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Schrumpfen, um zu überleben
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Wirtschaftswachstum

Schrumpfen, um zu überleben

von Simon Hurtz | Redaktion
05.08.2013
Wer sich jetzt noch an die Wachstumslogik klammert, riskiert weiter steigende Verschuldung und eine dramatische Verschlechterung der Umweltqualität.

Dr. André Reichel
 
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    Zur Person
    Professor Dr. Peer Ederer und Dr. André Reichel

    Professor Dr. Peer Ederer studierte in Tokio und Havard, forschte und arbeitete unter anderem bei der Deutschen Bank und der Unternehmensberatung McKinsey. Als Wissenschaftler beschäftigt er sich mit den Zusammenhängen zwischen Humankapital, Wachstum und Innovation. Peer Ederer leitet an der Zeppelin Universität das HUGIN Center for Human Capital, Growth and Innovation.


    Dr. André Reichel ist studierter Betriebswirt und hat sich in seiner Doktorarbeit unter anderem mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt. Danach arbeitete er an der Universität Stuttgart, anfangs am Lehrstuhl von Erich Zahn, einem der Mitautoren von "Die Grenzen des Wachstums", der berühmten Publikation des Club of Rome. Seit 2011 ist Reichel Mitglied des European Center for Sustainability Research (ECS) an der Zeppelin Universität. Dort forscht er über die Postwachstumsökonomie und nachhaltige Wirtschaftsmodelle, außerdem interessiert er sich für Systemtheorie und Open Innovation.

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    Factbox
    Décroissance: Was heißt das und was soll das?

    Décroissance, zusammengesetzt aus dem französischen croissance (Wachstum) und der Vorsilbe dé-, bedeutet Abnehmen oder Abnahme. In der aktuellen kapitalismuskritischen Diskussion lässt es sich mit Zurücknahme von Wachstum übersetzen. Die Anhänger dieses Konzepts halten exponentielles Wirtschaftswachstum für schädliche in sozialer, ökologischer, ökonomischer und politischer Hinsicht. Bereits 1972 veröffentlichte der Club of Rome den Bericht "Die Grenzen des Wachstums" und prognostizierte katastrophale Folgen eines unbeschränkten Wachstums für Ökologie und Gesellschaft. Gerade in wirtschaftlichen Krisenzeiten, etwa während der Ölkrise der 70er oder seit dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise 2007 wird diskutiert, ob eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren und zugleich hohe Lebensqualität sichern kann.

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Dr. André Reichel und Honorar-Professor Dr. Peer Ederer haben Betriebswirtschaftslehre studiert und forschen an der Zeppelin Universität über Wirtschaftswachstum. Sie sind sich einig: Wir haben ein Problem! Beide glauben, dass die Weltwirtschaft auf einen Abgrund zusteuert, und halten ein „Weiter so!“ für den falschen Weg.

Immer volle Kraft voraus? Keine so gute Idee, ist dieser Karikaturist überzeugt.
Immer volle Kraft voraus? Keine so gute Idee, ist dieser Karikaturist überzeugt.

Hier hören die Gemeinsamkeiten auf. Die Ära des Wirtschaftswachstums werde aus ökonomischen und ökologischen Gründen zu Ende gehen, sagt Reichel. „Wer sich dagegen wehrt, riskiert noch weiter steigende Verschuldung und eine dramatische Verschlechterung der Umweltqualität.“ Ederer ist vom Gegenteil überzeugt. Mehr Wachstum sei der einzige Ausweg aus dem aktuellen Dilemma, denn: „Unser Lebensstil ist so krass unnachhaltig, dass nur die Flucht nach vorn eine Chance bietet, jemals wieder nachhaltig zu werden.“

Lediglich sieben Prozent des weltweiten Energiebedarfs würden derzeit durch erneuerbare Energieträger gedeckt, so Ederer. „Den Rest liefern fossile Brennstoffe. Und egal ob in 50 oder in 200 Jahren, Fakt ist: Öl, Gas und Kohle sind endlich.“ Schon jetzt werde der Abbau Jahr für Jahr aufwändiger und teurer. Das absehbare Versiegen dieser Ressourcen sei das größte Risiko für unseren Wohlstand.

Die gefräßige Wohlstandsgesellschaft lässt sich den Planeten Erde schmecken.
Die gefräßige Wohlstandsgesellschaft lässt sich den Planeten Erde schmecken.

