Rettet unser Filmerbe!
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Digitale Kunstgeschichte

Rettet unser Filmerbe!

von Maria Tzankow | Redaktion
16.06.2014
Es geht jetzt darum, Archive vorzubereiten, wie sie in Zukunft mit filmischem Kulturgut umgehen sollen.

Tim Lukas Leinert
Student Kunstgeschichte
 
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    Zur Person
    Tim Lukas Leinert

    Tim Lukas Leinert ist einer der drei Gewinner des Speicherplatz-Awards, den ZU|Daily für die medienwirksame Präsentation der eigenen Forschung auf der studentischen Forschungskonferenz ZUfo 2014 ausgelobt hatte.

    Leinert studiert Kunstgeschichte an der Goethe Universität Frankfurt und wird 2014 mit einem Bachelor-Degree abschließen. Sein Spezialgebiet sind die Digital Humanities, ein wissenschaftlicher Zweig, der im Gegensatz zur klassischen Kunstgeschichte zukunftsbezogen forscht. Leinert verbrachte einen Teil seines Studiums an der Stockholm University, wo er auf die problematische Thematik „kulturelles Filmerbe“ aufmerksam wurde. Der Titel seines Vortrags auf der ZUfo lautete: „History on demand: Filmarkivet.de als mögliche Antwort auf die Podiumsdiskussion `Wer hat Angst vorm Vinegar Syndrome?´“.

    Leinert engagiert sich als Festivalleiter und Kurator des jährlich stattfindenden Filmfestivals Oberursel für die Restauration von Stummfilm-Klassikern.

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    Factbox
    Wer hat Angst vorm Vinegar-Syndrome?

    Kameramann.de vom 11.11.2013 

    Deutsches Filmerbe in Gefahr: Land der Seligen

    Berliner Zeitung vom 03.12.2013 

    Raumtemperatur 8 Grad, Luftfeuchtigkeit 35 %

    taz.de vom 09.01.2014 

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    Mehr ZU|Daily
    Konferiert. Erinnert. Gewonnen.
    Aus ganz Deutschland waren Studierende an den Bodensee gereist, um an der ZUfo teilzunehmen. ZU|Daily richtete einen Wettbewerb für die medienwirksame Präsentation der eigenen Forschung aus. Jetzt stehen die Gewinner fest.
    Kunst trifft studentische Forschung
    Eine Ausstellung zum Thema "Speicher" bildet den künstlerischen Beitrag zu der interdisziplinären studentischen Forschungskonferenz ZUfo am 31. Mai und 1. Juni. Erste Einblicke und eine Ankündigung.
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Leinerts Interesse daran, wie sich der Zerfall des deutschen Filmerbes aufhalten lässt, begann kurioserweise in Schweden. Der angehende Kunsthistoriker verbrachte einen Teil seines Studiums an der Stockholm University und durfte dort an einem internationalen Forschungsprojekt teilnehmen. Der konkrete Auftrag seines schwedischen Professors lautete, zwei frühe deutsche Filme, einen davon mit Heinz Rühmann, für einen Vergleich aufzutreiben.

Wo ist Heinz Rühmann? Nachwuchs-Forscher Tim Lukas Leinert stand vor der Herausforderung, einen frühen Film mit dem Schauspieler auf Zelluloid oder digitalisiert zu finden. (Bild: Postkartenmotiv von 1937)
Wo ist Heinz Rühmann? Nachwuchs-Forscher Tim Lukas Leinert stand vor der Herausforderung, einen frühen Film mit dem Schauspieler auf Zelluloid oder digitalisiert zu finden. (Bild: Postkartenmotiv von 1937)

