähler, andererseits aber auch konkret inhaltliche Unterstützer – wo sehen Sie die Piraten denn bei der Bundestagswahl?

Behnke: Von der Breite der Wählerschaft, die ihre inhaltlichen Themen betreffen, könnten die Piraten sicher mindestens auf vier bis fünf Prozent hoffen. Gleichzeitig ist klar, dass die 14 Prozent, die ihnen stellenweise prophezeit wurden, zu großen Teilen auf Protestwählern beruhten.
Aber bei den sogenannten Protestwählern muss man eben unterscheiden: Es gibt einerseits die, die den anderen Parteien nur eins auswischen wollen, die also nur Ausdruck von Wut, Unbehagen und Ärger sind. Andererseits gibt es – das belegt die Studie – aber auch viele, die inhaltlich etwas gegen die etablierten Parteien und das etablierte System haben. Das sind eigentlich keine Protestwähler im engeren Sinn. Die wollen, dass Politik auf eine andere Art und Weise gemacht wird. Wir sind momentan noch dabei, die Studie darauf auszuwerten, wie groß diese einzelnen Lager sind.

Woran machen Sie diese Ablehnung des etablierten Systems denn fest?

Behnke: Die Piratenwähler gaben in der Umfrage ein großes Misstrauen gegenüber politischen Parteien und Institutionen wie dem Bundestag an. Direktdemokratische Elemente spielen eine sehr große Rolle - stärker noch als bei den Grünen, die das in ihren Anfängen ja auch thematisiert haben.

Auch verfolgen die Piraten die Idee des imperativen Mandats, wobei man hierzu sagen muss, dass das imperative Mandat streng genommen verfassungsrechtlich gar nicht zulässig ist, weil der Abgeordnete laut Grundgesetz frei und nur seinem Gewissen gegenüber verpflichtet ist.

Liquid Democracy und das imperative Mandat


Also lehnen die Piraten das bestehende System nicht nur ab – sie würden in ihm auch überhaupt nicht funktionieren?

Behnke: Was das imperative Mandat und auch was Liquid Democracy angeht, sind die Piraten noch nicht bei einer einheitlichen Haltung angekommen und haben die Probleme natürlich wahrgenommen. Aber sie sind gegenwärtig zumindest strukturell regierungsunfähig und als Koalitionspartner überhaupt nicht denkbar. Politik heißt, dass Deals ausgehandelt werden. Wenn aber jede Frage einzeln und mit Rückbindung an die Mitglieder der Partei entschieden werden soll, kann eine Partei keine Deals mehr aushandeln. In den Parlamenten könnten die Piraten im Moment nur als Oppositionspartei funktionieren. Und das würde es natürlich schwierig machen, den Output der Politik wirklich stark zu beeinflussen.

Die Parteienlandschaft haben sie bisher aber ja auch ohne Regierungsbeteiligung ganz schön aufgewirbelt…


Behnke: Auch wenn der Einzug in den Bundestag nicht klappt, hat die Partei natürlich auf Themen aufmerksam gemacht, die von den anderen Parteien eher stiefmütterlich behandelt worden sind. Auch die Grünen, mit denen man die Piraten ja gerne vergleicht, haben die Politik ja viel mehr einfach dadurch verändert, dass sie da waren, als durch das, was sie dann tatsächlich in den Regierungen, an denen sie beteiligt waren, umgesetzt haben.


Die Themen der Grünen, das muss man aber auch sagen, hatten allerdings eine andere gesellschaftliche Relevanz: Beim Thema Atomkraft und auch, was die klare pazifistische Haltung betrifft, ging es um Fragen, die die Existenz der Menschheit betrafen, zumindest wurde das damals in den 80ern so empfunden. Das ist bei den Piraten nicht im gleichen Umfang so. Und trotzdem sind die Themen stark und sprechen viele Menschen an: Das Potential der Partei ist also entgegen der öffentlichen Prognosen zurzeit noch lange nicht ausgeschöpft. Selbst, wenn sie nicht in den Bundestag einziehen, würde ich sie mittelfristig noch nicht abschreiben.



Grafik: Anna Staab; Bild: flickr.com/Piratenpartei Deutschland

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