Dieser Zustandsbeschreibung würde André Reichel gewiss nicht widersprechen. Wohl aber der Konsequenz, die Ederer daraus ableitet: „Jetzt hilft nur noch technischer Fortschritt. Dafür braucht es ökonomisches Wachstum – je mehr, desto besser.“ Nur ein steigendes Bruttoinlandsprodukt ermögliche die nötigen Investitionen in Forschung und Entwicklung, um die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu senken. Ederer sieht deshalb genau zwei Alternativen: Weiter und schneller wachsen, um Innovation möglich zu machen und so schnell wie möglich Ressourcennachhaltigkeit zu erreichen – oder aber die Zivilisation entwickle sich zurück auf das Niveau von 5000 v. Chr., als die damals rund 100 Millionen Menschen zum bis dato letzte Mal nachhaltig gelebt hätten.

Freiwilliger Verzicht kann keine Lösung sein, da ist sich Ederer sicher: „Menschen wollen immer mehr. Mehr Gesundheit, mehr Sicherheit, mehr Wohlstand.“ Auf individueller Ebene bedeute Wachstum die Verlängerung gesunden Lebens, Schrumpfung habe zwangsläufig die Einschränkung gesunder Lebensjahre zur Folge. „Gesundheit ist das höchste Gut, und es gibt nun mal keine durchsetzbare Politik oder Ethik, die Menschen freiwillig darauf verzichten lässt.“

Jeder Versuch, einem ganzen Volk etwas anderes zu verordnen, sei grandios und oft mit katastrophalen Folgen gescheitert. Und selbst wenn es gelingen sollte, die Logik des „Schneller, Höher, Weiter“ aus der westlichen Welt zu verbannen, blieben immer noch die Schwellen- und Entwicklungsländer. „Was nützt es, wenn eine Milliarde Menschen bereit sind, auf einen kleinen Teil ihres Wohlstands zu verzichten, während die Ansprüche aller anderen steigen und die Weltbevölkerung stetig zunimmt?“

Gar nichts, da ist sich Ederer mit André Reichel einig. Der allerdings hält eine Postwachstumsgesellschaft nicht nur für möglich, sondern für unausweichlich. Die Hoffnung auf technische Neuerungen, die Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln werden, sei bloßes Wunschdenken. „Décroissance ist doch längst Realität. Schon jetzt stagnieren viele Volkswirtschaften, und angesichts der enormen Verschuldungsraten und explodierender Rohstoffpreise wird das auch so bleiben.“ Diese normative Kraft des Faktischen gelte auch für die derzeitigen Konjunkturmotoren: „Wir leben nun mal alle auf demselben Planeten, und der ist gnadenlos übernutzt und kann nicht unbegrenzt ausgebeutet werden.“

Décroissance: Was heißt das und was soll das?


Außerdem sei es vermessen, das eigene Expansionsdenken einfach auf andere zu übertragen: „Nur, weil wir im Westen jahrhundertelang auf Kosten unseres Planeten gelebt haben, sollten wir nicht glauben, dass uns der Rest der Welt nacheifert.“ Etliche Schwellenländer seien binnen weniger Jahrzehnte von der Agrargesellschaft in die Postmoderne gesprungen – Europa habe dafür Jahrhunderte gebraucht. „Gesellschaftliche Prozesse laufen in diesen Ländern im Zeitraffer ab. Das gilt auch für den Wandel von sozialen und ökologischen Werten.“ André Reichel hofft, dass sich die Menschen dort weniger an westlichen Wachstumspredigern als an Mahatma Gandhi orientieren. Der bezweifelte schon vor 70 Jahren den Vorbildcharakter unseres Lebensstils: „Wenn Großbritannien die halbe Welt für seinen Wohlstand benötigt, wie viele Planeten bräuchte dann Indien?“

Sowohl Reichel als auch Ederer streben eine Nachhaltigkeitsgesellschaft an. Über den richtigen Weg sind sie uneins, doch beide schließen aus, dass die Transformation zentral gesteuert werden kann. „Systemveränderungen auf gesellschaftlicher Ebene müssen von unten ausgehen“, sagt Reichel. Die Politik kann sie höchstens begleiten oder beschleunigen, aber nicht ursächlich bewirken.“ Gefragt seien indirekte Maßnahmen, die Kreativität und Innovationskraft von Gründern und kleinen Unternehmen förderten. „Start-Ups sind oft auf Venture Capital angewiesen, außerdem wirken die strengen Haftungsregeln abschreckend. An solchen Stellen könnte der Staat eingreifen, um guten Ideen eine Chance zu geben.“

