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Felix Bathon studiert SPE und Kulturwissenschaften im 8. Semester. Sein Steckenpferd ist die soziologische Theorie. Die BA-Arbeit, die er im Dezember 2015 abgeben wird, bringt mehrere wissenschaftliche Richtungen zusammen: Die WG als Gruppe ist ein soziologischer Bereich. Eine eher kulturwissenschaftliche Fragestellung ist die Historie der Tabelle. Wann taucht sie geschichtlich erstmals auf und welche Ordnungsformen beinhaltet sie? Betreuerin der Arbeit ist Prof. Dr. Maren Lehmann vom Lehrstuhl für Soziologische Theorie.
Der Parasit
Michel Serres (Autor)
Verlag: Suhrkamp; Auflage: 1. (27. Juni 1987)
ISBN-10: 3518282778
ISBN-13: 978-3518282779
Preis: etwa 17 Euro
in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte, E-Journal, Ernst Müller / Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin (FIB) (Hrsg.): 2013
Fragen, mit denen sich wohl jeder der mehr als vier Millionen Menschen im deutschsprachigen Raum, die in einer WG leben (Statista), auseinandersetzen muss, und genau das macht es für den SPE-Studenten Felix Bathon interessant. So interessant, dass er jetzt seine Bachelor-Arbeit darüber schreibt. Im Dezember reicht er sie ein.
„Je mehr Leute in einer WG wohnen, umso mehr Schmutztoleranzen muss man unter einen Hut bringen“, erklärt Bathon. Und das funktioniert eben am besten über einen Plan. Wer einen solchen Plan braucht und wer nicht, kann Bathon aus seinen gesammelten Daten nicht schließen. Ihm liegen ganz unterschiedliche Aussagen vor, die das harmonische WG-Miteinander und das Putzsystem miteinander in Verbindung bringen. Die einen sagen: „Der Putzplan funktioniert nicht, aber wir verstehen uns trotzdem.“ Andere resümieren: „Der Putzplan funktioniert, wir verstehen uns jetzt aber nicht mehr.“
In der WG des SPE-Studenten funktioniert die Sache mit der Sauberkeit ohne Plan. Aber nicht jeder schafft es, das Putzen verbal auszuhandeln oder den anderen im Gespräch darauf hinzuweisen, sein Scherflein in Sachen Sauberkeit beizutragen, weiß Bathon: „Diese Anfragen halten Mitbewohner nur aus, wenn ein gewisses Maß an Reflexion und Toleranz vorhanden ist.“ Da WG-Mitbewohner sich aber nur selten schon vor dem Zusammenziehen kennen, ist der Putzplan eben häufiger an Kühlschränken und Flurwänden anzutreffen.
Formen des Putzplans
Der Kreativität ist bei der Gestaltung des Putzplans keine Grenze gesetzt, weiß Bathon, der für deine Bachelor-Arbeit eine Umfrage mit 250 Teilnehmern durchgeführt hat: „Es gibt Putzpläne in Tabellen- oder in Bildform. Es gibt Putzpläne, die arbeiten mit Zeit oder mit ausgeklügelten Evaluierungssystemen. Es gibt solche mit Drehkreuzen oder Wäscheklammern mit den Namen der Mitbewohner. Dadurch kommt Bewegung in den Putzplan. Das gibt es bei Tabellen, die auch oft vorkommen, eher nicht. Interessant ist, dass bei Bildformen immer wieder Ampeln auftauchen: Grün bedeutet sauber, gelb naja, rot heißt unbedingt putzen.“ Und so gibt es sogar Putzpläne, in denen die Mitbewohner Lob und Tadel verteilen.