Eifrig machte sich Leinert an die Arbeit. Er kontaktierte Fernseh- und Filmarchive, darunter das Bundesarchiv und auch kleinere Archive, die quer in der Republik verteilt sind. Viel Zeit investierte er in die Suche. Schließlich meldete sich das Archiv der deutschen Kinemathek in Berlin zurück: „Ja, wir haben einen der von Ihnen angefragten Filme bei uns auf 16 Millimeter. Sie können gerne vorbeikommen und ihn sich anschauen.“ „Aber ich war ja in Schweden“, erzählt Leinert. „Das wär ja gar nicht möglich gewesen, dahinzufahren und mir den Film anzuschauen.“ Und weil sich der andere Film gar nicht finden ließ, wurden beide Werke letztendlich nicht in die schwedische Studie mit einbezogen. Leinerts Enttäuschung darüber war groß: „Das kann ja eigentlich gar nicht sein, dass der deutsche Film, der gerade in der frühen Phase sehr wichtig ist, komplett aus diesem großen, internationalen Vergleich herausfällt, weil wir in Deutschland keine Möglichkeit haben, den Film international überhaupt zugänglich zu machen.“ Der Student zog Konsequenzen und widmete sich in seinem nächsten Forschungsprojekt der Frage, inwieweit die Digital Humanities, also die digitalen Geisteswissenschaften, der Rettung des Filmerbes helfen können. Seinem Vergleich zwischen Schweden und Deutschland ging eine Bestandsaufnahme voran.

Wenn sich altes Filmmaterial zersetzt, riecht es säuerlich. Vinegar Syndrome nennt man deshalb diesen chemischen Zerfall, bei dem der Film schrumpft, deformiert, brüchig und schließlich unbrauchbar wird.
Wenn sich altes Filmmaterial zersetzt, riecht es säuerlich. Vinegar Syndrome nennt man deshalb diesen chemischen Zerfall, bei dem der Film schrumpft, deformiert, brüchig und schließlich unbrauchbar wird.

Leinerts Diagnose zum deutschen Filmerbe umfasst gleich mehrere Symptome. Das erste Problem hatte er bereits bei seiner Recherche für die schwedische Forschung ausgemacht: „Man fragt die deutschen Archive an und dann schauen die Mitarbeiter nach, ob der Film überhaupt da ist oder nicht. Es gibt kaum aktualisierte Kataloge, in denen man nachschauen oder selbständig recherchieren könnte.“ Für die Forschung ist die Zugänglichkeit alter Filme aber essentiell. „Das Zweite ist“, so Leinert, „dass digitale Infrastrukturen fehlen.“ Es würde hierzulande noch zu wenig Zeit und Geld in die Digitalisierung der Entitäten gesteckt. Genau das sei aber nötig - insbesondere vor dem Hintergrund, dass Filme nicht ewig halten. Und das ist das dritte Problem: Ein chemischer Prozess, Essigsäure-Syndrom genannt, sorgt dafür, dass sich altes Filmmaterial vor allem bei unsachgemäßer Lagerung zersetzt. Danach ist es irreparabel zerstört. Und davon sind nicht nur die eingangs erwähnten Hollywoodfilm-Lagerstätten betroffen, sondern auch die deutschen Archive. Das haben Archivleiter auf der Podiumsdiskussion zum Thema „Deutsches Filmerbe“ bei der Biennale des bewegten Bildes Frankfurt“ im November 2013 selbst zu Bedenken gegeben, erläutert Leinert.

Raumtemperatur 8 Grad, Luftfeuchtigkeit 35 Prozent. Nur bei sachgemäßer Lagerung bleiben alte Filmschätzchen in ihrem ursprünglichen Format erhalten. Hier: die Kühlungsräume des australischen Film- und Soundarchivs Canberra.
Raumtemperatur 8 Grad, Luftfeuchtigkeit 35 Prozent. Nur bei sachgemäßer Lagerung bleiben alte Filmschätzchen in ihrem ursprünglichen Format erhalten. Hier: die Kühlungsräume des australischen Film- und Soundarchivs Canberra.