André Reichel selbst würde sich wohl kaum als Verfechter deregulierter Märkte bezeichnen. Dennoch vertraut er bei der Abkehr von der Wachstumslogik ganz auf deren Selbstregulierungskraft: „Unternehmen handeln rational und verfolgen vor allem ein Ziel: Gewinn. Die wissen ja auch, dass Energie und Rohstoffe nicht billiger werden. Also werden sie alles daransetzen, ihren Umsatz nicht alleine an stetig wachsende Produktionsmengen zu koppeln.“ Außerdem bedeute Postwachstumsökonomie nicht, dass es keine expandierenden Unternehmen mehr geben werde. Auch von einem kleineren Kuchen könnten sich manche größere Stücke abschneiden. „Deren Erfolg geht dann eben auf Kosten anderer. Das nennt sich ganz altmodisch ‚Wettbewerb’.“

Wachstum? Nein danke! In Frankfurt demonstrieren Anhänger der Occupy-Bewegung gegen die Folgen des Turbokapitalismus.
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Als treibende Kraft müssten in erster Linie kleine und mittelständische Firmen wirken. Als Beispiel nennt Reichel den Friedrichshafener Motorenhersteller Tognum. Remanufacturing, also Reparatur, Wartung und Umbau alter Antriebe, mache dort bereits ein Drittel des Umsatzes aus, die Abhängigkeit von der Produktion sei gesunken. „Großkonzernen fällt es naturgemäß schwerer, ihre Strategie grundlegend neu auszurichten. In einer Postwachstumsökonomie werden reine Aktiengesellschaften an Bedeutung verlieren.“

Trotz der großen Herausforderungen blickt Reichel optimistisch in die Zukunft: „Ich muss ja ständig allen möglichen Leuten erklären, wie das mit dieser Postwachstumsgesellschaft funktionieren soll. Das interessiert Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.“ Am aufgeschlossensten seien dabei überraschenderweise die Unternehmen – ganz im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen: „Am schlimmsten sind die Ökonomen. Die machen aus einer Sozialwissenschaft eine Naturwissenschaft, denken stur in ihren Modellen und behaupten: Das klappt nicht! Zum Glück braucht es für einen Wirtschaftswandel keine Wirtschaftswissenschaftler, sondern mutige Unternehmer. Und die gibt es.“

Ein paar kreative Start-Ups als Wegbereiter für die Postwachstumsökonomie? Diese Zuversicht teilt Peer Ederer nicht. „Innovation und Nullwachstumsumgebung schließen sich aus. Das ist eine wirtschaftliche Binsenweisheit, die manch einer als lästig empfinden mag. Von uns Wirtschaftswissenschaftlern zu fordern, wir sollten nicht immer wieder auf diese unbequeme Tatsache verweisen, wird diese Realität nicht ändern.“

"Schneller, höher, weiter!" Das olympische Motto ist längst zum Leitmotiv für die moderne Leistungsgesellschaft geworden. Und das ist auch gut so, meint Peer Ederer.
"Schneller, höher, weiter!" Das olympische Motto ist längst zum Leitmotiv für die moderne Leistungsgesellschaft geworden. Und das ist auch gut so, meint Peer Ederer.

Außerdem ist er überzeugt, dass der von Reichel prophezeite Mentalitätswandel eine Illusion bleiben werde: „Warum sollten sich die Asiaten und Afrikaner freiwillig mit weniger zufrieden? Auch bei uns wird keine echte Verzichtskultur Einzug halten. Sagen Sie doch mal jemandem, er werde künftig eine schlechtere Gesundheitsversorgung erhalten oder keine Zinsen mehr auf sein Erspartes bekommen.“ Verzicht lasse sich immer dann propagieren, wenn es um nichts gehe. Deshalb hält Peer Ederer die Postwachstumsgesellschaft weder für durchsetzbar, noch für wünschenswert: „Die breite Masse ist mit dem Leistungsdenken doch zufrieden!“


TitelbildTwaize

TextIreck Andreas Litzbarski | Toby Jagmohan | Colectivo Desazkundea

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