Von der Kommune 1 zur heutigen WG
Sicherlich hat es in den vergangenen Jahrhunderten bereits Wohngemeinschaften gegeben: Hauspersonal, das sich Räume teilte, Knechte, die nicht nur gemeinsam arbeiteten, sondern auch zusammen lebten. Doch hier war der Grund für das Zusammenleben der Arbeitskontext, analysiert Bathon. Den Ursprung der heutigen Wohngemeinschaft verortet er in der Ausdifferenzierung der Familie, in sozioökonomischen Entwicklungen (wie etwa verlängerte Ausbildungszeiten) und in der Kommune-Bewegung Ende der 1960er Jahre. In dieser Zeit entstanden die ersten Wohnprojekte, die politisch motiviert waren: Es ging darum, auf Privateigentum zu verzichten, freie Liebe zu praktizieren und über alles zu diskutieren. Jeder Alltagsschritt, beschreibt Bathon, war damals politisiert. Hieraus borgt sich die WG von heute binnenstrukturelle Momente, sagt er: „Auch in WGs geht es um persönliche Beziehungen. Es geht meist auch weniger um Privatbesitz, weil das ganze Inventar schon da ist. Im Ausdifferenzierungsprozess geht es dann aber weniger um politische Aktionen, sondern um günstiges Wohnen.“
Gottfried Wilhelm Leibniz und der Putzplan
In seiner Arbeit wirft Bathon nicht nur einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Wohngemeinschaft. Eine weitere historische Perspektive interessiert ihn: die Tabelle - woher kommt sie und welche Wirkmacht taucht damit auf? Schließlich sind viele WG-Putzpläne als Tabelle angelegt. Geschichtlich lässt sich diese Technik bis ins 17. bzw. 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Zu dieser Zeit tauchten die ersten Tabellen im Zusammenhang mit staatlich-bürokratischen Prozessen auf. Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosoph und Mathematiker der frühen Aufklärung (1646 bis 1716), empfahl jedem Herrscher pragmatisch an, Tabellen über die Ressourcen seines Staates zu führen. Auf einen Blick das komplette Territorium zu erfassen war damals das Ziel der Tabelle – ein kognitives Instrument, welches dem Herrscher handlungsintendierend beistehen sollte. Leibniz wies auch darauf hin, dass die Tabellen-Technik geeignet wäre für den Alltag, erzählt Bathon, und spannt so wieder den Bogen zum WG-Putzplan des 21. Jahrhunderts.
Dieser dient als Ordnungsinstrument und nicht zu vergessen als Kontrolltechnik. „Man schaut vielleicht gar nicht mehr auf den Boden, ob es sauber ist, sondern nur auf den Plan, ob da ein Kreuzchen ist. Und dann natürlich auf den Mitbewohner." Ob es sauber ist oder nicht, der Plan will erfüllt werden. So wie alle Pläne. Der Putzplan bringt also eine eigene Dynamik ins WG-Leben. Er stellt die Beziehung zu den Mitbewohnern her und tritt als Akteur in der Wohngemeinschaft auf, beschreibt Bathon. Und kommt damit zu der wohl wichtigsten Erkenntnis seiner Arbeit:
Der Putzplan als Parasit
Wohngemeinschaften, Putzpläne und Parasiten? Hier mag man zunächst an andere Szenarien denken: Mehlwürmer im Backregal oder Silberfischchen im Bad. Die meint Bathon aber nicht. Vielmehr geht es ihm um die parasitäre Struktur des Putzplans. Das bedeutet: Der Putzplan nutzt die Beziehungen innerhalb der WG schmarotzerhaft aus und stellt sie gleichzeitig her. Er ist ein Parasit. Diese Sichtweise stammt nicht von Bathon selbst, sondern von dem französischen Philosoph Michel Serres, der in seiner Kommunikationstheorie den Begriff eingeführt, der in den jüngsten Jahren in der Wissenschaft verhandelt worden ist.
Bathon erklärt das so: „Man denkt, der Putzplan ordnet das System Wohngemeinschaft. Aber er führt auch Unruhe ein. Er agiert wie eine dritte Figur, die die Beziehung zwischen den Mitbewohnern herstellt. Er nutzt diese Beziehung aber auch aus, denn er führt u.a. Zwist ein: `Du musst putzen. Wir haben den Plan gemacht.´“ Dadurch werde, führt Bathon aus, das Wir-Gefühl, das die WG ausmacht, neu beansprucht. Wenn in WGs vielleicht nicht viel gesprochen wird, hält ein Putzplan die WG zusammen. Dann nimmt man den anderen plötzlich nur noch wahr, weil er Aufgaben nicht erfüllt hat. Oder eben, weil er einen Lobstecker von den Mitbewohnern bekommt.
Titelbild: Stefanie L / flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)
Bilder im Text: Felix Bathon / ZU; ZU; Tobi_Guasu / flickr.com (CC BY-NC 2.0); Mark / flickr.com (CC BY-NC 2.0)