Während seines Studiums in Schweden fand Leinert bessere Bedingungen für den Erhalt des Kulturguts Film vor: Die Online-Plattform filmarkivet.se des schwedischen Filminstituts und der Nationalbibliothek Schweden macht alte Filme der Öffentlichkeit zugänglich. Hier finden sich nicht nur digitalisierte Spielfilme, die ursprünglich weltweit bis in die 1950er Jahre auf Nitrozellulose-Basis oder seit den 1940er Jahren als Acetatfilm hergestellt wurde, sondern auch Amateur- sowie Werbefilme und Dokumentationen. Filmarkivet.se nutzt zudem auch soziale Medien wie Facebook, um auf Film als Kulturgut aufmerksam zu machen. Die Interaktion mit der Öffentlichkeit funktioniert bestens, „und das ist genau das, was wir nicht haben in Deutschland“, so Leinert. Dafür sorgen, dass alte Filme in Kontakt mit der Gegenwart treten, also in Kommunikation mit der Gegenwart stehen, das sollte auch in Deutschland gemacht werden, um überhaupt ein gesellschaftliches und politisches Bewusstsein zu schaffen. Filme zeigen, um sie überhaupt zu schützen. Das ist eine These, die Leinert nach seinem Schweden-Deutschland-Vergleich vertritt. Eine andere: Die Modernisierung der Film-Archive bedarf einer Kollaborations-Politik. Der Austausch zwischen Kultur- und Filmhistorikern, Vertretern der digitalen Geisteswissenschaften und Praktikern aus den Archiven muss gestärkt werden, damit Zugang und Digitalisierung künftig optimiert werden. Nur so kann das Kulturgut bewahrt werden. 


Sensationsfunde wie die verschollenen Szenen aus Fritz Langs „Metropolis“, die zufällig vor etwa sechs Jahren in einem kleinen Museum in Buenos Aires gefunden wurden, sind zwar „wie ein Lottogewinn“ (Welt.de vom 03.07.2008) und lesen sich wie die Geschichte eines modernen "Schatzfundes" (Goethe-Institut vom Juli 2008). Einem Kunsthistoriker wie Leinert allerdings reichen solche Zufallsfunde nicht aus. Zu hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass unbekannte Filme dem Zerfall zum Opfer fallen, bevor überhaupt ihr Wert für die Forschung entdeckt werden kann: „Das Hauptproblem ist, dass die Filme, über die wir jetzt gar nicht wissen, dass sie da sind, nicht mehr da sein werden, wenn wir sie brauchen.“


Leinert leistet selbst einen Beitrag zum Erhalt des alten Films. Als Festivalleiter und Kurator des Filmfestivals Oberursel hat er sich vorgenommen, mit dem sogenannten "Popcorn-Erlös" jedes Jahr einen alten Kurzfilm für die Zukunft zu sichern.

Tim Lukas Leinerts Beitrag zur Sicherung des Filmerbes: Der Erlös des Filmfestivals Oberursel am 23. August 2014 fließt in die Rettung eines alten Kurzfilms.
Tim Lukas Leinerts Beitrag zur Sicherung des Filmerbes: Der Erlös des Filmfestivals Oberursel am 23. August 2014 fließt in die Rettung eines alten Kurzfilms.

Glücklich ist Leinert aber auch darüber, dass er in seiner Rolle als Kunsthistoriker der Öffentlichkeit und den Wissenschafts-Kollegen sein Herzensthema präsentieren konnte. „Das war toll, auf der ZUfo zu sehen, dass Kulturwissenschaftler eigentlich genau gleich denken“, berichtet er begeistert über den Austausch auf der studentischen Forschungskonferenz an der ZU. Auf der wurde ihm auch deutlich, dass nicht allein Filmmaterial vom Zerfall bedroht ist: „In wenigen Jahren wird das gleiche mit der Fotografie passieren.“ Umso wichtiger, dass die deutsche Archivpolitik modernisiert wird und sich der Errungenschaften digitaler Infrastrukturen bedient.

Titelbild: ZU / Christian Engels

Bilder im Text: Fröhlich-Film/Tobis (original) / Sendker (scan) (Postkarte Heinz Rühmann) / Wikimedia Commons (Public domain); filmdecay by David Tames / flickr.com; NFSA Australia / flickr.com; ZU / Christian Engels

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